Vor knapp drei Jahren fanden die Brüder Thomas und Andreas Spindler in der Israelischen Nationalbibliothek ein 1912 erschienenes Buch mit deutschen und hebräischen Liedern. Am 20. September wird die Neuausgabe des ›Sefer Ha-Shirim‹ der Öffentlichkeit präsentiert. Projektleiter Thomas Spindler erklärt, warum er es als Sensation einstuft.  

VAN: Sie haben in Israel ein jüdisch-deutsches Gesangbuch ausgegraben. Wie kam es dazu? 

Thomas Spindler: Mein Vater ist Musikprofessor, mein Bruder Andreas Instrumentenbauer. Sie erforschen seit mehr als drei Jahrzehnten die Musik von 900 bis 1400 und lassen die Ergebnisse in die Konzerte unserer Capella Antiqua einfließen. Vor einigen Jahren rief uns das Büro der Bayreuther Festspiel-Chefin Katharina Wagner an, ob wir Lust hätten, jungen israelischen Musikern unsere Instrumentensammlung zu zeigen. Ja, hatten wir. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft und des Projekts ›Arche Musica‹, das zum Ziel hat, eine Sammlung für die musikalische Erinnerungskultur aufzubauen, die wir der Öffentlichkeit zugänglich machen. Unter diesem Aspekt suchten wir in der israelischen Nationalbibliothek nach Noten und entdeckten im November 2019 dieses kleine unscheinbare Buch.     

Was heißt in dem Fall ›entdecken‹?

Bis 2019 wusste niemand von der Existenz des Buches, obwohl mehrere Exemplare erhalten sind und inzwischen – vor knapp zwei Monaten – nach gezielter Suche ein weiteres in der Berliner Staatsbibliothek gefunden worden ist. So, wie es dort archiviert worden war, hätte es wie in den vergangenen 70 Jahren niemanden interessiert. Insofern kann man von einer Heimkehr des Buches nach Berlin sprechen.

Was ist so besonders an der Niederschrift der Lieder?

Es hat einen deutschen und einen hebräischen Teil in Aschkenas, einer Sprache des alten Judentums, die 1912 noch in Gebrauch war, heute jedoch nicht mehr. Wer Hebräisch spricht, tut sich schwer damit, die Sprache zu entziffern, weil die Skriptform wie beim Alt-Deutschen eine andere ist als die heutige Schrift. Viele der hebräischen Lieder waren unbekannt. Das Werk hat enorme Relevanz, weil es ein Stück Geschichte um das Jahr 1912 festhält. Ein Kollege sprach von einer ›Zeitkapsel‹. Das trifft es wunderbar. 

Thomas Spindler leitet gemeinsam mit seinem Bruder Andreas die deutsch-israelische Initiative zur musikalischen Erinnerungskultur ›Projekt 2025-Arche Musica‹. Er ist Mitglied des Alte-Musik-Ensembles Capella Antiqua Bambergensis • Foto: Anna Fahrenkampf-Spindler © by CAB-Artis 2022

Was ist damit gemeint?

Das Buch gewährt uns einen Einblick in die musikalische Vergangenheit Deutschlands kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Im Vorwort gibt es einen wichtigen Hinweis zum Zweck des Buches: Darin erklären der jüdische Kantor Abraham Zvi Idelsohn, der die Lieder gesammelt hat, und James Simon, einer der bedeutendsten deutschen Kunstmäzene seiner Zeit, dass das Werk für Kindergärten und Schulen gedacht ist. Das Entscheidende ist, dass beide betonen, dass sich deutsche und hebräische Musik gleichberechtigt gegenüberstehen sollen. Der Ansatz war hochmodern. Kinder aus christlichen, jüdischen und atheistischen Familien sangen gemeinsam deutsche und hebräische Lieder. Allein das zeigt, wie stark deutsche und jüdische Kultur miteinander verwoben waren. Juden und Nicht-Juden waren 1912 näher beieinander, als wir es heute sind. Damit die Lieder zusammen gesungen werden konnten, also alltagstauglich sind, waren sie durchgehend einstimmig notiert und deshalb nicht zu schwierig in der Wiedergabe. Der Kantor und der Mäzen sahen in dem Buch ein Basiswerk für den Musikunterricht.  

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Wurde dieser Anspruch eingelöst?

Ich denke schon. Es gab acht Editionen des Buches. Es enthält 49 deutsche und 100 hebräische Lieder, wobei in dem Vorwort betont wird, dass es sich hier um typische deutsche Liedkultur handelt. Der Inhalt ist ein ziemlich wilder Mix zwischen ›O Tannenbaum‹, ›Das Wandern ist des Müllers Lust‹ und ›Ergo bibamus‹, das vermutlich berühmteste traditionelle Studentenlied der Welt, sowie den Vertonungen hebräischer Texte.  In den Texten gab es bisweilen Skurriles. In O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter heißt es etwa ›wie ist dein Kopf so kraus‹. Die Texte bilden oft ab, was in Berlin 1912 populär war, über was gelacht wurde. 

