Es ist erst Mitte Februar und trotzdem hat 2023 schon zwei Neubesetzungen für große Chefdirigent:innen-Posten zu verzeichnen: Am 1. Februar unterschrieb der israelische Dirgent Lahav Shani seinen Vertrag bei den Münchner Philharmonikern, wo er ab der Saison 2026/27 Nachfolger von Putinfreund Valery Gergiev wird. Am darauffolgenden Dienstag verkündete das New York Philharmonic, dass dort – ebenfalls ab Saison 2026/27 – Gustavo Dudamel übernehmen wird und damit Jaap van Zweden beerbt. Aktuell ist Dudamel Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic. Sowohl Shani als auch Dudamel sind gute Musiker und werden eine Bereicherung für ihre neuen Orchester sein. In beiden Fällen handelt es sich um eine sichere Wahl, deren Einfluss auf das Repertoire sich wahrscheinlich in Grenzen halten wird. Und obwohl Susanna Mälkki und Mirga Gražinytė-Tyla ebenfalls für die Positionen gehandelt worden waren, entschieden sich beide Orchester letztlich für Männer.
Shani ist der weniger Bekannte der beiden. Er ist 34 Jahre alt, schon sein Vater war Chordirigent. Der ausgebildete Pianist spielte Kontrabass im Israel Philharmonic Orchestra (IPO), trat mit dem Ensemble auch als Solist am Klavier auf und arbeitete dort als Assistent von Zubin Mehta und als Gastdirigent, bevor er in der Saison 2020/21 zum Chefdirigent ernannt wurde. (Bereits seit 2018 hat er dieselbe Position beim Rotterdam Philharmonic Orchestra inne, wird diese jedoch für München aufgeben. Beim Israel Philharmonic Orchestra wird Shani Chefdirigent bleiben.)
In Tel Aviv ist Shani sehr beliebt. Sharon Cohen, eine Geigerin des Israel Philharmonic, blickt auf VAN Nachfrage zurück auf eine für sie denkwürdige Aufführung von Mahlers Erster mit ihm vor zehn Jahren: »Ich erinnere mich, wie die Leute um mich herum bei diesem Stück, das ihnen so vertraut ist, frischen Wind gespürt haben«, so Cohen. »Er sucht nach der Bedeutung im Notentext, in der Art, wie er geschrieben ist, und er erweckt ihn auf sehr ehrliche Weise zum Leben. Ich liebe es, mit ihm zu arbeiten.«
Michael Seltenreich, ein israelischer Komponist, der mit Shani zur Schule gegangen ist und in derselben Straße aufwuchs, meint, der Dirigent habe viele Freund:innen im IPO: »Ich glaube, er ist im Orchester sehr beliebt.« Und er bescheinigt Shani schier übernatürliche musikalische Fähigkeiten: Der Dirigent könne jede noch so umfangreiche Partitur am Klavier vom Blatt, in Echtzeit transponieren und gleichzeitig eine einzelne Stimme und die Gesamtstruktur einer Sinfonie hören.
Shani ist unter Musiker:innen aufgewachsen. Wie Alan Gilbert, dessen Eltern beide beim New York Philharmonics waren, das er später leitete, wurde Shani praktisch vom Israel Philharmonic Orchestra großgezogen. »Es gab, zumindest am Anfang, diese Art von Spannung: ›OK, das ist unser Kind, und jetzt ist er auch unser Chef‹«, so Seltenreich. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, sind die Münchner Philharmoniker und Shani per Du. An den meisten modernen Arbeitsplätzen wäre das nicht weiter von Belang, aber in der Orchesterwelt hat die Entscheidung »Duzen oder Siezen« immer noch Gewicht. Das Du lässt hoffen, dass Shani keinen so autoritären Führungsstil an den Tag legen wird, wie ihn einer seiner berühmten Mentoren, Daniel Barenboim, verkörpert.
