Das Berliner Verwaltungsgericht hat entschieden, dass die Kunstfreiheit des Staats- und Domchors Berlin, eines Knabenchors, höher wiegt als das Recht einer Bewerberin auf die gleichberechtigte Teilhabe an Spitzenausbildung und Renommee. Der Chorleiter Kai-Uwe Jirka dürfe nicht in seiner Freiheit eingeschränkt werden, Entscheidungen über neue Mitglieder aufgrund rein künstlerischer Gesichtspunkte zu treffen. Klingt erstmal einleuchtend. Oder?

Engelhaft sei sie, die Knabenstimme, klar, und nicht verhaucht wie bei Mädchen. So konnte man es in den letzten Tagen immer wieder lesen. Der Zauber der Endlichkeit – des »Schwanengesangs« – mache sie aus, das Wissen, dass Knabenstimmen am besten klingen, bevor sie, wie der Fachausdruck so schön lautet, mutieren. Die Musikwissenschaftlerin und Operndramaturgin Ann-Christine Mecke hält viel von dem, was derzeit in der deutschsprachigen Presse über Knabenstimmen gesagt und geschrieben wird, für kitschige Klischees, deren Ursprung vor allem im 19. Jahrhundert liegt. »Damals übertrug man die als männlich geltenden Eigenschaften – rational, klar, unemotional – auf Knabenstimmen, und Mädchenstimmen wurden dementsprechend als warm, weich, verhaucht und ein bisschen schwach beschrieben.« Auch die Verbindung von Knaben und Engeln rühre aus der Zeit. »Wenn man das so deutlich nebeneinander stellt und gleichzeitig sieht: Selbst Profis irren sich ziemlich oft bei Tests [bei denen sie Mädchen- und Knabenstimmen nur durch Hören zu identifizieren versuchen], dann ist klar, dass diese Kategorien nicht nur dem Klang abgelauscht sind. Da haben sich Geschlechterklischees in die Klangvorstellung geschlichen.« Diesen Klischees gehen dann auch »überzeugte Feministinnen« auf den Leim. Einen freien Blick auf Knaben- und Mädchenstimmen zu werfen, beziehungsweise mit offenen, unvoreingenommenen Ohren hinzuhören, scheint unmöglich, nachdem »die Knabenstimme« mehr als ein halbes Jahrtausend lang mit allem Möglichen aufgeladen wurde.

Eine ebenso lange Tradition wie die Verklärung der Knabenstimme hat die intensive Förderung der Jungen schon in sehr jungen Jahren – weil vor dem Stimmbruch Spitzenleistungen erreicht werden müssen – in spezialisierten Einrichtungen wie den Thomanern, dem Kreuzchor, oder eben dem Berliner Staats- und Domchor. Zu Zeiten ihrer Gründung war professionelles Musizieren, ob weltlich oder im Gottesdienst, Männersache. An dieser Tradition wird nach wie vor festgehalten. Auch erst im 20. Jahrhundert entstandene Institutionen wie der Tölzer und der Windsbacher Knabenchor berufen sich auf diese Tradition und lassen keine Mädchen zu. Finanziert werden sie zum großen Teil durch Steuergelder. Ihr internationales Renommee ist beachtlich. Vergleichbare Ensembles für Mädchen, die den Knabenchören in der Intensität der Ausbildung nahekommen, gibt es sehr wenige. Vom Prestige und von der Strahlkraft der »Marke Knabenchor« können Mädchen auch in eigenen Chören ohnehin nicht profitieren. Es geht beim Berliner Verfahren also um die generelle Frage nach Teilhabe.

Foto Stabi Hamburg (CC BY 4.0)
Foto Stabi Hamburg (CC BY 4.0)

Bei der Verhandlung stand hintergründig auch die Überlegung im Raum, ob der Staats- und Domchor eher Ausbildungsinstitution ist, die, weil öffentlich gefördert, grundgesetzkonforme und damit geschlechtergerechte Zugangsvoraussetzungen ermöglichen muss, oder eine Kulturinstitution, deren künstlerische Freiheit es vor allem anderen zu wahren gilt. Künstlerische Freiheit hieße in dem Fall: Der Chor darf am Knabenchor-Klangideal festhalten, auch wenn das bedeutet, dass Artikel 3 des Grundgesetzes, das Recht auf Gleichberechtigung, für potentielle Bewerberinnen nicht greift. Das Verwaltungsgericht hat sich für letzteres entschieden.

