Als Jaap van Zweden in der David Geffen Hall auf das Podium tritt, ist die Energie, die der neue musikalische Leiter des New York Philharmonic ausstrahlt, förmlich greifbar. An einem Morgen im Dezember treffe ich ihn in seinem Büro. Er sitzt, wie immer in Schwarz gekleidet, hinter seinem Schreibtisch, wirkt freundlich und gleichzeitig so energetisch wie auf der Bühne. Er spricht offen über seine Erfahrungen, erklärt, warum er heute ist, wer er ist – als Mensch und als Musiker. Er scheint immer einen halben Schritt weiter in die Zukunft zu denken als viele anderen, und doch gelassen zu bleiben hinsichtlich der Ambitionen für sein Orchester und dessen Verortung in New York City.
VAN: Bei einer Pressekonferenz im Februar 2018 haben Sie von Ihren Erfahrungen als junger Musiker an der Juilliard School erzählt. Das ist mir in Erinnerung geblieben, weil Sie nicht über Musik gesprochen haben, sondern darüber, wie es für Sie war, alleine zurecht zu kommen, in East Harlem. Sie haben erzählt, dass niemand Sie kannte, bis Sie irgendwann ein Probespiel gewannen. Das klang, als hätten Sie genau dasselbe erlebt wie viele junge Musikerinnen und Musiker in New York: viel Arbeit, Einsamkeit und das Gefühl von Isolation.
Jaap van Zweden: Ich glaube, Musik isoliert einen immer, weil man immer allein mit ihr ist. Und um ehrlich zu sein finde ich das großartig: Ich merke dann, warum ich eigentlich hier bin. Um besser, besser und immer besser zu werden, um von allen zu lernen, auch von anderen Studierenden. Das ist kein Lari-Fari, es ist [seine Hand durchschneidet die Luft]. Das, sorry, ist das Ziel, das treibt dich an, das ist, warum du hier bist, es ist nicht besonders romantisch. Es geht nur darum.
Darum ging es mir auch, als ich von meiner Jugend hier erzähle. Nach anderthalb Jahren hat sich das für mich damals aber ein bisschen verändert. Irgendwann habe auch ich Freundinnen und Freunde gefunden, ich taute auf. Aber am Anfang war ich – ich würde jetzt nicht sagen: unfreundlich, aber es war schon sehr klar, warum ich hier war.
Sie haben auch erzählt, dass Sie im Central Park Fußball gespielt haben und dass das eine Art Community für Sie war. Das hat mich überrascht, weil es nicht unbedingt die Art von Community ist, die man als Juilliard-Student sucht.
Wir waren eine kleine Gruppe, amerikanische und europäische Studierende, die gerne Fußball gespielt haben. Und dann haben wir andere Leute im Park getroffen, die auch zum Spielen dort waren, und die dann jedes Wochenende dort gesehen.
Haben Sie übers Fußballspielen auch Menschen kennengelernt, die sich nicht den ganzen Tag mit Musik beschäftigen?
Ja. Und es hat mich mit dem Ort verbunden, aus dem ich komme: aus einem Teil von Amsterdam, in dem es nicht gerade üblich ist, klassische Musik zu hören. Aber auch das war ok so, es gehört eben zu mir: dass ich aus einer Gegend in Amsterdam komme, in der Sport schon immer ein kleines bisschen wichtiger gewesen ist als Musik, besonders klassische Musik [lacht].
Wie hat sich dieser Background auf Ihren Musikgeschmack ausgewirkt?
Man kann meine Jugend vielleicht aus dieser Eastside-Westside-Perspektive sehen. Ich war der Junge aus der Westside, der mit Fußballspielen auf der Straße aufgewachsen ist. Nur, dass dann mein Geigenspiel als etwas merkwürdiges Detail dazukam.
Jetzt merke ich aber auch, dass ich alle Teile der Stadt zu schätzen gelernt habe, und dass es egal ist, ob man aus einer reichen oder armen Familie kommt, denn wir sind alle Menschen. In meinem Fall ist die große Verbindung, dass sowohl Sport als auch Musik die Menschen auf einer sehr individuellen Ebene verbindet. Wenn Leute wirklich für die Musik brennen, dann ist es egal, woher sie kommen, es geht nur um die Verbindung zur Musik.
Da ist es auch nicht wichtig, um welche Art von Musik es geht, oder welche Art von Sport, würde ich sagen. Wir begreifen, dass wir allein geboren worden sind und allein sterben werden, und das war für mich eine heilsame Erkenntnis: gegeneinander zu arbeiten ist einfach nur Zeitverschwendung.
Ist das ein Kriterium bei Ihrer Musikauswahl – eine Verbindung zu schaffen?
Nein, ich muss nicht extra irgendwas machen, um diese Verbindung herzustellen – Musik ist die Verbindung.
In 2019 startet das New York Philharmonic eine Phil-the-Hall-Serie für Menschen, die gemeinnützige oder soziale Arbeit machen, mit Tickets für 5$. War das Ihre Idee?
Um ehrlich zu sein, ist es egal, wessen Idee das war. Wir sind ein Team und alle bringen Unglaubliches ein, deswegen würde ich sagen: Das war unsere Idee.