Für ein Publikum, das gerne Neues entdeckt, ist Shanis Ernennung weniger vielversprechend (obwohl das in München bisher auch nicht gerade Schwerpunkt war). Das Israel Philharmonic ist ein konservatives, traditionelles Orchester, was vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass Shani so gut dorthin passt. Shani hat noch nicht besonders viele Werke eingespielt, aber seine Interpretation von Beethovens 7. Sinfonie mit den Rotterdamer Philharmonikern ist höchstens durchschnittlich und zeigt keine Spur von dem Elan und dem Biss, den Dirigent:innen mit Erfahrung in der Alten Musik in dieses Repertoire eingebracht haben. Shani hat auch die Sinfonie Nr. 1 von Paul Ben-Haim aufgenommen, ein Werk von 1940 mit Mahler’schen Anklängen, das zweifellos auch in Europa auf den Programmen landen sollte. Aber wenig gespielte Entdeckungen aus älterem Repertoire und die Uraufführung zeitgenössischer Musik sind sehr unterschiedliche Dinge, und Shani hat bei Letzterem nicht viel zu bieten.
Die SZ berichtet von der Pressekonferenz der Münchner Philharmoniker, Shani wolle Repertoire des 20. und 21. Jahrhunderts kombinieren mit der Mahler- und Bruckner-Tradition des Orchesters. (Es ist bezeichnend, dass das 20. Jahrhundert eine explizite Erwähnung wert war.) Shanis bisherige Arbeit ist für diejenigen, die die Münchner Philharmoniker mit Neuer Musik hören wollen, wenig vielversprechend, eine eigene Ästhetik zeichnet sich in diesem Bereich nicht ab.
Vielleicht legen die Münchner Philharmoniker auch keinen besonderen Wert auf zeitgenössische Musik, weil sie sich die Stadt mit dem entdeckungsfreudigeren Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks teilen. Doch in einer idealen Welt könnte Shani sowohl historisches israelisches Repertoire als auch zeitgenössische Musik neben den von den Münchner Philharmonikern bevorzugten Mahler- und Brucknersinfonien dirigieren und damit das Musikleben der Stadt und des Landes erheblich bereichern.
Neben seinem offensichtlichen Talent und einem von vielen als angenehm erlebten Führungsstil hat Shani etwas Konservatives an sich. Zum Beispiel raucht er als 34-Jähriger gerne mal Zigarre. In der meist ekstatischen Medienberichterstattung über Shanis Verpflichtung in München (und übrigens auch über die von Klaus Mäkelä in Amsterdam) wurde häufig die Jugend des Dirigenten hervorgehoben. Aber es ist nicht das Alter allein, das einen jungen Dirigenten interessant macht. Es sind die Qualitäten der Jugend: Frechheit, Energie, die Bereitschaft, ästhetische und kulturelle Hemmungen abzulegen. In diesem Sinne ist es noch nicht klar, wie jugendlich Shani tatsächlich ist.
Für diese jugendliche Energie stand Gustavo Dudamel zumindest zu Beginn seiner Karriere. Sein extrem voller Terminkalender hat Dudamels Ungestüm in den letzten Jahren etwas gedämpft. Beim New Yorker Philharmonic stellt sich jetzt die Frage, ob Dudamels energiegeladene Interpretationen in etwas Reiferes übergehen können, ohne an Intensität zu verlieren. So wollen die Musiker:innen des Orchesters wahrscheinlich nicht aufstehen und tanzen, während sie spielen (aus gutem Grund, denn sie sehen vielleicht ein bisschen unbeholfener aus als die Mitglieder des Simón Bolívar Symphony Orchestra). Auch im Standardrepertoire neigt Dudamel zum Abbrennen ästhetischer Feuerwerke, was auf Dauer anstrengend werden kann. Vor ein paar Jahren habe ich ihn in Berlin mit einem Programm mit Strawinskys Petruschka und Sacre du printemps gehört, Dudamel ging beide Stücke sehr laut und sehr schnell an. Nach dem Konzert fühlte ich mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen.
