Ich treffe den Wiener Pianisten Rudolf Buchbinder in seinem Künstlerzimmer in der Alten Oper in Frankfurt, wo er sein Diabelli Project Programm spielt: in der ersten Hälfte zeitgenössische (Jörg Widmann, Lera Auerbach, Max Richter, Toshio Hosokawa) und ältere, aber weniger bekannte Variationen (Liszt, Czerny, Schubert) des kurzen, etwas banalen Walzers; in der zweiten Hälfte den berühmten Zyklus von Beethoven. Der bald 75-jährige Pianist trägt ein weißes Hemd mit dem Monogramm RB und spricht in langsamen, nachdenklichen Sätzen. Trotz seiner angenehm altmodischen Erscheinung möchte Buchbinder »mit fünfundachtzig genauso schlimm und lausbübisch sein wie mit fünfzehn«.

VAN: Österreich ist jetzt wieder im Lockdown. Sind Sie gut durch die ersten Schließungen im März 2020 gekommen? 

Rudolf Buchbinder: Man hat zu Beginn überhaupt nicht realisiert, was passiert. Ich habe ein Konzert mit dem Diabelli Project gespielt, dann hatte ich zwei Tage frei und sollte danach nach Russland. Meine Frau meinte, wir sollten sofort nach Sankt Petersburg fliegen. Ich wollte zuerst nach Wien, um in meinem Bett zu schlafen. Gut, dass wir nach Wien geflogen sind. Russland war dann schon zu. 

Was mich an der ganzen Sache irritiert, und wofür ich mich auch schäme, ist, wie Kultur von der Politik behandelt wird. Österreich ist im Lockdown, und gestern kam die Nachricht, dass Skifahren erlaubt ist. Das ist eine stärkere Mafia. 

Skigebiete sind wahrscheinlich wichtiger für die Wirtschaft als klassische Musik.

Natürlich, es geht ums Geld, das ist ganz klar. Ob die Kultur kaputt geht, interessiert die Politik sowieso nicht. Das stimmt mich traurig. 

In den ersten Lockdowns hatten Sie keine Konzerte, niemand hatte Konzerte…

Ich habe 120 Konzerte verloren. 

Haben Sie es sehr vermisst zu spielen? 

Nein. Wissen Sie, ich denke immer nach vorne. Ich bin Optimist. Ich sage immer: ›Es kann nicht schlechter werden.‹ 

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Wenn ich mit Musiker:innen über die erste Corona-Zeit spreche, sagen sie mir meistens entweder, dass sie ohne Konzerte nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, oder dass sie die Ruhe genießen und in Zukunft weniger reisen wollen. Wie geht es Ihnen? 

Ich verstehe nicht, warum man nicht weiß, was man mit sich anfangen soll. Ich habe genug Hobbys. Ich lese, ich versuche zu malen. Ich bin und war mit vielen Malern befreundet. Ich war immer mit vielen Menschen befreundet, aber sie sterben leider alle weg. 

Ich habe aber (wegen der Lockdowns) nicht mehr als sonst geübt. Man wird etwas faul in einer Pandemie. Plötzlich hat man sehr viele Siestas, und man gewöhnt sich daran. 

In einem Interview von 2011 haben Sie gesagt, dass Sie eine halbe Stunde pro Tag üben. 

Manchmal eine Stunde. 

Aber nicht mehr als eine Stunde?

Sehr selten. Ich verstehe nicht, wie man sechs Stunden am Klavier sitzen und üben kann. Kein Mensch ist imstande, sich sechs Stunden lang zu konzentrieren. Das ist eine reine Fingerübung. Man darf eines nicht vergessen: Unsere Finger sind extreme Hochleistungssportler. Aber ein Hochleistungssportler hört mit dreißig wieder auf, und wir wollen noch weiter spielen. 

Gab es in Ihrem Leben Phasen, vielleicht als Kind, in denen Sie sechs Stunden pro Tag geübt haben? 

Nie, auch nicht als Kind. Ich war mit fünf Jahren der jüngste Student der Musikakademie. Wissen Sie, wer vor mir der jüngste war? Fritz Kreisler. Den habe ich überholt. 

