Hannovers Ballettdirektor Marco Goecke hat vergangenen Samstag in einer Premierenpause der Tanzkritikerin Wiebke Hüster Hundescheiße ins Gesicht geschmiert. Eine Gewalttat dieser Art vonseiten eines hochdekorierten Kulturschaffenden gegen ein:e Kritiker:in hat es in der Tanzgeschichte noch nicht gegeben, internationale Medien berichten mittlerweile darüber. Die Attacke an sich macht sprachlos, mindestens irritierend ist allerdings auch der weitere Umgang mit ihr.

Zunächst ist da das relativierende Statement der Staatsoper von Sonntag, in dem es noch hieß, es habe einen »Vorfall« zwischen Goecke und Hüster gegeben, bei dem Hüster »in ihrer persönlichen Integrität verletzt« worden sei. Weiterhin bedauere man, dass das »Publikum durch diesen Vorfall gestört« wurde, und wollte sich in dieser »internen Personalsache« bezüglich der nächsten Schritte erst einmal in aller Ruhe beraten. Erst am Montag entschied die Intendanz, Goecke zu suspendieren und ihm ein Hausverbot zu erteilen.

Goecke steht mit seiner Aktion in einer langen Tradition von Männern, die Frauen mittels demütigender Gesten den Mund verbieten wollen. Im Alltäglichen beginnt das bei verbalen Angriffen etwa auf Greta Thunberg oder rassistischen und sexistischen Kommentaren unter Posts von Aktivistinnen wie Melina Borczak, mit dem Ziel, sie zu entmutigen und zum Schweigen zu bringen. Auch Angela Merkel erfuhr im Verlauf ihrer politischen Karriere vielfache Demütigungen von ihren Kollegen. Es geht weiter mit der physischen und psychischen Bedrohung etwa von Autorinnen wie Jasmina Kuhnke, die deshalb den Wohnort wechseln musste, und endet bei sexueller Belästigung, Säureangriffen und Femiziden. Die Praxis, dass Frauen, die laut ihre Meinung äußern, dafür von Männern bestraft werden, ist so alt wie das Patriarchat selbst.

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Auch Marco Goecke wollte ganz offenbar nicht das Gespräch und den inhaltlichen Austausch suchen, sondern stattdessen seiner Kritikerin gegenüber Macht demonstrieren. Das probierte er unter anderem, indem er sich körperlich vor ihr aufbaute, ihr drohte, und sie, ohne sie persönlich zu kennen, duzte. All das sind Klassiker im Vokabular derer, die sich gegenüber einer anderen Person als überlegen markieren wollen. Der letzte Schritt – ihr Tierscheiße ins Gesicht zu schmieren – ist jedoch wohl eine der verletzendsten Gesten, die man sich vorstellen kann. Goeckes Attacke ist darum nicht »peinlich«, wie Axel Brüggemann zuletzt in seinem Newsletter schrieb – Goecke hat schließlich kein Plakat beschmiert, sondern einen Menschen brutal angegriffen. Eine solche Aktion peinlich zu nennen, schmälert die Gewalttätigkeit und Menschenverachtung, die hinter ihr stehen.

Wiebke Hüster selbst, das berichtet sie im Interview mit dem NDR, sei während des Gesprächs ruhig geblieben. Als Goecke sich ihr in den Weg gestellt habe, habe sie gedacht: »›Er ist bestimmt verärgert, er hat das Recht auf ein Gespräch mit mir.‹ Also stand ich da ganz ruhig und gelassen, weil ich keine Schuldgefühle hatte. Das ist zwar ein klarer Verriss, aber es ist weder ad personam geschrieben, noch ist es unfair, noch ist es übertrieben, ironisch oder zynisch. Das ist alles gar nicht meine Art.«

Der Angriff hat offenbar, wie es später auch die FAZ berichtete, im vollen Foyer stattgefunden. Während Hüster »in Schockstarre, in Panik« auf der Treppe stand, und, nachdem sie realisierte, was passiert sei, auch anfing zu schreien, sei niemand eingeschritten, so berichtet sie beim NDR. Goecke konnte sich nach seinem Überfall ungestört entfernen. Er ging sogar zurück in die Vorstellung und ließ sich nach deren Ende auf der Bühne feiern, als sei nichts passiert. Es heißt, er habe Kusshände ins Publikum geworfen. In den Tagen nach dem Angriff äußerten sich etliche, auch Prominente, zu dem Vorfall, und nicht selten verharmlosten auch sie ihn: 

