Die vierte Wand ist aufgehoben. Das ist nun wirklich nichts Neues. Aber lustig. Wir klettern gut gelaunt auf steilen Treppen die Tribüne hinauf, die in der Komischen Oper Berlin für uns auf der Bühne errichtet wurde, und blicken von oben herab auf unsere Untertanen, will sagen, jene andere Hälfte des Publikums, die den Rand des Parketts und den ersten Rang bevölkert und mitspielen darf in Luigi Nonos Intolleranza 1960

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Das Stück ist jetzt einundsechzig Jahre alt. Es handelt vom Elend der aus ökonomischen Gründen Heimatvertriebenen, die im Bergwerk schuften, ausgebeutet werden, nichts verdienen und weiterziehen: damals beschönigend »Gastarbeiter« genannt. Es erzählt vom Verlust der Menschenwürde, es fordert auf zum Widerstand. Und dann ist da noch tröstlicherweise die Liebe. Der Flüchtling verlässt Frau und Familie, er findet in der Fremde eine neue Gefährtin. Am Ende kehren sie gemeinsam nach Hause zurück, um zu sterben in einer Flutkatastrophe. Zur Zeit Nonos galt so etwas noch nicht als menschengemacht. Doch auch, wenn sich die moderne Völkerwanderung seither brutal verschärft und ausgeweitet hat und der Begriff der Menschenwürde einerseits in aller Munde, andererseits dehnbarer geworden ist, bleibt dieser Plot mit seinen Textcollagen nach Sartre, Brecht, Majakowski und mit den entsprechend lehrstückhaft zugespitzten Tableaus immer noch gegenwärtig. Dafür sorgen auch die farbigen Orchestergewitter und die purifizierten Zwölftongesänge der Solisten, die Chöre und Sprechchöre, in ihrer knappen, verkappten Wut. Dass uns die Musik Nonos ins Sonnengeflecht greift, unmittelbar betrifft: Das hört vermutlich jeder, auch wenn er nicht genau weiß, wieso. Mit anderen Worten: Intolleranza 1960 ist ein Klassiker der Moderne geworden. 

Ilse Ritter und Sean Panikkar • Foto © Barbara Braun

Dieser wird nicht oft, aber doch immer mal wieder neu inszeniert, in Augsburg, Stuttgart, Köln, Hannover, zuletzt voriges Jahr in Salzburg und in Berlin nun bereits zum zweiten Mal. Nono hatte sich, darauf berief sich der Regisseur Peter Konwitschny in seiner Inszenierung 2001 an der Deutschen Oper, für den Untertitel »Azione scenica in due tempi« (Handlung in zwei Teilen) entschieden, »weil er das Stück nicht ›Oper‹ nennen wollte.« Denn eine »Oper«, das war für die politische Linke etwas, das es in die Luft zu jagen galt: Deko in Blattgold, Samt und Plüsch, ein fürstlich’ Vergnügen fürs Establishment. Auch das hat sich geändert. Die venezianische Uraufführung von Intolleranza wurde von Protesten der Neo-Faschisten gestört, sie warfen Stinkbomben und skandierten in Sprechchören, als Kommentar zur Folterszene: »Vivia la polizia!« Es gab einen zünftigen gesellschaftspolitischen Skandal.

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Wir dagegen hatten, wie gesagt, von Anfang an Spaß am letzten Samstag, in der Komischen Oper. Das Blattgold, der falsche Stuck, Samt und Plüsch: All das war wie von Zauberhand verschwunden. Regisseur Marco Štorman hatte den Zuschauerraum komplett in klinisch weiße Tücher einwickeln lassen. Eine Installation. Sieht toll aus, nicht nur auf den Fotos, auch in Wirklichkeit. Kneift man die Augen zusammen, könnte das, mit ein bißchen gutem Willen, als Parodie auf Christo und Jeanne-Claude durchgehen: Land Art aus den Sechzigern, im Sparformat. Inmitten prangt, ebenfalls weiß verhüllt, verbrettert und bemalt, eine erhöhte, gepolsterte Spielfläche, mit kleinen Verwerfungen. Das sind die Schneewehen im ewigen Eis der Arktis, welches heute nicht mehr Ewigkeit symbolisiert, vielmehr Untergang, denn es schmilzt laufend weg. Pfiffig hat der Bühnenbildner Márton Ágh ein Wellness-Loch eingebaut in die Fläche, da kann Bariton Tom Erik Lie, der in der Algerienkriegszene den Algerier singt, zwischendurch das »Eis« aufklopfen und, gemeinsam mit dem Flüchtling und hervorragenden Tenor Sean Panikkar, der viel zu tun hat als Hauptfigur, mal gemütlich die Füße »kühlen«. Wer ganz vorne sitzt, in einer der Gletscherspalten, die fürs Publikum reserviert sind, kann den Klimawandel sogar interaktiv ausbremsen helfen. Er lässt sich ein weißes Lätzchen umbinden und wird so zum Teil der Deko. Nicht alle da unten machen mit, wie wir von oben beobachten können, es ist fast wie im richtigen Leben. Und nach und nach dämmert es: Irgend etwas stimmt nicht mit unserer Gegenwart. Oder stimmt was nicht mit diesem Opernhappening? 