Ein Ensemble, das den Anspruch hat, künstlerisch auf höchstem Niveau zu arbeiten, muss bei der Auswahl der Instrumente auch feine Unterschiede, die nur für das Profi-Ohr hörbar sind, berücksichtigen dürfen. Bei einem Chor sind die Instrumente nun mal die Körper. Aber ist die Anatomie des Stimmapparats heranwachsender Mädchen und Jungen tatsächlich so verschieden, dass auch der Klang der Stimme ein merklich anderer ist? Staats- und Domchorleiter Jirka ist dieser Meinung. Im Gegensatz dazu erklärte beispielsweise Raimund Wippermann, Leiter des Essener Mädchenchores, gegenüber dem WDR, es sei eine Frage des Trainings und der Ausrichtung, ob singende Mädchen anders klingen als Jungen.

Die Vorbehalte, die gegen den Stimmapparat von Mädchen vorgebracht werden – mangelndes Volumen, weniger Kraft – ähneln dem, was sich Blechbläserinnen immer wieder anhören müssen, stark. Hier hat unter anderem der Fall der ehemaligen Soloposaunistin der Münchner Philharmoniker, Abbie Conant, gezeigt: Weibliche Körper sind sehr wohl in der Lage, musikalisch dieselben Topleistungen zu erbringen wie männliche. Die Vorurteile ihnen gegenüber wirken aber so gravierend, dass Conant ihren Posten schlussendlich niederlegte. Auch Ann-Christine Mecke geht davon aus, dass es theoretisch möglich sein könnte, Mädchen so auszubilden, dass ihr Gesang zum Beispiel dem der berühmten Tölzer Knaben ähnelt: »Die haben eine Singtechnik, in der sie alle Formanten in tiefere Frequenzbereiche schieben und damit einen Klang erzeugen, der von unseren Testhörerinnen besonders eindeutig als Knabenklang wahrgenommen wurde. Das könnte man natürlich mit Mädchen auch versuchen und gucken, was passiert. Herr Jirka hat im Prozess gesagt, das wäre Gewalt. Es ist nicht mehr Gewalt, denke ich, als wenn man das mit Jungen macht.«

Studien aus den USA und Großbritannien zeigen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Hörer*innen im Blindtest herausfinden, ob Mädchen- oder Knabenchöre oder Solist*innen aus einer der beiden Gruppen singen, liegt über 50 Prozent, aber nicht deutlich. Eine Studie von Ann-Christine Mecke und Johan Sundberg, bei der Aufnahmen des Tölzer Knabenchors mit denen von Knaben- und Mädchenchören einer schwedischen Schule mit Chorschwerpunkt verglichen wurden, legt nahe, dass selbst Fachleute die klanglichen Unterschiede nicht besonders eindeutig identifizieren können. In mehr als einem Drittel der Fälle lagen auch sie falsch mit ihrer Einschätzung, ob in verschiedenen Hörbeispielen Mädchen oder Jungen singen. Und: Die klanglichen Unterschiede zwischen einzelnen Knabenchören sind größer als die zwischen Knaben und Mädchen mit sehr ähnlicher Ausbildung. Wie Chöre oder Sänger*innen, deren Geschlecht wir nicht kennen, für uns klingen, liegt also viel eher am Training als am Körperbau (der ja auch unter Mädchen und Jungen jeweils sehr verschieden sein kann). Im Konzert funktioniert die Hörhaltung dann allerdings genau anders herum: Das Publikum kennt immer schon vor dem ersten Ton das Geschlecht der Singenden. So hört es die eigenen Klangerwartungen zwangsläufig mit. Ein gemischter Kinderchor könnte dem Ideal eines Knabenchorklangs also noch so nahekommen, wir würden einen reinen Knabenchor doch sehr wahrscheinlich »knabenhafter« wahrnehmen.