Marco Goeckes eigenes Statement, das er am Montag im NDR Fernsehen gab, zeugt nicht von Einsicht oder Reue: zunächst kein Wort der Entschuldigung. Stattdessen stilisierte er sich selbst als Opfer einer »Vernichtungskritik«, die er sich nicht länger habe gefallen lassen wollen – ein klassische Täter-Opfer-Umkehr: Wiebke Hüster habe ja angefangen. Er sagt wörtlich: »Das Symbol ist, dass sie mich ja auch jahrelang mit Scheiße beworfen hat.« Das, was er da als »Scheiße« empfunden hat, ist aber schlicht Teil des Berufs, dem Hüster seit Jahrzehnten gewissenhaft nachgeht. »Dieser Art der Legendenbildung möchte ich aufs Entschiedenste entgegentreten«, sagt Hüster im NDR-Interview. Man könne nicht sagen, dass sie »ihn in einem Zeitraum von 17 Jahren mit negativen Berichterstattungen verfolgen würde«. Die Kritikerin betont, dass sie Choreographien Goeckes durchaus auch überschwänglich gelobt habe. Gerade in diesem Gespräch scheint der Kollege vom NDR Goecke mit seinem Vorwurf gegenüber Hüster jedoch auf den Leim zu gehen, fragt er sie doch, ob sie sich »selbstkritisch gefragt« habe, ob sie einen Fehler gemacht habe. Natürlich hat sie das nicht.

Am Dienstag ruderte Goecke etwas zurück und bat – ganz allgemein und nicht an Wiebke Hüster direkt gerichtet – »um Verzeihung dafür«, dass ihm »letztlich der Kragen geplatzt ist« (eine eindeutige Verharmlosung seines Angriffs), forderte aber gleichzeitig Verständnis ein »zumindest für die Gründe, aus denen dies geschehen ist«. Und: dass sich die Kulturkritik wandeln und »eine gewisse Form der destruktiven, verletzenden und den gesamten Kulturbetrieb schädigenden Berichterstattung« überdenken solle. Diese Beschreibung hat mit Wiebke Hüsters Arbeit nichts gemein. Man fragt sich: Was erwartet Goecke, was erwartet ein Theaterbetrieb denn von Kritik? Eine ernsthafte Auseinandersetzung, die genauso lobend wie auch deutlich und negativ sein darf, scheint es nicht zu sein. Vielmehr denkt Goecke scheinbar wie viele andere Künstler:innen auch, Kritiker:innen seien vor allem dazu da, Künstler:innen anzuhimmeln. Dabei ist Kritik gerade wichtig, so Jeffrey Arlo Brown in VAN, weil sie sich nicht für Künstler:innen, sondern für die Kunst einsetzt. Demnach erklärt auch Wiebke Hüster: »Meine Berufung entsteht aus meiner Begeisterung für den Tanz«, sagt sie. »Ich begreife mich als eine Anwältin dieser Kunstform.« Hüster beteuert außerdem, dass Goecke es nicht geschafft hat, sie vom Schreiben derartiger Kritiken abzubringen: »Es wird mein Gefühl bei meiner Berufsausübung nicht trüben können.«

Freilich ist Marco Goecke nicht der erste Künstler, der nicht mit Kritik umgehen kann, und er ist auch nicht der erste, der seine Aggressionen gegenüber eine:r Kritiker:in nicht unter Kontrolle hat. Im Tagesspiegel schreibt beispielsweise Rüdiger Schaper, dass ihm mal ein »wütender Schauspieler […]ein Glas Wein über den Kopf« geschüttet hätte. Peter Handke haute dem Literaturredakteur Hochen Hieber einst eine runter, der Schauspieler Thomas Lawinky riss dem Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier den Notizblock aus der Hand. Selbst in dieser Gesellschaft steht die Widerwärtigkeit von Goeckes Angriff jedoch für sich.

Der Hannoversche Theaterbetrieb muss sich nun an die eigene Nase fassen: Dass der Angriff für Goeckes Mitarbeiter:innen aus heiterem Himmel kam, ist schwer vorstellbar. Derart selbstgerechte und gewaltbereite Menschen wie Goecke sollten keine Leitungspositionen innehaben – und das muss auch der Betrieb verstehen. ¶

Hannah Schmidt

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.