Wer wir sind, erfahren wir am Gegenüber, und nur wenige Personen berühren unsere Persönlichkeit tiefer als gute Lehrer für die Sache, die uns am wichtigsten ist. Eine Serie in VAN sammelt Hommagen an musikalische Mentoren und Lehrerinnen. In der zweiten Folge erinnert sich der japanische Komponist Toshio Hosokawa an seinen 1995 verstorbenen Lehrer Isang Yun. Ich treffe Hosokawa an einem Samstag Vormittag im Beethoven-Saal des Berliner Konzerthauses. Am Abend zuvor hat er hier eine Aufführung seines Stücks Sternlose Nacht durch Chor und Orchester der Elisabeth University of Music seiner Heimatstadt Hiroshima besucht, am Tag nach unserem Gespräch geht es zurück nach Tokyo.

VAN: Stimmt es, dass der Besuch einer Aufführung von Isang Yuns Réak in Ihnen den Wunsch ausgelöst hat, bei ihm zu studieren?

Toshio Hosokawa: Ja, das war 1974 in Tokyo. Er kam damals zum ersten Mal nach dem Krieg nach Japan, um seine vier Orchesterwerke Loyang (1962), Fluktuationen (1964), Réak (1966) und Dimensionen (1971) aufzuführen. Alle waren sehr beeindruckend.

Können Sie noch rekonstruieren, was Sie an der Musik damals beeindruckt hat?

Es war eine sehr emotionale Musik, wie ein Klangstrom, ein asiatischer Fluss. Solche Musik kannte ich nicht, es klang irgendwie sehr nah dran an meinen Vorstellungen von Musik.

Isang Yun • Foto © Boosey & Hawkes, Bote & Bock, Berlin Archiv
Isang Yun • Foto © Boosey & Hawkes, Bote & Bock, Berlin Archiv

Sie sind 1976 nach Berlin gezogen, um bei Yun an der Universität der Künste zu studieren. Erinnern Sie sich noch an das erste persönliche Treffen?

Ja, noch ganz deutlich. Es war die deutsche Erstaufführung seines Cellokonzerts mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Hans Zender hat dirigiert (Cellist war Siegfried Palm, dem das Konzert gewidmet ist). Nach dem Konzert habe ich ihn zum ersten Mal getroffen, es war großartig.

Wissen Sie noch, worüber Sie gesprochen haben?

›Ich bin Toshio Hosokawa, ich komme aus Japan, ich möchte bei Ihnen studieren.‹ (lacht)

Sie haben japanisch miteinander gesprochen?

Ja, er musste in Korea ja von klein auf japanisch sprechen, wir haben ihm seine Muttersprache geraubt. Unter uns haben wir auch später japanisch gesprochen, die Klasse war natürlich auf Deutsch.

Als Yun 1917 geboren wurde, war die koreanische Halbinsel eine Kolonie des japanischen Kaiserreichs. Im Zweiten Weltkrieg unterstützte er den anti-japanischen Widerstand und wurde 1943 verhaftet, gefoltert und zwei Monate interniert. Das koreanisch-japanische Verhältnis ist bis heute nicht einfach, insbesondere wenn es um den Umgang mit der Vergangenheit und den während der Kolonialzeit von Japan begangenen Kriegsverbrechen geht. War das jemals ein Thema zwischen Ihnen beiden?

Das hatte ich selbst befürchtet, meine Eltern auch. Aber ich habe es nie erlebt, dass er aufgrund der Geschichte Aversionen mir gegenüber hatte. Ganz im Gegenteil, er war ein sehr warmherziger Mensch.

Sie haben einmal gesagt, dass sein Unterricht für europäische Studenten gewöhnungsbedürftig gewesen sei. Wieso?

Er hat nicht sehr viele theoretische Äußerungen gemacht. Europäische Kompositionslehrer tendieren dazu, intensiv Analyse von anderen Werken zu betreiben, das gab es bei ihm selten. Wir haben insgesamt wenig über europäische Musik gesprochen, manchmal hat er Schallplatten mitgebracht, sehr viel Schönberg, manchmal Ligeti, Klaus Huber. Auch seine eigene Musik hat er kaum eingebracht, aber wir Schüler haben sie natürlich studiert und sind oft in seine Konzerte gegangen.

Wie würden Sie seinen Unterrichtsstil beschreiben?

Wenn wir ihm unsere Kompositionen gezeigt haben, hatte er immer eine unglaublich genaue Intuition, ob etwas stimmt oder nicht. Er konnte sie oft nicht genau mit Worten fassen, aber ich habe es immer irgendwie verstanden. Vielleicht war es vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen einem Zen-Meister und seinem Schüler, eine Verständigung ohne Worte. Für europäische Studenten war es teilweise vielleicht etwas schwieriger nachzuvollziehen.