Foto onnola (CC BY-SA 2.0)
Foto onnola (CC BY-SA 2.0)

Auch Chorleiter Jirka weiß, wer vor ihm steht, wenn er Kinder zum Vorsingen einlädt. Auch er kann sich – siehe seinen Hinweis auf den »Schwanengesang« im Rahmen der Gerichtsverhandlung – nicht von der Verklärung der Knabenstimme freimachen. Laut Berliner Verwaltungsgericht ermöglicht ihm das Recht auf Kunstfreiheit aber trotzdem, im Alleingang auszusuchen, wen er in den Staats- und Domchor aufnimmt. Das Gericht spricht ihm zu, die Mitglieder so auszuwählen, dass ein Knabenchorklang erhalten bleibt. Denkt man dieses Urteil unter der Prämisse, dass es um ein Recht auf die freie Wahl des Klangs geht – nicht um die freie Wahl beispielsweise eines bestimmten Aussehens oder eines biologischen Geschlechts – konsequent weiter, müsste das eigentlich rein formal bedeuten: Der Staats- und Domchor Berlin müsste explizit auch Bewerberinnen zulassen. Ob ihre Stimmen in den Knabenchorklang passen, müsste dann Jirka entscheiden. Seine grundsätzliche Bereitschaft zu diesem Vorgehen hat der Chorleiter bereits im Verfahren signalisiert. Würde so in nächster Zeit weiblicher Nachwuchs aufgenommen, hätte die Klage schlussendlich doch Erfolg. Würden reihenweise oder sogar alle Anwärterinnen abgelehnt, müsste man wiederum prüfen, woran das liegt – an tatsächlichen Klangunterschieden? Oder daran, dass in der Beurteilung Rollenklischees und Klangerwartungen eine (zu) große Rolle spielen? Abbie Conant fordert, um diesen Effekt von Vornherein zu umgehen, auch für Knabenchöre Blind Auditions, Vorsingen hinterm Vorhang, bei denen die Auswahlkommission das Geschlecht des potentiellen Nachwuchses nicht erfährt. Inwiefern eine solch künstliche Vortragssituation kindgerecht gestaltet werden kann, bliebe noch zu überlegen.

Immer wieder wird im Rahmen der Debatte vorgeschlagen, als pragmatische Lösung allen Mädchenchören dieselben Ressourcen zukommen zu lassen wie Knabenchören. Diese Forderung hat allerdings zwei Haken: Erstens stellt die Teilnahme am Mädchenchor keine vollwertige Alternative zum Singen im Knabenchor dar. Mädchenchöre verfügen nicht über dasselbe Prestige. Die Ausbildung ist bei ihnen oft nicht so intensiv, da nicht ständig die biologische Stimmbruch-Uhr tickt. Für die Teilnahme an sehr guten Mädchenchören müssen die Eltern für gewöhnlich zahlen. Und vor allem: Möchte ich als Kind Knabenchor-Repertoire singen, brauche ich dafür Tenor- und Bassstimmen. Die gibt es nur in Knabenchören. Der Zugang zu bestimmter Musik bleibt Mädchen im nach Geschlechtern getrennten Ausbildungssystem so verwehrt, obwohl einigen eine Teilhabe auch auf künstlerisch sehr hohem Niveau rein stimmlich gesehen sehr wahrscheinlich möglich wäre. Zweitens liegt in Berlin, Dresden, Leipzig, München oder Windsbach nicht einfach Geld für Kulturförderung herum, für das nur nach einer guten Investitionsmöglichkeit gesucht werden müsste. Gleichviel Geld für Mädchenchöre hieße deswegen sehr wahrscheinlich: weniger für die Knaben. Das wäre gerecht. Aber wollen die Verfechter*innen der Knabenchöre das?

Übrigens ist auch das Argument, bei Bach, Mahler und Berlioz hätten eben Knaben gesungen und man müsse darum auch Knabenchöre einsetzen, um einen »Originalklang« zu erzielen, nicht uneingeschränkt gültig. »In Bachs Chor war so einiges anders«, so Ann-Christine Mecke, die zum Stimmwechsel in der Chorpraxis des 18. und 19. Jahrhunderts promoviert hat. »Es gab kein Pausieren während des Stimmwechsels, besonders der Klang der Altstimmen dürfte erheblich durch Sänger in der Mutation und Falsettisten geprägt gewesen sein. Das ist bei heutigen Knabenchören ganz anders.« Wie nah ein Knabenchor von heute dem Klang von damals kommt, ist also fraglich. Berlioz und Mahler haben in ihren Partituren explizit Knabenchöre vorgesehen, wie Chorleiter Jirka im Berliner Prozess betonte. Beide haben aber, so könnte man mutmaßen, »Knabenchor« geschrieben, weil das zu ihrer Zeit gleichbedeutend war mit »Kindern, die auf hohem Niveau singen« – professionelles Chorsingen schon in jungen Jahren war zu ihren Lebzeiten eben Jungen vorbehalten. Heute wäre ihnen womöglich völlig egal, ob nun Mädchen, Jungen oder gemischte Gruppen die hohen Stimmen singen. Dieses Argument ist also etwas schief.

