Eine befreundete Musikerin hat mal gesagt: So wie Klassik eine Nische im Musikbetrieb ist, ist Barock eine Nische im Klassikbetrieb. Barockkonzert, du hast ein Imageproblem, könnte man sagen. Dass Perücke und Korsett inzwischen zuhause bleiben, hat sich vielleicht herumgesprochen, aber trotzdem giltst du als steif, elitär und barrierereich. Stimmt gar nicht!, denke ich, während ich mich mit dem dritten Gong in meinen Sessel fallen lasse: Neben mir sitzt ein Haufen junger Leute, hippes Aussehen, gefärbte Haare. Im letzten Moment hatte ich mich entschlossen, zum finalen Konzert des »Barock-Festival 2022« in die Philharmonie zu fahren, Bachs Goldberg-Variationen auf dem Cembalo, interpretiert von Jean Rondeau. Noch beim Absteigen vom Fahrrad kaufe ich vom notorischen Schwarzticketverkäufer ein Billett für 20€ (»eigentlich 28!«), rase durchs Foyer, gelenkt von den Handzeichen des Abenddienstes. Ich schlüpfe in den Saal, volles Haus; so randständig ist Barock eben gar nicht, los geht’s! Sagt auch der Mann, der im Anzug auf der Bühne erscheint und uns alle herzlich zum großen ChoralSpace Chorfestival begrüßt … Moment. Meine Blicke tasten die Bühne ab, warte, da steht ja gar kein Cembalo. Ist das hier das Barockkonzert? Frage ich meinen Nachbarn mit den bunten Haaren. »Nö«, ach so äh Tschüß.

Ich renne also zurück ins Foyer, rufe: »Kammermusiksaal!« und wieder weist man mir den Weg. An der Ticketschranke wedle ich mit meinem A4-Zettel und sage, dass ich das falsche Ticket habe, aber jetzt im Kammermusiksaal sein muss. Runzelnde Blicke. »Ja, aber sie wollen ja zum Chorkonzert.« Neinneinnein, ich will zum Cembalo. »Dann haben Sie das falsche Ticket.« Verzweifelt wende ich mich an die nächste Person und erzähle irgendwas davon, dass ein Irrtum vorliegt. Nach viel Hin und Her und dem Engagement eines jungen Abenddienstlers [danke!] werde ich mit einer Handvoll weiterer Besucher:innen in einen Fahrstuhl gesteckt, natürlich nicht ohne vorher ein neues Ticket zu bezahlen. Und ab geht’s. »Ehrenloge«, sagt die Frau im Fahrstuhl, das seien »die einzigen Plätze mit Teppichboden«. Ob ich da meine Schuhe ausziehen soll, frage ich, woraufhin sie nur die Augen zusammenkneift und raunt, es seien »sehr gute Plätze«.

Das Schwarzmarkt-Ticket, schwarze Eddingnotizen auf der Rückseite

Ich gehe die Stufen in die Ehrenloge hinauf, und Jean Rondeau spielt schon. Die Arie. Sie ist der erste Teil der Goldberg-Variationen, und sie ist das, was danach 30 mal variiert wird. Die Töne sind mir vertraut. Diese Stücke, BWV 988, waren einmal wichtiger Teil meines Lebens. Damals, 16 Jahre, Kleinstadt, zu wenig Freunde, ich spiele vor allem Computer. Zum Geburtstag bekomme ich eine Doppel-CD, Goldberg-Variation, zwei Einspielungen von einem Typen namens Glenn Gould. Ich höre das beim Zocken auf meinem alten CD-Player rauf und runter (Repeat all!). Irgendwann finde ich es nice, und irgendwann denke ich: Na ja, zumindest diese Arie kann man ja vielleicht irgendwie auf dem Klavier greifen. Ich nehme Unterricht beim örtlichen Organisten, und ein Stück weit ist das meine Rettung vor der völligen Verblödung durch den PC. Tatsächlich kann ich nach ein paar Wochen die Arie spielen, dann die 15. Variation, die 18., die 1., 2., und vielleicht noch zwei, drei mehr. Mein Lehrer erzählt mir von Stimmführung; Glenn Gould erzählt auf der Interview-CD von den Geschwindigkeiten, in denen er die Variationen spielt, dass nämlich jedes Stück eine gewisse Dichte habe, der man entweder Zeit geben oder die man raffen kann. Spannend. Toll. Jetzt, 14 Jahre später, steige ich die Stufen der Ehrenloge hinauf und höre die Musik.

