Man braucht weder Kommunist noch Ostalgiker zu sein, damit einem Hanns Eislers spätes Lied mit dem wenig einladenden Titel XX. Parteitag ans Herz greifen kann – wetten? Unter allen berühmten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts ist dieser Eisler vielleicht der vielseitigste, oder der widersprüchlichste: herausragender Schüler von Arnold Schönberg und später vielgeehrter Tonsetzer der DDR-Nationalhymne, zorniger Verfasser aufpeitschender Arbeitermärsche und wandlungsfähiger Filmmusiker, der feinsinnige Klänge zum experimentellen Stummfilm-Gedicht schuf und ebenso den passenden Sound zur Hollywood-Schmonzette.

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Trotz dieser Vielseitigkeit und seines berühmten Namens dürfte Hanns Eisler (1898–1962) heute einer der überhörtesten Komponisten sein. In Konzertprogrammen taucht er kaum auf, und ein ansonsten vorzügliches Musiknachschlagewerk wie der verbreitete Rowohlt-Konzertführer widmet seinem Schaffen kaum mehr als ein paar merklich verlegene Sätze.

Viele dieser Widersprüche lassen sich jedoch begreifen, wenn man sich Eislers Leben und Denken genauer ansieht. Und sie lösen sich in Staunen auf, wenn man das Beste von Eislers Musik hört: zuallererst seine Lieder. Zahllos sind sie, viele hinreißend, pendelnd im weiten Gesangsland zwischen Franz Schubert und sarkastischem Cabaret.

Hanns Eisler Brille putzend, um 1958, Berlin • Foto © Akademie der Künste, Berlin (CC BY-NC-ND 4.0)

Wo anderen das Kreuz brach

Vielleicht war dieser Hanns Eisler ja einfach noch einer jener mythischen »Kugelmenschen«, wie Platon sie in seinem »Symposion« beschreibt: die vollständigen Wesen der Vorzeit, die von den bedrohten Göttern in zwei Hälften zerschnitten wurden, so dass das Halbwesen Mensch seither seine andere Hälfte sehnsüchtig begehrt und sucht. Diese Unzerschnittenheit würde nicht nur Eislers Reichtum an inneren Gegensätzen erklären, sondern auch die auffällige Abwesenheit des Erotischen in seinen Liedern (oder auch in der sexuell gleichgültigen Hauptfigur seiner gescheiterten Faust-Oper, ganz im Gegensatz zu Goethes lüsterlichem Heißbegehrer). Auch Wolf Biermann hatte 1965 nicht nur Äußerlichkeiten im Sinn, als er sein Gedicht über Hanns Eisler »Die Anatomie der Kugel« nannte: »Da wo den andern so leicht das Kreuz brach, / Wölbet sich mächtig sein fröhlicher Bauch.«

Hanns Eisler lachend, Hand vorm Mund, 1950er Jahre, Berlin • Foto © Akademie der Künste, Berlin (CC BY-NC-ND 4.0)

Die schönste Beschreibung des Eislerschen Erscheinungsbildes aber stammt wohl von dem ukrainisch-jüdischen Dirigenten Jascha Horenstein, einem lebenslangen Freund: »Der Gesamteindruck war, dass sein Anzug ihm gleichzeitig zu eng und zu weit war. Als ob das nicht genug wäre, hatte der Dreizehnjährige schon eine Glatze wie ein Vierzigjähriger. Wenn man sich vorstellt, dass auf einem eher kurzgebauten Körper ein großer Kopf saß, mit einem heiteren, vollmondförmigen, immer hämisch schmunzelnden Gesicht, und dass dieser Kopf bei jeder brüsken Wendung eine Glatze enthüllte, dann wird man verstehen, warum ich nach mehr als fünfzig Jahren diesen ersten Eindruck, den ich von Hanns empfangen habe, nicht vergessen kann.«

Hanns Eisler als Einjährigfreiweilliger des österreichisch-ungarischen Heeres, 1917 • Foto im Besitz der Familie Eisler, Wien (Public Domain)