Gegen eine gemischte Ausbildung spreche, so hört man dieser Tage immer wieder, dass bei der Arbeit mit Jungen unter sich eine andere Stimmung, ein anderes Klima herrsche. Jungen bräuchten einen Schutzraum, in dem sie sich entfalten und ignorieren können, dass Singen oft als unmännlich angesehen wird. Statt gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass Jungen keine Mädchen in ihren Chören wollen, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen: Es gibt auch in Knaben-Ensembles Musiker, die sich für eine Öffnung aussprechen. Ein Tubist der Meersburger Knabenmusik sagte rückblickend über die Grundsatzentscheidung, ob Mädchen Teil des Blasmusikensembles werden dürften: »Wenn die Aufnahme der Mädchen nicht durchgegangen wäre, hätte ich aufgehört zu spielen.« Und: Wenn man dem Problem, dass Singen vielen als »unmännlich« gilt, damit begegnet, es als kameradschaftlich-maskulinen Hochleistungssport darzustellen, lässt man Klischees und Rollenerwartungen unangetastet, man nutzt sie lediglich für die eigenen Zwecke. »Gerhard Schmidt-Gaden vom Tölzer Knabenchor hat gerne gesagt: ›Wir sind die Nationalmannschaft im Singen‹«, so Ann-Christine Mecke. »Von Martin Ashley, einem Wissenschaftler, der eher aus der pädagogischen Ecke kommt und in England forscht, gibt es Beobachtungen, dass in Knabenchören besonders viel über Fußball geredet wird und die englischen Jungs unter diesen Chorhemden im Gottesdienst gerne Fußballtrikot tragen. Mit ist auch aufgefallen: In allen Reportagen über Knabenchöre werden Jungen beim Fußball gezeigt. Und dann kommt immer der Subtext: ›Es sind ja doch normale Jungs.‹ Irgendwie gibt es da ein Bedürfnis, immer wieder klar zu machen: Die singen zwar, aber sind trotzdem sehr männlich. Da arbeitet sicher niemand gegen die zugrundeliegenden Rollenklischees.«

Dieselben Klischees zur Knabenstimme, die die aktuelle Debatte immer wieder bemüht, wurden vor über zwanzig Jahren in Großbritannien als »Argumente« laut. Damals wurde diskutiert, ob auch Mädchen in Gottesdiensten singen und professionell und systematisch dafür ausgebildet werden dürfen. »In England war das auch ein Riesenthema«, so Mecke. »In den ersten Gottesdiensten, in denen Mädchen auftraten, gab es Protestaktionen. Inzwischen hat sich das alles beruhigt.« Dementsprechend sachlich ist auch der Ton der englischsprachigen Berichterstattung über das Berliner Urteil. Keine romantisierende Beschreibung der Knabenstimme, keine Proklamation des Genderwahns oder Kulturverfalls, keine Beschwerden über Helikoptermütter.

Wie wenig Hörer*innen auf die Barrikaden gehen, wenn man nicht Rollen- und Klangerwartungen ins Feld führt, sondern einfach mal macht, sieht man in Salzburg und Köln. Da hat man bei Aufführungen mit renommierten Orchestern, Solist*innen und Dirigenten Mahler 3 und 8 mit Kinderchor aufgeführt. »Es passiert auch ständig, dass man die drei Knaben in der Zauberflöte mit Frauen oder Mädchen besetzt«, so Ann-Christine Mecke. »Die wurden in der Uraufführung übrigens auch nicht alle von Knaben gesungen. Da ist die pragmatische Mischung eigentlich die historisch korrekte Aufführung.«

Wie durchlässig, gleichberechtigt und wandlungsfähig wollen wir sein? Der Rechtsstreit und die Debatte darum bieten Knabenchören die Chance, sich mit dieser Frage verstärkt auseinanderzusetzen. Die Antworten können je nach lokalen Gegebenheiten unterschiedlich aussehen. Ob die Ensembles dann anders klingen, wird sich erst zeigen, wenn der erste Knabenchor die Öffnung wagt.¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com