Isang Yun • Foto © Boosey & Hawkes, Bote & Bock, Berlin Archiv
Isang Yun • Foto © Boosey & Hawkes, Bote & Bock, Berlin Archiv

Im Zen-Buddhismus ist das Meister-Schüler Verhältnis entscheidend auf dem Weg zur Erleuchtung. Es gibt unendlich viele Geschichten darüber, wie Meister ihre Schüler mit paradoxen Interventionen verunsichern und vor den Kopf stoßen, um ihnen zu helfen, der Anhaftung an falsches Denken bewusst zu werden. Hat Yun im Unterricht etwas Vergleichbares gemacht?

Ich habe damals sehr fleißig komponiert, ich erinnere mich an Situationen, in denen er auf meine Partituren geschaut und gesagt hat, ›Nein, das ist nicht deine eigene Musik, du hörst dich gar nicht richtig, du machst irgendwie Kopien von anderen‹. Das war schrecklich für mich. Ich habe dann alles weggeschmissen und von vorne angefangen. (lacht) So etwas ist oft passiert.

Was Yun und Sie verbindet, ist, dass Sie beide das Eigene, die koreanische beziehungsweise japanische traditionelle Hofmusik, erst in der Fremde kennen- und schätzen gelernt haben. Hat er Sie dazu ermuntert, oder kam das erst später bei Klaus Huber in Freiburg, bei dem Sie im Anschluss studiert haben?

Vielleicht erst bei Klaus Huber, bei Yun habe ich mich noch nicht so intensiv mit japanischer Musik auseinandergesetzt. Ich war damals noch ganz am Anfang, ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Es hat sehr lange gedauert, meinen eigenen Weg zu finden. Ich glaube Yun hat immer Angst gehabt, dass ich ihm zu nahekomme. Ich habe seine Musik geliebt, meine Musik klang wie ›Klein-Yun‹. Das haben wir irgendwann beide gemerkt. Er sagte zu mir, ich solle nach Darmstadt gehen, andere Komponisten treffen. Er war demgegenüber sehr offen, ohne Eitelkeit. Ich habe dann Helmut Lachenmann kennengelernt, Wolfgang Rihm, Brian Ferneyhough, der mich nach Freiburg gebracht hat.

Ausstellungsbild der Gedenkstätte in Isang Yuns Geburtsort Tongyeong an der Südküste Südkoreas. Rechts oben Yuns deutscher Reisepass – nach seinem Gefängnisaufenthalt in Südkorea und seiner Rückkehr nach Deutschland wurden seine Frau und er 1971 deutsche Staatsbürger. Foto Republic of Korea (CC BY-SA 2.0)
Ausstellungsbild der Gedenkstätte in Isang Yuns Geburtsort Tongyeong an der Südküste Südkoreas. Rechts oben Yuns deutscher Reisepass – nach seinem Gefängnisaufenthalt in Südkorea und seiner Rückkehr nach Deutschland wurden seine Frau und er 1971 deutsche Staatsbürger. Foto Republic of Korea (CC BY-SA 2.0)

Welche seiner Stücke lieben Sie besonders?

Seine frühen Werke, von den 1960ern bis Anfang der 70er Jahre, in denen er Zwölftonreihen verwendet. Die Fünf Etüden für Flöte(n) solo (1974), Gasa für Geige und Klavier (1963), Images für Flöte, Oboe, Violine und Violoncello (1968), Namo für drei Soprane und Orchester (1971), Réak (1966), das Cellokonzert (1975/76), Glissées für Cello solo (1970). Mit der späteren Phase habe ich ein bisschen Probleme.

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Anfang der 1980er Jahre änderte sich Yuns Musiksprache. Sie wird fast klassizistisch, es gibt einen Rückgriff auf Dur-Moll-tonale Elemente, weniger Bezüge zur koreanischen Musik. Haben Sie eine Erklärung für diesen Wandel, hat er sich Ihnen gegenüber dazu geäußert?

Er hat sich damals mehr und mehr politisch eingebracht, ich denke, er wollte für das Volk komponieren, verständlicher. Seine Musik ist ein bisschen weicher geworden, aber musikalisch weiß ich nicht, ob das gut ist.

Er hat dann auch ein paar explizit politische Werke geschrieben, wie etwa Exemplum in memoriam Gwangju, Mein Land, mein Volk oder Engel in Flammen. Hat er viel über Politik gesprochen?

In der Klasse gar nicht, privat schon. Wir waren uns sehr nah, fast wie ein Vater-Sohn Verhältnis. Ich habe bei ihm auch eine Zeit lang gewohnt, da hat er schon über seine Erlebnisse im Gefängnis gesprochen. (Am 17. Juni 1967 wurde Yun vom südkoreanischen Geheimdienst über die südkoreanische Botschaft in Bonn nach Seoul entführt und in einem Schauprozess des Landesverrats angeklagt. Nach anderthalb Jahren im Gefängnis kam er im Februar 1969 nach internationalen Protesten frei und kehrte nach West-Berlin zurück). Nach dem Gwangju-Massaker hat er viel geweint (in der südkoreanischen Stadt wurden 1980 Proteste gegen die Militärdiktatur gewaltsam niedergeschlagen).

