Als historischer Tag wird er beschrieben oder gar als Zeitenwende: der erste Schultag von 33 weiblichen Regensburger Domspatzen, die seit dieser Woche auf das Gymnasium gehen, das bisher nur an den gleichnamigen 1.047 Jahre alten und rein männlich besetzten Knabenchor angeschlossen war. Jetzt gibt es hier auch einen Mädchenchor, der wie das Pendant der Jungen täglich proben und regelmäßig im Dom auftreten soll. »Gleichberechtigung, nicht Gleichmacherei« wird dieser neue Ansatz auf der Website der Domspatzen beschrieben.

Natürlich ist es eine löbliche – und überfällige – Entwicklung, dass Mädchen in Regensburg nun auch eine vergleichbar umfassende musikalische und stimmbildnerische Grundbildung wie vormals nur den Jungen offensteht. Auch für das Sozialgefüge an Schule und Internat dürfte die Durchmischung von Vorteil sein. So vermutet der ehemalige Thomaner Mathias Monrad Møller in VAN, dass zumindest beim Leipziger Knabenchor »gewisse Gruppendynamiken weniger extrem ausgefallen wären, wenn die Ausbildung gemischtgeschlechtlich gewesen wäre«. Auch das Gymnasium der Domspatzen gibt an, man habe in den letzten Jahren immer häufiger auf gute Sänger als Schüler verzichten müssen, weil diese lieber auf gemischte Schulen hätten gehen wollen. Die Zahlen der Anmeldungen für den Knabenchor seien mit der Zulassung von Mädchen zur Schule ebenfalls sprunghaft angestiegen. So bringt die Aufnahme von Mädchen direkt in zweierlei Hinsicht Erleichterung bei den Nachwuchssorgen, die die Domspatzen plagten, nachdem ab 2010 auch in dieser Institution – wie im Umfeld so vieler Knabenchöre – eine Vielzahl von (damals bereits verjährten) psychischen, physischen und zum Teil sexualisierten Gewalttaten gegenüber Schülern bekannt geworden war.

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Dass man von Gleichberechtigung in Regensburg aber auch mit weiblichen Domspatzen in einem separaten Mädchenchor noch nicht sprechen kann, scheint hier beim gegenseitigen Schulterklopfen niemand zu sehen – oder niemand sehen zu wollen. Ein Mädchenchor ist etwas grundlegend anderes als ein Knabenchor. Der Hauptunterschied besteht in den vorhandenen Stimmen und damit im gesungenen Repertoire: Bei einem Knabenchor (mit Männerstimmen wie in Regensburg) handelt es sich um einen gemischten Chor mit Sopran, Alt, Tenor und Bass. Mädchenchöre sind gleichstimmig, hier fehlen also die beiden tiefen (Männer-)Stimmen, es singen nur Sopran und Alt. Auch für den neuen Regensburger Mädchenchor ist nur gleichstimmiges Repertoire vorgesehen. Dieses ist deutlich schmaler, was sowohl Umfang als auch Epochen angeht, und zudem bei weitem nicht so bekannt und renommiert wie das der Knaben.

Außerdem deutet die vielfache Betonung der Domspatzen-Leitung, der Knabenchor bleibe rein männlich und damit »Markenkern« darauf hin, dass das Prestige dieses Ensembles größer bleiben wird (und bleiben soll) als das des Mädchenchores. Dementsprechend werden sich auch Auftritts- und Reisemöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen unterscheiden. Dass der neu gegründete Mädchenchor in näherer Zukunft in der Elbphilharmonie, in Kapstadt oder im Vatikan singen wird, ist doch mehr als unwahrscheinlich. Es geht bei den Auftrittsmöglichkeiten also genau darum, auch als Mädchen am »Markenkern« und dessen Prestige teilzuhaben. Ein neugegründeter gemischter Chor mit Jungen, Mädchen und Männerstimmen könnte ähnliches – gesetzt dem unwahrscheinlichen Falle, dass er mit Mitteln, Räumlichkeiten und Expertise ausgestattet wäre wie die traditionsreichen Knabenchöre – höchstwahrscheinlich nicht bieten.

Verschiedene, in VAN bereits dargestellte Studien zeigen, dass es durchaus vorkommt, dass Mädchen über eine Stimme verfügen, die so ausgebildet werden kann, dass sie dem Knabenchor-Klangideal entspricht. Wenn es nicht die stimmliche Anlage ist, was zeichnet die gute alte Tradition und den »Markenkern« Knabenchor dann aus, abgesehen von den biologischen Geschlechtsmerkmalen (nicht der Geschlechtsidentität) der Sänger? Wenn es nur die Fiktion der Reinheit von Knaben und deren Stimmen ist, so stellt sich die Frage, ob man an dieser Tradition überhaupt festhalten sollte.

Wenn Mädchen, die über die entsprechenden stimmlichen und musikalischen Anlagen verfügen und den Wunsch haben, in einem gemischten Chor auf hohem Niveau regelmäßig in unterschiedlichen großen, prestigeträchtigen Häusern zu singen, genau das weiterhin nicht dürfen, bleibt ein erheblicher Teil der Diskriminierung allein aufgrund des Geschlechts inkraft. Es stellt sich sogar die Frage, ob es, selbst wenn Mädchen ausnahmsweise zu Knabenchören zugelassen würden, nicht schon diskriminierend wäre, ihnen dieses Hobby nicht genauso offensiv ans Herz zu legen wie gleichaltrigen Jungen. So kommt vielen Mädchen, die vielleicht sehr viel Freude mit Knabenchor-Repertoire hätten, diese Idee gar nicht, weil ihre Umsetzung für sie persönlich mit so viel Mühe, Kampf und Anstrengungen verbunden ist. Es bleibt also zu hoffen, dass der Schritt in Regensburg nur ein erster von vielen ist, hin zur Öffnung des Knabenchores für alle Heranwachsenden, die dort singen wollen und die entsprechenden stimmlichen und kognitiven Voraussetzungen mitbringen. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com