Konnten Sie denn das Buch sofort lesen?

Zunächst gar nicht – nicht nur wegen der Sprache. Sämtliche Noten und Texte sind von rechts nach links niedergeschrieben. Für Menschen, die Hebräisch sprechen, ist das normal. Aber für uns europäische Musiker ist das so gut wie unspielbar. Bei der Entschlüsselung half uns die Musikwissenschaftlerin Gila Flam, Direktorin des Musikarchivs der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem. Sie und israelische Literaturwissenschaftlerinnen haben jedes einzelne Stück in lateinische Buchstaben transliteriert, damit wir es lesen konnten und die Lieder in unseren Breitengraden singbar werden. Das Lateinische passte wiederum selten zu den Melodien, weshalb wir die Noten anpassen mussten. Das war echte Teamarbeit, die sich gelohnt hat. 

Das älteste Lied der Sammlung: Ma’-oz tsur (links, Nummer 83)

Aus welchen Jahren stammen die Lieder? 

Ganz unterschiedlich. Das mit Abstand älteste Lied Ma’-oz tsur, auf Deutsch Fels der Zeitalter, hat seinen Ursprung im 12. Jahrhundert. Geschrieben wurde es, wie unsere Forschungen ergaben, ›an den Ufern des Rheins‹, womit nur Worms, Speyer oder Mainz gemeint sein können. Schon das Lied ist ein echter Sensationsfund. Es wurde ursprünglich nach dem Anzünden der Lichter in den acht Nächten des Chanukka-Festes gesungen. Die Anfangsbuchstaben der ersten fünf Strophen geben den Namen des Autors wieder: Mordechai. Das Lied wird immer noch sehr viel gesungen. Die meisten Sachen sind allerdings aus der Zeit zwischen 1870 und 1910. 

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Das heißt, viele davon sind bekannt und werden heute nach wie vor gesungen?

Ja, viele haben bis heute Relevanz im jüdischen und deutschen Leben, nicht nur die berühmten wie Das Wandern ist des Müllers Lust oder Oyfn Pripetshik, das John Williams Anfang der 1990er-Jahre mit einigen Veränderungen für die Filmmusik zu Schindlers Liste verwendet hat. Das Lied musste also schon 1912 große Bedeutung gehabt haben. All diese Erkenntnisse sind ein wichtiger Beitrag sowohl zur Musikwissenschaft als auch für die deutsch-jüdische musikalische Erinnerungskultur.

​​Können Sie noch ein jüdisches Lied nennen, dem Sie besonderen Stellenwert beimessen?

Jedes der 100 hebräischen Musikstücke hat eine eigene Geschichte und wurde als so wichtig empfunden, dass es Kantor Idelsohn in das Buch aufnahm. Die Melodie von Shir ‘eres ist dem jiddischen Wiegenlied Shlof mayn kind mayn treyst nachempfunden, das dem jiddischen Schriftsteller Scholem Alejchem zugeschrieben wird. Darin erzählt die Mutter ihrem Sohn von der Abreise seines Vaters nach Amerika, um ein neues Leben zu beginnen, und drückt ihm gegenüber Sehnsucht aus. In dem Wiegenlied soll das Kind in seine Heimat, nach Zion, gehen und dort seine persönliche sowie nationale Zukunft aufbauen. 

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Was geschieht mit dem Buch? 

Unser Ansatz war nie, seinen Inhalt zu erforschen und es danach zurück ins Regal zu stellen. Das Buch erscheint jetzt im Schott-Verlag als Neuausgabe samt übertragenen Texten. Ab Oktober ist es in der Originalversion in unserer digitalen Bibliothek ›Arche Musica‹ zugänglich. Unser Ziel ist es, das Werk gemeinsam mit dem Deutschen Chorverband wieder in den Musikalltag zu bringen. Wir wollen, dass Jungen und Mädchen heute wieder in Kindergärten und Schulen gemeinsam Lieder mit deutschen und hebräischen Texten singen. Jetzt geht es also darum, die Bücher in die Gemeinden, Kitas und Schulen zu bringen. ¶

… stammt aus Leipzig, lebt seit Ewigkeiten in Berlin, hat Drechsler gelernt, verdient aber seit gut drei Jahrzehnten sein Geld mit Wortdrechseleien. Von Kindesbeinen an liebt er alles, was unter den Begriff der »Klassik« fällt. Sein Spezialgebiet ist die Vokalmusik der Renaissance und des Barock, insbesondere die Oper.