Diese Heiterkeit und schmunzelnde Häme half Eisler, selbst unter bedrückenden Umständen nicht zu zerbrechen. Im Exil etwa, das er seit 1938 lieber in den ihn befremdenden USA als in der Sowjetunion verbrachte, die ihm doch ideologisch viel nähergestanden wäre. Darin war er seinem engen Weggefährten Bert Brecht ganz ähnlich, aber viel anpassungsfähiger als dieser. Was nicht mit rückgratloser Geschmeidigkeit zu verwechseln ist. Eisler parlierte in seinem mehr als holprigen Englisch einfach ungehemmter, jovialer, gewitzter als der unter der Sprachbarriere leidende Kollege Schriftsteller. Brechts selbstquälerische Hollywood-Elegien aber vertonte Eisler, etwa das berühmte Gedicht:

Jeden Morgen mein Brot zu verdienen
gehe ich auf den Markt,
wo Lügen gekauft werden.
Hoffnungsvoll
Reihe ich mich ein unter die Verkäufer.

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Hineingezogen und ausgespien

Eisler begann mit der Komposition seines Hollywooder Liederbuchs, nachdem er sich 1942 aus materieller Not von New York in die Umlaufbahn der Traumfabrik begeben hatte und in einem billigen Hotel auf seine Chancen hoffte, gelangweilt und leidend unter der Hitze. Von einem bizarren Reiz ist die Vorstellung, dass Eisler unter derartigen Umständen nicht nur 28 Texte des geliebten Brecht vertonen sollte, sondern auch Verse des griechischen Lyrikers Anakreon, dessen Wirkungsgeschichte man gemeinhin eher in den Idyllen des Rokoko verortet.

Und Brecht selbst war zunächst überaus befremdet davon, dass Eisler neben echten BB-Texten wie dem hintersinnigen Gleichnis Vom Sprengen des Gartens auch immer wieder zu Oden des deutschen Pathospriesters Friedrich Hölderlin griff. Selbst dessen Gesang des Deutschen vertonte Eisler – aber gefiltert, offen durchdacht und ohne Scheu gekürzt, unter dem Titel Erinnerung. Insgesamt sechs Hölderlin-Songs finden sich in Eislers Hollywooder Liederbuch, dessen über 50 Stücke keinen geschlossenen Zyklus bilden, sondern eher ein musikalisches Tagebuch, aus dessen Schätzen ein Sänger frei wählen kann.

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Kaum ein Sänger wird dabei ein erschütterndes Lied wie Über den Selbstmord auslassen, das die Musikwissenschaftlerin Friedrike Wißmann in ihrem lesenswerten Eisler-Buch eine Mischung aus Schuberts Winterreise und »fahlem Blues an der Hotelbar« nennt. Als bemerkenswerteste Eigenheit der Hollywood-Lieder arbeitete bereits der noch mit Brecht und Eisler persönlich bekannte Musikologe Fritz Hennenberg die oft irritierenden, abrupten Schlüsse heraus: abgerissen, unaufgelöst – ungewiss. Oder wie Wißmann schreibt: »In Eislers Lieder werden wir zwar hineingezogen, aber spätestens am Ende mitsamt etwaiger Gefühlsduselei wieder ausgespien.«

Zwar schrieb Eisler an seine vorerst in New York verbliebene zweite Frau Lou über Hollywood: »Hier gibt es zwei Typen. Die einen sind korrumpiert (…). Die anderen sind deprimiert, weil niemand sie korrumpieren will.« Trotzdem fand er seinen Weg. In New York hatte er noch eine äußerst subtile Kammermusik zu Joris Ivens’ betörendem experimentellen Stummfilm Regen von 1929 geschrieben, eine von Eislers schönsten Instrumentalmusiken überhaupt: Als Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben wird sie viel zu selten im Konzert gespielt. Diese Musik ist reine l’art pour l’art, etwas, das Eisler früher wütend abgelehnt hatte. In einem Land aber, wo allgegenwärtige aktivierende Musik nicht zur proletarischen Revolution, sondern »zum Kauf von Coca-Cola animieren« sollte, erschien Eisler solche musikalische Zweckfreiheit auf einmal als Akt wenn nicht des Widerstands, so doch der Nichtanpassung.

