Bis vor gut 100 Jahren waren die meisten Interpreten auch Komponisten. Im Lockdown knüpfte Andreas Staier, Cembalist und Fortepiano-Spieler, daran an. Und an seine Liebe zu Bach. Statt einer Anfängerarbeit wurde daraus die Entdeckung des Cembalos als autarkes Medium der Gegenwart.
Eine Erzählung unter bewölktem Himmel, nachdenklich, mit großem Atem, mit Unausgesprochenem, das mit einem Blick zum Horizont zu ahnen ist. Ein Raum von Klängen großer Farbigkeit, mit graphisch genauen Konturen, Notieren und Sehen verbindend. Man könnte es auch analytischer sagen: Das Material eines sechstönigen Akkords wird in vier verschiedenen Geschwindigkeiten kanonisch durchgeführt. Das ist aber nur eine technische Teilansicht. Das andere ist der Ersteindruck, ohne Noten, ohne Vorbereitung, Grund dafür, dass ich auf alles gespannt bin, was noch folgt an diesem Abend und im CD-Erstschnitt der Stücke, die Andreas Staier in der Kölner Philharmonie zum ersten Mal spielt, sechs Kompositionen für Cembalo von 2020, Anklänge genannt.
Gucken wir uns erstmal die Schubladen an, die gern aufspringen bei diesen Eckdaten: Zeitgenössische Musik für Cembalo, von einem Cembalisten geschrieben und gespielt, sein erstes Werk überhaupt, das eines 65-jährigen, entstanden im Lockdown, in der »Paralyse des Konzertlebens«. Auch wenn Staier einer der maßgeblichen Interpreten auf Cembalo und Pianoforte ist – rechnet man da nicht irgendwie mit einem späten, autodidaktischen Steckenpferdausritt? Und ist es nicht ein Event für Elfenbeinturmfalken, wenn in einen 2000-Plätze-Saal ein Cembalo gestellt wird, an dem Raritäten von Fischer, Fux und Froberger zu hören sind, dann die Anklänge und schließlich deren Vorklang, Präludium und Fuge E-Dur BWV 878, Wohltemperiertes Klavier II?
Das auch, aber viel mehr. Es ist die Geschichte einer großen Liebe zu Bach, deren Erzählung an diesem Abend weit vor Bach beginnt, eigentlich an der liturgischen Quelle, der Johann Jakob Froberger 1658 das Thema von Bachs späterer Fuge entnimmt: Ganzton aufwärts, dann Terz aufwärts, Sekunde abwärts undsoweiter. Von Froberger übernimmt es 1702 Johann Caspar Ferdinand Fischer in seine Sammlung Ariadne musica, die Bach kannte. Der Ariadnefaden führt noch weiter bis ins Finale von Mozarts Jupitersinfonie, dessen Anfang der Cembalist mal schnell im Stehen spielt, während er von all dem erzählt. Nein, das ist keine »Musikvermittlung« – da steht einfach einer mitten in der großen Partitur, die alle Komponist:innen zusammen schreiben.
Und nach Frobergers überhaupt nicht depressiver, sondern erhellend moderner Méditation faite sur ma mort future reagiert Staier auf Bach, auf jene noch bevorstehende Fuge nebst Präludium, von der er »jede Note hin und her gedreht« hat, auf die sich sechs Akkorde beziehen, mit denen er seine Anklänge disziplinierte. Nach der Erzählung, der Prosa des ersten Stücks, ist das zweite heller, griffiger, collagierter. Es gibt Momente von Repetition – ein E als oberster Ton eines sich wandelnden Arpeggios, der vier Takte zusammenhält, und kurz vor Schluss ein Cis, das mit unregelmäßigen Pausen zwischen oben und unten hin und her springt – ein Gruß an ein kleines Ostinato in Bachs Präludium. Das muss man gar nicht wissen, um zu ahnen, dass hier etwas zitiert wird. Staier hat die Mittel, auch Anführungsstrichel zu komponieren.
Woher eigentlich? »Wo hast du das gelernt?«, fragt im Podiumsgespräch vor den Anklängen die Komponistin Isabel Mundry ihren neuen Kollegen. Sie war beim Lektorieren des Erstlings ziemlich platt, auf »die Arbeit eines erfahrenen Komponisten« zu stoßen. »Lange Strandspaziergänge«, meint er, und dahinter steckt, dass er im Urlaub von jeher Stücke des 20. und 21. Jahrhunderts studierte.