Sind Sie noch immer der jüngste?

Ja, es gab keinen jüngeren mehr. 

Hat sich seit Ihrer Ausbildungszeit in der Musikakademie viel verändert? 

Ja, durch die Nivellierung. Das ist das gefährlichste auf der ganzen Welt. Durch diese Nivellierung gibt es keine Persönlichkeiten mehr. In jeder Sparte gibt es einen Mangel an Persönlichkeiten. 

Wo sind die Dirigenten? Alle Orchester jammern, dass es keine Dirigenten gibt. Alle suchen einen Dirigenten. Entweder die alten Fossile – Zubin Mehta, Riccardo Muti, Mariss Jansons – und wer kommt dann? OK, Christian Thielemann. Das ist eine erschreckende Entwicklung in der Musik. Aber schauen Sie in der Politik, wenn man einen Nachfolger für Angela Merkel sucht… Es gibt keine Persönlichkeiten mehr. 

Woran liegt diese Nivellierung in der Musik Ihrer Meinung nach? 

Das Gedankenbild ist momentan Ja nicht auffallen. Mit der Masse mitschwimmen. Das ist ganz falsch. Man muss seine eigene Meinung bezüglich der Mode, bezüglich des Lebens, in jeder Beziehung haben. Nicht das machen, was alle machen. Das ist die Tendenz heute. 

Für das Diabelli Project haben sie elf neue Variationen von zeitgenössischen Komponist:innen in Auftrag gegeben. Nach welchen Kriterien haben Sie sie ausgewählt? 

Es gibt keine Kriterien. Sondern: Wer sind die bedeutenden lebenden Komponisten? Ich habe zum Beispiel bei meinem Festival in Grafenegg jedes Jahr einen Composer in Residence. Da geht es nicht nach Kriterien, sondern ich will dem Publikum zeigen, in welchen Variationen man in der heutigen Zeit komponieren kann. 

Gibt es dann einen ästhetischen roten Faden zwischen den Komponist:innen?

Nein, gar keinen. Das Wort ›roter Faden‹ mag ich nicht. Es gibt zum Beispiel bei meinem Festival, so lang ich Intendant bin, kein Motto. Wenn ein Festival ein Motto hat, dann spiele ich nicht. 

Das Lucerne Festival hat jedes Jahr ein Motto.

Das zählt nicht. Aber wenn zum Beispiel ein Kollege bei mir spielt – Alfred Brendel war im ersten Jahr in Grafenegg – und ich ihm sage, das Motto ist dies oder das, und der soll dies spielen, lacht er mich aus… wenn ich Glück habe. 

Gab es für das Diabelli Project einen Komponisten, mit dem Sie arbeiten wollten, mit dem es aber nicht funktioniert hat? 

Es sind elf Stücke geworden, es sollten zwölf sein. Eins sollte Krzysztof Penderecki, ein wichtiger Freund von mir, schreiben. Er war der erste Fixpunkt. Aber er war schon krank. Ich habe ihm gesagt: ›Krzysztof, es sind nur ein oder zwei Minuten.‹ Er hat gesagt, dass er das macht. Aber er konnte nicht mehr schreiben und ist leider gestorben. Ein Jammer. 

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Gab es bei den neuen Diabelli-Variationen ein Stück, das Sie am meisten überrascht hat, als es fertig war?  

Das Stück von Jörg Widmann. Das ist eine ideale Schlussvariation. 

Ich hatte so Angst bei diesem Projekt. Es ist für mich schwer, aber mindestens genauso schwer für das Publikum – keine einfache Kost. Ich hatte die Sorge, dass das Publikum schon bei der fünften Variation zu husten anfängt, dass es jammert – diese österreichische Krankheit. Aber es ist unglaublich, wie das Publikum das Programm aufnimmt. 

Ein Komponist beim Diabelli Project ist Max Richter. Richter schreibt sogenannte Neoklassik. Diese Strömung ist bei Ihrem Label Deutsche Grammophon besonders beliebt.