Alle lauschen andächtig, ich auch. Von den Ehrenplätzen aus sieht man genau, was der Cembalist mit seinen Händen tut. Der Klang – nun ja, etwas leise. Vermutlich ist der Kammermusiksaal etwas zu groß, ich zu weit weg vom Instrument. Jetzt gleich, nach der Arie, wird sich entscheiden, wohin die Reise geht. Mittlerweile weiß ich: Die Aufnahmen, die ich damals in meiner Jugend geschenkt bekam, sind eine Art Meilenstein. Man muss sie nicht gut finden, aber ein:e Interpret:in muss sich zu ihnen verhalten. Die Virtuosität Goulds steht außer Zweifel, aber kontrovers sind seine teils irrwitzigen Tempi, und seine präzise Auffassung aller Notenlängen. Wie ein Uhrwerk, oder ein Sequencer in der elektronischen Musik. Er hebt die einzelnen Stimmen in Bachs Musik hervor, malt sie aus. Rondeau wählt einen anderen Weg. Er spielt lyrischer, hält sich nicht streng an das Tempo, beschleunigt, retardiert, schafft immer wieder Plateaus für einzelne Motive. Vielleicht hat er auch keine andere Wahl? Schließlich spielt er Cembalo und nicht Klavier.

Anders als beim Klavier werden die Saiten am Cembalo nicht geschlagen, sondern gezupft. Wie bei der Gitarre. Anders als bei der Gitarre kann man aber die Intensität des Zupfens nicht regulieren: Egal wie sachte oder hart ich in die Taste greife, das Cembalo zupft immer gleich. Es hat eine konstante »Velocity«, wie man in der elektronischen Musik sagen würde – die Anschlagshärte ist nicht variabel.

Plugin zur Steuerung der Velocity in der Software ›Bitwig‹

Velocity ist in der elektronischen Musik ziemlich wichtig, um Klänge dynamisch wirken zu lassen. Tatsächlich ist das ein gewisses Manko des Cembalos: Es ist immer gleich laut. In unserer heutigen, dynamischen Epoche spielt es vielleicht deswegen nur selten eine Rolle. Seinen populärsten Auftritt hat es vielleicht in Eminems Klassikern Real Slim Shady und Without me, ist da aber digital erzeugt.

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Ein bisschen variieren kann das Cembalo aber schon. Das Instrument, auf dem Jean Rondeau in der Philharmonie spielt, ist 2018 hergestellt in Prag von Jukka Ollikka. Es hat drei Register – zwei mal 8‘ (»normale« Tonlage) und ein mal 4‘ (Ein bisschen variieren kann das Cembalo aber schon. Mit einem Tastendruck kann man also entweder nur eine Saite zupfen, oder man schaltet eine zweite Saite hinzu (gleiche Tonhöhe, etwas anders im Timbre), oder noch eine dritte Saite, 12 Halbtöne darüber. Das Ganze geht on the fly, während des Konzerts. Bis zu drei Saiten schwingen also pro Taste; drei Oszillatoren (»Schwinger«) würde man sagen, wäre es ein Synthesizer. Tasten insgesamt: 122, verteilt auf zwei Manuale, oben 61 und unten 61. Schalte ich alle drei Oszillatoren auf eine Taste, »verschmelzen« oberes und unteres Manual: Die entsprechende Taste des anderen Manuals drückt sich automatisch mit (wie bei einer Pianola, Achtung, Gruselfaktor!). Es gibt dann nicht mehr 122 verschiedene Töne, sondern nur noch 61 – eine 61-stimmige, polyphone Klangsynthese. Schaltet man die zwei 8‘-Register auf das untere, das 4‘-Register auf das obere Manual, hat man wieder 122 unabhängig spielbare »Voices« mit je zwei (unten) respektive einem (oben) Oszillator.

Die Begriffe der elektronischen Musik helfen nicht nur, dieses historische Instrument zu verstehen. Auch innerhalb der Musik stechen Gemeinsamkeiten ins Auge, während die Aufführungspraxen (Stand 2022) sich stark unterscheiden. Ein exemplarischer Vergleich.

Musikalische Struktur I: Taktzahlen

In Techno wie Barockmusik orientiert sich die Taktstruktur an Potenzen der Zahl 2 (2² = 2*2 = 4, 2³ = 2*2*2 = 8 usf.) Jede Goldberg-Variation dauert 32 Takte, ein thematischer Abschnitt ist 8 Takte lang. Das ist im Techno ähnlich, häufig verändert sich ein musikalisches Element nach 4 oder 8 Takten, nach 32 Takten gibt es oft starke Veränderung, zum Beispiel den Drop (s.u., Musikalische Struktur II).

Aufführungspraxis I: Ankunftszeit

Barockkonzert: Es empfiehlt sich, zu Konzertbeginn vor Ort sein. Manchmal gibt es Nacheinlass, beim Goldberg-Konzert nicht.
Technoclub: Üblicherweise kommt man, wenn die Musik bereits läuft. Stressige Anreise entfällt, man hat sogar noch Zeit sich hübsch zu machen. Steht dafür teils Stunden vor der Tür.
So ein Unterschied mag trivial wirken, wird aber relevant unter anderem in der Streitfrage, ob Technoclubs Kultureinrichtungen sind, und damit für sie ein Umsatzsteuersatz von 7 statt 19 Prozent gilt. So plädierte das Finanzamt 2020 dagegen, da es gewöhnlich »für Konzerte völlig untypisch sei, mit der Musik bereits zu beginnen, bevor alle Gäste im Veranstaltungsraum anwesend« seien.