Seine kreative Arbeit habe »als Zettelwirtschaft« begonnen, er habe nur hoffen können, dass da »ein Formbewusstsein rüberkommt«. Nicht nur das. Da werden sogar sehr verschiedene Charaktere herübergebracht, zusammengehalten durch eine ganz eigene Klangsprache, frei von tonalen Bindungen oder gar neobarocken Sitzgelegenheiten. Dabei verleugnet Staier seine Barockerfahrung überhaupt nicht. Es gibt Verzierungsgesten und cembalistisch »Sprechendes« das jetzt keinem anderen Komponisten zu Gebote stünde, ins völlig Neue transferiert.
Vielleicht kommt aus der Praxis auch das Direkte, das diese Musik zugleich mit ihrem Durchdachten hat. Im dritten Stück schlägt Staier so zu, dass man an Wolfgang Rihms skulpturale Klavierballungen aus den 1980ern denken kann. Auch hier kommen wieder die Achtel aus dem Präludium ins Spiel, aber jetzt nicht als Zitat, eher als Gegenüber. Bach kommt näher. Und seinen Bewunderer lernen wir im vierten Stück auch noch näher kennen. Das beginnt mit einem in 32steln koboldhaft rappelnden »impetuoso«, das von einem legato-»dolce« nicht zur Ruhe gebracht werden kann.
Starker Kontrast: Nummer 5, Reduktion, durchlaufende Sechzehntel, ein in der Harmonik mutierendes Klangband, irgendwo zwischen György Ligetis Continuum für Cembalo und dem c-Moll-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. An dieses formal strengste Stück schließt das freieste an, von Staier als »eine Art persönliches Tagebuch« bezeichnet. Eine Folge von gestischen Anläufen, immer wieder zögernd, Gedanken unvollendet lassend. Einer von denen führt fast verträumt in ein gis-Moll, dem kurz darauf der erschreckendste Moment des ganzen Zyklus folgt: ein brutaler chromatischer Cluster in der Tiefe, mehr als 20 Sekunden lang nachhallend, ein Fanal.
Warum kann mich ein Cluster noch erschrecken, 120 Jahre nach dem Aufbruch in die Moderne? Vielleicht, weil Staiers Klangsprache konsequent und verständlich genug ist, um das Krasse dieser Ballung wieder deutlich zu machen. Vielleicht auch, weil ich noch nie einen Cluster an einem 1734er Klangmonster aus der Werkstatt von Hieronymus Hass gehört habe. Zweieinhalb Meter lang, fünf Oktaven, zwei Manuale, Sechzehnfuß, ein Orchester von einem Cembalo, in Erdbeerrot. Mit so vielen Klangfarben, dass der Gedanke an einen modernen Flügel für diese Musik absurd wirkt, abgesehen von den molekülfeinen Artikulationsmöglichkeiten des alten Instruments.
Es ist ja nicht so, dass in den letzten Jahren nichts für Cembalo komponiert worden wäre. Mal mit Elektronik wie bei Anahita Abbasi, mal in der Auseinandersetzung mit großem Orchester wie bei Miroslav Srnka. Aus der Rolle des gefolterten oder betreuten Exoten kam es dabei so wenig raus wie früher aus dem Neoklassizismus oder den special effects im Kino; für die Farben hat sich auch Ligeti nicht interessiert. Dass es mit allen Möglichkeiten der 1730er so selbstverständlich als gegenwärtiges Ausdrucksmittel eingesetzt werden kann wie die viel ältere Geige – darauf musste wohl erst einer kommen, der das Gerät wirklich kennt, und die paar Jahrhunderte Musik drumherum.
Mit dem letzten E endet Anklänge nicht, der Ton wird zum Orgelpunkt am Beginn des E-Dur-Präludiums von BWV 878. Spätestens da würde einem schwächeren Stück das ach so neue Klanggewand in Fetzen von den Rippen fallen. Stattdessen ist es so, als käme Bachs Präludium den Tönen aus dem frühen 21. Jahrhundert mit ausgebreiteten Armen entgegen. Mir ist diese Musik noch nie so zärtlich vorgekommen. Hatte er keine Angst vor diesem Übergang, frage ich Andreas Staier hinterher. Er habe endlos viele Möglichkeiten für den Schluss ausprobiert, meint er, »ich hätte würfeln können.« Aber es gab ja schon die 30 Minuten vorher, in denen es keineswegs nur um Liebe zu Bach geht. Er ist ihm nicht nachgelaufen. Er hat deutlich gemacht, wo er selbst sich befindet. ¶