Er ist seit seiner Freilassung aus dem Gefängnis 1969 und der Ausreise nach Deutschland nie wieder nach Südkorea zurückgekehrt. Glauben Sie, dass so etwas wie Heimweh sich in seine Musik eingeschrieben hat?

Ja, die spielt eine große Rolle. Er wusste ja auch nicht, mit welcher Sprache er denken sollte. Vielleicht am ehesten auf Japanisch, mit dem Koreanisch tat er sich schwer, weil er es in seiner Schulzeit nicht sprechen durfte, sein deutsch war nicht so besonders. Ich habe das Gefühl, er hat in der Musik seine koreanische Heimat gesucht.

Wie ist heute die Yun-Rezeption in Japan?

Er ist sehr bekannt, auch wenn er nicht so viel gespielt wird. Wir schätzen ihn, er ist ein Klassiker, aber junge Leute interessieren sich wenig für seine Musik, das ist schade. Wenn ich etwas organisiere, dann baue ich meist ein Stück von ihm ein, und die Reaktion ist jedes Mal sehr positiv. Für mich ist er einer der wichtigsten asiatischen Komponisten, von dem wir alle lernen sollten.

Gibt es etwas in Ihrer Musik, wo sein Erbe fortlebt?

Meine Musik kommt aus seinem Kalligraphie-Gedanken, dass der Einzelton ein Lebewesen ist. Ich bin Japaner und mache Variationen daraus.

In der Yun-Gedenkstätte in Tongyeong. Foto Republic of Korea (CC BY-SA 2.0)
In der Yun-Gedenkstätte in Tongyeong. Foto Republic of Korea (CC BY-SA 2.0)

Sie haben Ihren Kompositionsprozess einmal als dō, als Weg, bezeichnet, der wie die Kalligraphie, shodō, dazu geeignet sei, zur Natur der Dinge vorzudringen und sich von Ichgefühl und Egoismus zu befreien. Im Buddhismus gibt es viele Geschichten von Meistern, die es in etwas zur Perfektion bringen, zum Beispiel die perfekte Vase zu töpfern, und das Resultat immer wieder zerstören. Im Tibetischen Buddhismus gibt es das Ritual des Sandmandalas, das im Moment seiner Fertigstellung zusammengefegt wird. Es geht nicht um das Resultat, sondern das Bewusstsein von Vergänglichkeit. Wie geht das zusammen mit der Ökonomie des Musikbetriebs, mit Kompositionsaufträgen, den Wünschen von Auftraggebern und Deadlines?

Ich kann mittlerweile ziemlich gut auswählen und muss nicht jeden Auftrag annehmen. Eine Deadline ist natürlich immer schrecklich. Nächstes Jahr mache ich eine große Pause und habe alles abgesagt. Einmal ganz weiß, ganz leer werden. Ich habe einige Arbeitszimmer, in denen ich saubermachen und viele Sachen wegschmeißen möchte. Dieses Jahr habe ich viele Aufträge angenommen, einige Freunde wollten Musik von mir haben, da kann ich nicht nein sagen. (lacht)

Helmut Lachenmann schreibt über Ihre Musik, dass sie zu den wenigen großartigen Beispielen gehört, ›wo Komponisten es geschafft haben, das Fremde in ein eigenes, im verantwortungsvollsten Sinne innovatives, den europäischen Horizont öffnendes Denken zu integrieren und so den Musikbegriff gleichsam befreiend zu erweitern.‹ Was braucht es, damit aus der Begegnung mit dem Fremden keine Reproduktion von Klischees, sondern wirkliche Transformation entstehen kann?

Schwer zu beantworten. Es gibt heute viel Verkürzungen. Aber was ist neu? Ich suche nicht ganz neue Musik, sondern eine für mich echte, ehrliche Musik. Ich muss nicht unbedingt Neues schaffen. Wenn ich wirklich tief genug gehe, dann kommt automatisch etwas Neues, Eigenes. Die Musik ist ohne Grenze, meine musikalische Quelle ist für mich immer sehr tief, ich muss immer meine Quelle finden, aber ich weiß nicht, wo sie liegt.

Gibt es eine Situation oder Begebenheit mit Yun, die Sie besonders in Erinnerung behalten werden?

Da gibt es sehr viele, Unterrichtssituationen, ich habe auch oft sein Haus eingehütet, wenn er auf Konzertreise ging, seine Katze gefüttert, die Blumen gegossen. Einmal im Herbst sind wir zusammen in Kladow, wo er wohnte, spazieren gegangen. Die Blätter waren rot, und er sagte: ›In Korea sind die Blätter noch röter, wie Blut. Ich möchte dorthin zurückkehren.‹ Das ist für mich unvergesslich. Aber sein Wunsch wurde nicht erhört. ¶

Hartmut Welscher

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com