Sean Panikkar, Deniz Uzun und Chor • Foto © Barbara Braun

Štorman kümmert sich nicht um den Klimawandel. Er spielt mit ein paar fotogenen Klimawandelassoziationen, das ist alles. Die Inszenierung erzählt auch mit keiner Silbe etwas von Migration und Menschenwürde. Auch nichts über Ausbeutung, Gegenwehr, Ausgrenzung, Folter und Protest. Alle konkreten Gegenwartsbezüge sind ausgeblendet, sie werden ersetzt durch eine auf einfachste affektive Gesten reduzierte Choreographie. Der Flüchtling ist unglücklich: Also reckt er die Arme in die Luft. Der Gefolterte hat Angst. Also duckt er sich weg. Besonders eindrücklich, weil vervielfältigt, gelingt dies in den schön arrangierten Chorszenen: Denn wenn mehrere Darsteller asynchron die Arme in Luft recken oder sich gemeinsam um einen scharen, den sie bedrängen, dann wird daraus, schwups, ein Ornament. Ein hübsches Standbild. Oder eine Assoziation. Das komplexe Narrativ der Nono-Oper wird dergestalt übermalt mit Dekorationen. Nur ein einziges Motiv bleibt, das offenbar in keiner Oper fehlen darf: die Liebe. Im zornigen Abschiedsgesang der Frau des Flüchtlings (Deniz Uzun) kommt die Handlung vorübergehend zu Sinn und Verstand. Auch die Begegnung mit der neuen Gefährtin (Gloria Rehm) wirkt überraschend plausibel. Nur wurde die eine Frau dummerweise in ein Eisköniginnenkostüm mit Endlosschleppe gestopft, die andere als Königin der Nacht mit glitzerndem Kopfputz aufgebretzelt, was mit dem, was diese beiden Sängerinnen so sauber und klar zu singen haben, nicht zusammen geht. Irgendwann machte es keinen Spaß mehr, darüber nachzugrübeln: Warum dies? Was soll das? Wir lassen uns einfach bequem volllaufen mit schickem Unsinn, Deko und Design. Viel Lärm. Um Nichts. So wird aus einem politischen Agitpropstück eine Revue und aus sprachfähiger Musik werden auf- und niederwallende Muzakwogen. 

Gloria Rehm • Foto © Barbara Braun

Zur nachträglichen politischen Sinnstiftung hat das Regieteam dem politisch entkernten Nono-Stück noch eine aktuelle Predigt zur Lage der Nation implantiert, verfasst von Carolin Emcke. Sie versetzte sich in eine imaginäre Flüchtlingseele, um uns von dort aus, in erster Person Singular, nach Herzenslust die Leviten zu lesen. Die Schauspielerin Ilse Ritter verwandelte dieses poetisierende Wortstroh zwar nicht in Gold, aber doch immerhin sehr schön in ziseliertes Silber. Für Gabriel Feltz, der die um, auf und auch unter dem Eis herum robbenden Chöre sowie das zahlköpfige Orchestervolk, unsichtbar untergebracht auf dem zweiten Rang, zu koordinieren hatte, war das Dirigentenpult in schwindelnder Höhe aufgebaut worden. Nichts flog ihm auseinander. Allein das ist schon eine bewundernswerte Leistung. Es war allerdings auch nichts richtig zusammen, was möglicherweise an der ohnehin problematischen Akustik des Hauses, der niedrigen Decke auf dem zweiten Rang, sowie an räumlichen Entfernungen zwischen den Akteuren lag. Noch nie kam mir Nonos messerscharfe Musiksprache so wattig, weich und marmeladenartig trübe vor, wie an diesem Premierenabend. Dem Publikum hat es trotzdem sehr gut gefallen. War halt viel los. Irgendwie. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.