Die New York Times fragte schon: »Wird Dudamel New Yorks nächster Bernstein sein?« Zumindest politisch gesehen lautete die Antwort: nein. Bernstein hatte ein derart großes Herz, dass seine Sorge um die Not anderer ihn in einige peinliche Situationen brachte. Dudamel legt eher eine kalte Zurückhaltung an den Tag, die auf lange Sicht schädlicher sein kann. Zwischen 2014 und 2017 weigerte er sich, die politische Krise in Venezuela zu kommentieren, wahrscheinlich um die Finanzierung seiner Projekte durch den in Ungnade gefallenen Präsidenten Nicolás Maduro zu sichern. Im Mai 2017 veröffentlichte Dudamel schließlich einen Facebook-Post, in dem er den Staatschef kritisierte, nachdem ein junger Geiger von der venezolanischen Nationalgarde getötet worden war. Laut Geoff Baker, einem Experten für das venezolanische Musikausbildungsprogramm El Sistema, ist Dudamel seitdem »zu der Position zurückgekehrt, die er vor 2017 ein Jahrzehnt lang innehatte – er meidet politische Diskussionen«. Die Ernennung des Dirigenten zum Chefdirigenten des New York Philharmonic »bestätigt, dass sich die Welt der klassischen Musik wenig um Dudamels Nähe zu Autokraten kümmert oder die immer größer werdenden Lücken im El Sistema-Mythos, der das Fundament seiner Karriere bildet«, so Baker. »So viel zu zum Thema, dass die klassische Musik nach #MeToo und Black Lives Matter moralischer wird. Es ist Business as usual: nichts Böses sehen, nichts Böses hören.«
In Kalifornien wurden Dudamel und die ehemalige künstlerische Leiterin des Los Angeles Philharmonic und des New York Philharmonic, Deborah Borda, dafür gelobt, dass sie mehr zeitgenössische Musik in ihre Programme aufgenommen haben, als es bei großen amerikanischen Orchestern üblich ist. In diesem Bereich übertrifft Dudamels Ruf den von Lahav Shani. Mit einer Einschränkung: Musik von John Adams macht einen großen Teil von Dudamels zeitgenössischem Repertoire aus, und obwohl Adams zweifellos noch lebt, ist die Programmierung seiner Werke kein besonderes Wagnis. Adams ist eine so sichere Wahl, wie das in der zeitgenössischen Musik nur sein kann; wie George Grella 2018 in VAN schrieb: »Während die Musik, die er Anfang des 21. Jahrhunderts schrieb, reich und großzügig war, so wirken seine neueren Werke wie das Schreien eines alten Miesepeters, der nicht will, dass Kinder auf seinem Rasen spielen.« Adams’ Musik ist tonal, melodisch und gibt sich auf platte Weise politisch fortschrittlich. Außerdem wurde er über die Jahre versehen mit allen institutionellen Gütesiegeln, die es für klassische Komponist:innen überhaupt zu erringen gibt.
Thomas Adès und John Williams, deren Musik Dudamel vielgelobt eingespielt hat, sind auch nicht gerade experimentelle Newcomer. David Robertson, Ilan Volkov, Vladimir Jurowski, Susanna Mälkki und sogar Teodor Currentzis stehen demgegenüber für einen Schlag von Dirigent:innen, der das Risiko eingeht, dass das Publikum sich auch mal langweilt oder gar unzufrieden ist. So sollte es auch sein.
Bei Shani und Dudamel können sich Musiker:innen und Publikum wohlfühlen, ästhetisch herausgefordert werden sie wahrscheinlich selten. Zudem hätten sowohl die Münchner als auch die New Yorker die Chance gehabt, mit der Nominierung einer Chefdirigentin einen Wandel voranzutreiben. So bleibt uns nur die merkwürdige Fantasie einer Chefdirigentin im Film Tár, während in diesen großen Orchestern im echten Leben alles beim Alten bleibt. ¶