Alle versuchen ja die ganze Zeit, mit klassischer Musik ein neues Publikum zu erreichen, aber irgendwie klappt das nie. Es kommt mir immer wie eine Frage des Geldes vor, und ob man bereit ist, Geld dafür auszugeben oder eben nicht.
Ich sehe das nicht als Geldausgeben, sondern als eine Investition in Beziehungen. Ich glaube, dass wir versuchen sollten, zu allen hier in der Stadt eine tiefe Beziehung aufzubauen. Natürlich haben wir hier großartige Leute, die Dinge anstoßen, aber das wirklich Wichtige ist die Message und die Message ist, dass wir für die Menschen hier in New York da sind, wer auch immer sie sind, wo auch immer sie herkommen.
Was wird auf den Phil-the-Hall-Programmen stehen?
Wir arbeiten im Moment jeden Morgen daran, aber wir sind noch nicht fertig. Es wird auf jeden Fall Bernstein und Beethoven geben. Ich finde es sehr wichtig, dass wir Kompositionen spielen, die hier mit diesem Orchester ihre Premiere hatten oder zu denen das Orchester eine besondere, tiefe Beziehung hat.
Wir wollen auch, dass die Menschen Musik, die sie schon mal gehört haben, wiedererkennen und sie jetzt hier live erleben.
Denken Sie immer schon an das Publikum, wenn Sie ein Programm planen?
Wir haben das Publikum immer im Kopf, es liegt uns immer am Herzen. Ohne das Publikum gibt es uns nicht. Aber wenn man andere Menschen erreichen will als die, die uns sowieso kennen, muss man andere Musik aufs Programm bringen und besonders in den Phil-the-Hall-Konzerten auch eine Art Blueprint dieses Orchesters und seiner Geschichte kommunizieren.

Wie gehen Sie mit zeitgenössischer Musik um? Es heißt ja oft, die wäre schwierig, abschreckend.
Vielleicht sollten wir aufhören, über diese oder jene Epoche zu reden. Musik ist Musik. Das sieht man an der Neuen Musik, die wir bei der Saisoneröffnung gespielt haben [die Weltpremiere von Ashley Fures Filament]. Und es gab einen kuriosen Moment, als Conrad Taos Everything Must Go nahtlos in Bruckners Achte Sinfonie überging. Viele Leute sagten: ›Ich wusste gar nicht, wann der Bruckner anfing und das andere Stück aufhörte.‹ Und das ist vielleicht das beste Beispiel für die Erwartungen, die das Publikum hat. Und wenn wir feststellen, dass die Leute, die zu uns kommen, einen breiteren Horizont als nur Beethoven haben, dann ist das wundervoll.
Natürlich ist es unsere Pflicht, Leute anzufragen, die wirklich Talent haben. Aber ein neues Stück ist eben ein neues Stück, und das Risiko, dass es jemandem nicht gefällt, besteht immer. Andere werden es dafür lieben. Aber das größte Risiko für uns ist kein Risiko einzugehen. Denn dann wären wir quasi tot.
Gibt es ein bestimmtes Limit, von dem Sie sagen würden: ›So weit können wir gehen, ab hier wird es zu experimentell‹?
Nein. Musik hat für mich keine Grenzen. Denken Sie mal an Sacre du printemps. Bei der Premiere hat der halbe Saal gebuht und geschrien, es war ein Skandal – und heute ist es eins der renommiertesten Werke der Klassik-Welt [ganz genauso ist es wahrscheinlich nicht passiert, d. Red.].
Sollten in klassischen Konzerten mehr gebuht werden? Brauchen wir mehr Skandale?
Nein. Letztes Jahr habe ich ein Stück von John Luther Adams dirigiert, Dark Waves. Einige Leute haben gebuht und das war absolut ok für mich. Leute müssen auch mal sagen dürfen, dass sie mit etwas nicht zufrieden sind. Deswegen wandere ich ja nicht ins Gefängnis oder werde sonstwie in irgendwas eingeschränkt.
An Ihrer Wand hängen Bilder von Bernstein und Mahler. Seitdem Bernstein hier so erfolgreich war, hat sich viel geändert in Bezug auf die Orchesterleitung. Denken Sie über sowas nach?
Vielleicht. Als Bernstein die West Side Story schrieb, hat die Klassikwelt auf das Stück herabgeschaut. Und jetzt schauen Sie mal, wo wir heute stehen [lacht]. Ich glaube, wir haben unsere Lektion gelernt, wenn ich das so sagen darf. Wir begegnen auch anderen Arten von Musik mit tiefstem Respekt. Ich verstehe mich selbst als einen Botschafter für andere Musik, die ich mitbringen will, damit andere sie genießen können.
Gehen Sie manchmal hier in New York aus, um neue Musik kennenzulernen?
Oh ja, vor zwei Tagen hatte ich einen freien Abend und habe mir das Musical Donna Summer angehört. Ich war auch bei Chick Corea, der im Blue Note gespielt hat. Es war fantastisch. Wenn ich frei habe, höre ich mir immer andere Sachen an.
Manchmal wünschte ich, ich hätte noch mehr Zeit dafür, aber es ist schon ok so. Ich kenne mich immer noch aus, ich weiß, was abgeht. Das ist sehr wichtig, sehr inspirierend. Ich bewundere auch Bruno Mars. Was für ein Talent! ¶