Über die Öffnung einer Institution.

Text · Titelbild Frank Vincentz (CC BY-SA 3.0) · Datum 11.9.2019

Der Thomaner(*innen?)chor hat ein Mädchen zum Vorsingen eingeladen. Das Dezernat Kultur der Stadt Leipzig, in deren Trägerschaft sich der Chor befindet, betonte jedoch sofort nach Bekanntwerden der Einladung in einer Pressemitteilung: »Die künstlerische Entscheidung über eine Aufnahme in den Thomanerchor trifft allein der Thomaskantor. Die Stadt Leipzig setzt damit das Berliner Urteil um; danach gibt die künstlerische Bewertung einer Stimme den Ausschlag darüber, wer in einem Knabenchor singen darf.« (Vor knapp einem Monat hatte das Berliner Verwaltungsgericht entschieden: Die Kunstfreiheit decke, dass der Leiter eines Knabenchores – auch wenn es sich bei diesem um eine öffentliche Einrichtung handelt – völlig frei beurteilen darf, welchen Klang die Stimme eines Bewerbers oder einer Bewerberin mitbringen muss, um an Ausbildung und Konzerttätigkeit des Ensembles teilzuhaben. Was das Urteil nicht explizit sagt, was aber zwischen den Zeilen mitschwingt: Um dies einschätzen zu können, müssen alle Interessierten eingeladen und angehört werden. Die Auswahl muss dann allein aufgrund der Stimme, unabhängig vom biologischen Geschlecht, getroffen werden.)

Auf die Frage, ob dies nun bedeute, dass Mädchen nicht mehr grundsätzlich vom Thomaner(*innen?)chor ausgeschlossen seien, antwortet Tobias Kobe, der persönliche Referent der für diesen Fall zuständigen Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, auf VAN-Nachfrage: »Das Mädchen sollte eine Knabenstimme haben oder ein Klangbild, das einer Knabenstimme entspricht. Dann kann es vorsingen und dann entscheidet der Thomaskantor vollkommen geschlechtsunabhängig, ob diese Stimme entwicklungsfähig ist und den Anspruchskriterien des Chors entspricht. Das ist eine künstlerische Entscheidung.« Ob man Mädchen nun grundsätzlich zur Bewerbung ermuntern und Werbung und Kommunikation nach außen dahingehend ändern möchte, sei noch nicht geklärt: »Die Kommunikation entspricht der Satzung des Chores, die nach wie vor gültig ist. Dort steht, dass der Thomanerchor ein Knabenchor ist. Aber in dieser Situation muss man darüber nachdenken, ob man den Text entsprechend anpasst.«

Hier besteht allerdings sicher noch einiges an Diskussionsbedarf mit Thomaskantor Gotthold Schwarz, der laut Leipziger Volkszeitung nur höchst ungern eine Vielzahl von Bewerberinnen zum Vorsingen einladen würde. Die Öffnung des Chores für Mädchen sieht er als Angriff auf die Kunstgattung Knabenchor. Wie ernst es die Thomaner sowie ihre rechtlichen Vertreter*innen meinen mit der in der Pressemitteilung geäußerten Absicht, allein die Stimme des interessierten Nachwuchses zu bewerten, bleibt also abzuwarten.  

Der ehemalige Thomaner Mathias Monrad Møller spricht sich demgegenüber schon seit Jahren für eine Öffnung des Chores aus: »Die Stärke dieser Institution liegt nicht darin, dass sie sich auf ein Geschlecht begrenzt, sondern darin, dass sie in einem ganz frühen Alter in einer ungeheuren Intensität ganz fantastische Musik vermitteln kann. Ich zehre noch heute jeden Tag von dieser reichen kulturellen Bildung und sehe keinen Grund, wieso Mädchen das verwehrt sein sollte. Ich würde mich grundsätzlich ganz klar dafür aussprechen, dass Mädchen aufgenommen werden.« Auch der Argumentation, Knabenchöre böten Jungen einen besonderen Schutzraum beim Singen als einer Tätigkeit, die möglicherweise schwer mit dem »männlichen Selbstbild« in Einklang zu bringen ist, so zum Beispiel geäußert auf BR Klassik, kann er nicht folgen. »Ich habe den Thomanerchor nicht als Schutzraum wahrgenommen und auch nicht gebraucht. Meiner Meinung nach ist das eine Bildungseinrichtung, deren Anliegen auch sein sollte, dass man nach dem Abschluss lebensfertig ist. Man kann ja nicht die Augen davor verschließen, dass es noch ein anderes Geschlecht gibt. Irgendwann muss man sich mit Mädchen auseinandersetzen. Ich hätte eher das Gegenteil vermutet, dass gewisse Gruppendynamiken weniger extrem ausgefallen wären, wenn die Ausbildung gemischtgeschlechtlich gewesen wäre.«

»Das Mädchen sollte eine Knabenstimme haben oder ein Klangbild, das einer Knabenstimme entspricht. Dann kann es vorsingen.« In @vanmusik: Die Thomaner öffnen sich, wenn auch zögernd, für Mädchen.

Wie es in Leipzig weitergeht, hängt nun wahrscheinlich im Wesentlichen davon ab, wie viele Mädchen Lust auf das Repertoire und die Ausbildung der Thomaner(*innen?) haben – und außerdem den Mut, sich trotz Ungewissheit über die tatsächliche Chancengleichheit zum Vorsingen zu bewerben. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com