In Hollywood zeigte Eisler sich aber auch anpassungsfähig und schuf den passenden Soundtrack zu Filmen von Jean Renoirs The Woman on the Beach bis zum Piratenstreifen The Spanish Main (Die Seeteufel von Cartagena). Und der gequälte Brecht mag von diesem eislerschen leichten Gelingen ebenso befremdet gewesen sein wie vom Hölderlin-Faible. Wobei nicht verschwiegen werden darf, dass es auch zu einer gemeinsamen Hollywood-Arbeit von Brecht und Eisler kam, nämlich in Fritz Langs Anti-Nazi-Film Hangmen Also Die.

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Frühe Wiener Widersprüche

Aber zum Befremden hatte Hanns Eisler ein Talent. Schon sein Lehrer Arnold Schönberg, in dessen Wiener Kontrapunktklasse Eisler 1919 eintrat, war einige Jahre später verärgert über die politischen Massen-Allüren des hochbegabten Schülers und sinnierte in einem Brief darüber, Eisler »übers Knie zu legen«, um ihm den Sozialismus auszutreiben.

Doch anders als der Meister und seine anderen Zwölfton-Einserschüler Alban Berg und Anton Webern wollte Eisler sich damals nicht mit der strengen Trennung von hehrer Kunstsphäre und schnöder Welt abfinden. Revolution nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Politik! »Breiiges Kleinbürgertum« und »mondänen Nihilismus« warf Eisler 1928 in der kommunistischen Parteizeitung »Rote Fahne« der »modernen Musik« vor, aus der er selbst kam. Und über zeitgenössische Musikfestivals ätzte er (mancher Skeptiker mag da Parallelen zur Gegenwart ziehen): »Bei völliger Interesse- und Teilnahmslosigkeit irgendeines Publikums feiert eine leerlaufende Betriebsamkeit Orgien der Inzucht.«

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Da ist es wieder, das Kugelwesen, das die krassen Widersprüche unter seinem runden Bauch vereint und sich auch durch die schönbergsche Androhung von Keile nicht zerbrechen lässt. Gegensätze standen schon am Ursprung von Eislers Leben: Geboren wurde er 1898 als Kind eines Wiener Philosophen und einer Leipziger Metzgerstochter, beide Eltern jüdisch (der Sohn hielt die Mutter für die größte, aber tragisch unausgelebte Begabung in seiner Familie).

Johannes hieß er da noch, ein Name wie ein langer Strich, den er schon früh zu Hanns verkugelte. Was auch im proletarischen Kampf viel besser klang, den der doch eigentlich hoffnungslos überqualifizierte Dodekaphonist Eisler wirkungsvoll aufnahm. Wenige Jahre, nachdem seine auch heute noch faszinierende erste Klaviersonate Schönbergs großes Wohlwollen fand, fabrizierte der aufmüpfige Schüler packende Arbeiterchöre und kommunistische Kampflieder, etwa Roter Wedding oder das berühmte Solidaritätslied. Der kommunistische Sänger Ernst Busch war neben Brecht Eislers wichtigster Partner. Hört man diese schmetternde Musik heute, staunt man nicht nur über die naturgemäß mitreißende Wirkung, sondern auch über originelle Synkopik und borstige Taktwechsel.

Hanns Eisler bei Rundfunkaufnahmen, nach 1950, Berlin • Foto © Akademie der Künste, Berlin

Späte Ost-Berliner Resignation

1948, zu Beginn der hysterisch antikommunistischen McCarthy-Ära, wurden Hanns Eisler und seine Frau Lou aus den USA ausgewiesen und kehrten nach Wien zurück. Doch Eisler gelang es nicht, Fuß zu fassen, auch die Ehe kriselte, und so zog er nach Ost-Berlin, das bald darauf zur Hauptstadt der DDR wurde. Mit seiner dritten Frau Stephanie fand er dort später privates Glück. Doch das öffentliche Glück war in Wahrheit trübe, selbst wenn Eisler hohe Preise erhielt und zu Johannes R. Bechers Text Auferstanden aus Ruinen die Nationalhymne der DDR schrieb. Denn für den als spätbürgerlich verrufenen »elitären« Schönberg-Avantgardismus vieler Eisler-Werke war in der DDR kein Platz (während im Westen, wo dafür Platz gewesen wäre, sein Ruf als angebliche kommunistische Parteischranze ruiniert war).