Das ist sein Stil und das akzeptiere ich. Ich beschäftige mich nicht intensiv mit dieser Strömung, aber das ist eine der Möglichkeiten, heute zu komponieren. Wissen Sie, warum ich ein Cinéast bin? Weil die Filmmusik eine Musik ist, bei der der Komponist schreiben kann, wie er will, ohne Moderichtung. Für mich ist einer der größten Filmkomponisten Dimitri Tiomkin. Es ist unglaublich, was er geschrieben hat. 

Aber die zeitgenössische Musik heute hat ein Problem: die Hörgewohnheiten. Man kennt die Musik nicht. Ich werde ein Konzert nie vergessen: Ich habe das vierte Klavierkonzert von Beethoven mit Claudio Abbado in Mailand gespielt, und er machte im Programm auch den Überlebenden aus Warschau von Schönberg. Das Mailänder Publikum: [Er klatscht einmal.] Dann aus. Was machte der Claudio? Er blieb auf der Bühne und spielte das Stück nochmal. Vielleicht als Strafe. Das Publikum hat nach dem zweiten Mal getobt. Warum? Sie kannten das Stück. 

Man kann also in der Konzertmusik nicht schreiben, was man möchte?

Eigentlich nicht. Sie sagen Neoklassik: Max Richter fällt aus dem Rahmen und aus der Zeit. Aber er steht zu recht zu seinem Stil. Das muss man akzeptieren. 

Wenn Sie in der ersten Hälfte des Konzerts neue Musik spielen, verändert das Ihre Diabelli-Variationen in der zweiten Hälfte?

Nein. Das ist ein eigener Mikrokosmos. Dieses Werk verfolgt mich seit meiner Kindheit. Ich habe die Diabelli-Variationen dreimal aufgenommen. Ein Schüler von mir war mal bei einem Konzert von Alexis Weissenberg in Paris und bei ihm im Künstlerzimmer. Alexis fragte ihn: ›Bei wem studieren Sie?‹ ›Bei Buchbinder‹, sagt er. ›Ahhh, Monsieur Diabelli.‹ [Lacht.] Damit kann ich leben.

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Sie sagen in Interviews oft, dass Sie Ihre Karriere ständig steigern möchten. Gibt es Werke, die Sie unbedingt noch spielen wollen? 

Es gibt ein Loch in meinem Repertoire, obwohl mein Repertoire gewaltig ist. Eigentlich will ich mein Repertoire verkleinern und nicht vergrössern. Andererseits möchte ich am liebsten jeden Abend etwas anderes spielen und brauche die Abwechslung. Aber ein Komponist fehlt, dessen Klavierkonzerte ich nicht ein einziges Mal gespielt habe: Bartók.

Sie können Ihr Repertoire ja verkleinern und trotzdem Bartók mit aufnehmen.

Zehn Stücke streichen und ein Bartók-Konzert aufnehmen? Ja, das wäre schön. Vielleicht eines Tages. 

Aber wenn Sie so gern abwechslungsreiche Programme spielen wollen, warum verkleinern Sie gerade Ihr Repertoire? 

Weil es zu weitläufig ist. Aber es funktioniert sowieso nicht. Ich wollte das Grieg-Konzert nie wieder spielen. Dann kommt Thielemann und sagt: ›Wir müssen Grieg machen.‹ Ich sage: ›Christian, bitte, Schumann, keinen Grieg.‹ ›Nein, ich kann nur mit dir Grieg machen, du musst Grieg machen.‹ Ich habe mich dann hingesetzt und das Konzert so studiert, als würde ich es nicht kennen. Es war plötzlich ein anderes Stück. Jetzt liebe ich es. 

Haben Sie sonst berufliche Ziele, die Sie noch nicht erreicht haben? 

Meine Karriere war ein stetes, kontinuierliches Crescendo. Ich vergleiche meine Karriere mit Claudio Arrau, der am Ende seines Lebens den Höhepunkt erreichte. Etwas Schöneres kann es nicht geben. Was mich ein bissl stört: Wenn ich nicht mehr bin, werde ich nie erfahren, wie weit das Crescendo noch gegangen wäre.  ¶

Jeffrey Arlo Brown

...ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Seine Texte sind auch in Slate, The Baffler, The Outline, The Calvert Journal und Electric Lit erschienen. Er lebt in Berlin. jeff@van-verlag.com