Auch Eislers ambitioniertes Projekt einer großen Faust-Oper wurde als viel zu pessimistisch in der sozialistischen Luft zerrissen, es sollte niemals entstehen. Dafür wurde 1959 ein anderes Großwerk uraufgeführt: die Deutsche Sinfonie, eine Monumentalkantate, die mit ihren riesigen Dimensionen in Eislers Werk singulär dasteht. Geschrieben hatte Eisler sie in der Hauptsache bereits ab 1935, Konzentrationslager-Sinfonie hatte sie zunächst heißen sollen. Die zeitliche Entstehung erklärt zum Teil, warum der Fokus auf den eingesperrten und ermordeten Widerstandskämpfern liegt, während die Judenverfolgung in Brechts Texten gar nicht vorkommt. (In einem erschütternden Klassiker der Filmgeschichte von 1956, für den Eisler ebenfalls die Musik komponierte, ging es hingegen um die Shoah, aber bis auf eine Ausnahme ohne ausdrücklich die Juden als Hauptopfergruppe zu erwähnen: Alain Resnais’ epochale KZ-Dokumentation Nuit et brouillard, zu deutsch Nacht und Nebel.) So erklärbar der Zeitdokument-Charakter der Deutschen Sinfonie ist, musste sie schon 1959 etwas unbefriedigend und problematisch wirken. Heute tut sie das erst recht, zumal verglichen mit einigen in zeitlicher Nachbarschaft um 1960 entstandenen späten Schostakowitsch-Sinfonien, in denen die Shoah eine wichtige Rolle spielt.

Ein letzter Widerspruch

Trotz der Groß-Premiere und der offiziellen Ehrungen scheint Eislers späte DDR-Existenz auch eine Zeit der Einsamkeit und wohl auch zunehmender Ratlosigkeit gewesen zu sein. Eislers Schweigen oder gar Zustimmung zu den Staatsverbrechen des 17. Juni 1953 und des Mauerbaus 1961 wirkt auf den heutigen Betrachter befremdlich, ja bedrückend. Umso offener aber kann uns Eislers Spätwerk treffen, das eine ganz eigen temperierte Form tiefer Trauer auszeichnet: resignierend und zugleich heiter, sogar optimistisch – ein letzter, vielleicht nicht zu überlebender Widerspruch.

Die im Todesjahr 1962 fertiggestellten »Ernsten Gesänge« sind vielleicht Eislers ergreifendste Komposition überhaupt. Man solle diese traurigen Stücke nicht durch traurigen Gesang ersticken, bat Eisler, sondern müsse sie singen, »als wenn Sie’s aus dem Baedeker vorlesen«. Vier der acht kurzen Lieder haben wiederum Texte von Hölderlin zur Grundlage. (Darin liegt übrigens eine bemerkenswerte Verwandtschaft zur zeitgenössischen Musik im Westen, deren jüngeren Vertretern um 1960, etwa Boulez und Stockhausen, Eisler so ignorant begegnete wie diese ihm: Auch für Luigi Nono oder Bruno Maderna und später Holliger, Kurtág oder Zender wurde ausgerechnet Hölderlin überaus wichtig.)

In dem beklemmenden Lied XX. Parteitag, das sich auf Chruschtschows geheime Ansprache zur Entstalinisierung von 1956 bezieht, ist die Rede von einem »kaum erträumten Glück: Leben, ohne Angst zu haben«. In diesen wenigen Worten meint man, ein ganzes schreckliches Jahrhundert zu hören und zugleich das Resümee eines zerrissenen, vielleicht sogar gescheiterten Jahrhundertlebens – des Lebens von Hanns Eisler.

Im Epilog der Ernsten Gesänge aber heißt es in Worten von Stephan Hermlin, und darin liegt in der Musik spürbare Todesnähe wie trotzige Hoffnung: »Was auch ohne ihn blüht, preist er, künftigen Glückes gewiss.« Dreimal wird im Lied das letzte Wort »gewiss« wiederholt. Man könnte an das finale »ewig« in Gustav Mahlers Lied von der Erde denken. Aber man kann kaum umhin, hinter dem allerletzten »gewiss« ein Fragezeichen zu hören. Todtraurig, doch keinesfalls sentimental. ¶

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Dieser Text erschien zuerst im Magazin der Elbphilharmonie (03/2021).

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com