Musikalische Struktur II: Drop

Der Begriff stammt aus der Zeit des Discos, ist für viele Techno/EDM-Stile prägend. Der Drop ist der Gipfel in einem Prozess der Spannungsregulierung zwischen Höhepunkt und Aufbau. Während der Aufbau eine retardierende Funktion erfüllt, entlädt sich mit dem Drop die Spannung, meist durch das Hinzutreten mehrerer musikalischer Instrumente (häufig im Bassbereich).

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Aber auch der Barock kennt bereits den Drop – die 16. Goldberg-Variation ist ein perfektes Beispiel aus immer wieder aufgeschobener Erwartung und ihrer schließlichen Entladung:

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Und auch in Purcells Dido und Aeneas-Ouvertüre »dropt« das Cembalo zusammen mit dem Bass.

Aufführungspraxis II: Platzzuweisung vor Ort

Barockkonzert: stark segmentiert, man sitzt, je nach Privatvermögen besser oder schlechter.
Technoclub: demokratisch, man tanzt, freie Platzwahl.

Musikalische Struktur III: Gitter

Barockmusik und gerade Bachs Musik ist außerdem dafür bekannt, dass sie sowohl horizontal wie vertikal lesbar ist. Horizontal entwickeln sich die Melodien der einzelnen Stimmen (Achtung: nicht gleichbedeutend mit der »Voice« in der Klangsynthese). Vertikal ergeben die Melodien/Stimmen zusammen Harmonien. Oft gibt es bei Bach keine Stimme, die nur begleitet – jede, auch der Bass, erzählt horizontal ihre Melodie, und bildet dabei vertikal mit zwei, drei anderen Stimmen die Harmonie.

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Auch Techno ist vertikal und horizontal strukturiert. Anschaulich macht das die Software »Ableton Live«, die als Musikproduktionstool neben der Horizontalen eine vertikale Songansicht eingeführt hat. Ein vertikales Strukturelement im Techno umfasst dabei in der Regel einen Takt, der im Wesentlichen exakt wiederholt wird (4 mal, 8 mal, 16 mal …). Auf der horizontalen Ebene wiederum entwickeln sich das »Arrangement« des Stücks, Sounds treten hinzu, fallen weg oder verändern sich in der Zeit. Es gibt den Moment, und es gibt die Dauer.

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Der mexikanische Autor Alejo Carpentier veröffentlichte 1974 die Erzählung Concierto barroco. In ihr verschwimmen die Zeitebenen: Vivaldi, Scarlatti, Wagner und Jazzmusik treffen beim Straßenkarneval in Venedig aufeinander. Trotz des barocken Sujets weiß die neue Musik (Jazz) ihre Ahn:innen neu zu inspirieren. Die alte Musik lernt von der neuen. Und in genau diesem Sinn habe ich zwei Wünsche an das Barockkonzert.

Körper

Ein riesiger Unterschied zwischen dem Technoclub und dem Barockkonzert besteht in Bezug auf Körper. Während der Club für eine Idee des exzessiven, entgrenzten Körpers steht, steht das Barockkonzert häufig in Starre und körperlicher Zensur. Ja, es gibt auch andere Ansätze, Andreas Scholl etwa, der das Publikum zu bei Renaissance-Improvisationen zum Mitschnipsen und -singen animiert. Fand ich nicht schlecht. Vor allem, um zu begreifen, dass diese Musik und ihre Aufführungspraxis nicht einfach so vom Himmel gefallen ist, sondern eine Geschichte der Veränderung durchleben. Dass etwa die Platzzuweisung nicht so hierarchisch sein muss, wie sie ist. Aber leider erzählt das Barockkonzert heute meist die Geschichte einer erkalteten, starren Form.

Exemplarisch für diese Starre steht ein Moment nach Bachs 15. Variation. Rondeau hat sie wirklich wahnsinnig schön interpretiert (eine von drei Variationen in moll), hält inne; wir sind genau bei der Hälfte der Variationen angekommen. Mein Gesicht ist nass von Tränen, Spannung im Saal, man hört vereinzeltes Klatschen, ich fasse mir ein Herz und setze auch einmal an – Szenenapplaus. So normal im Jazz, in der Oper. So ein toller Moment. Kommunikation mit dem Publikum, Feedback! Ich möchte also Jean Rondeau meinen Dank und meine Verbundenheit ausdrücken und mein Körper beginnt mit Klatschen – doch ich höre selbst, wie es im großen Kammermusiksaal erstirbt. Eine Frau weiter links von mir, auch Ehrenloge, gibt verbissen ein »NEIN!« von sich.

Diese Begrenztheit, diese Feindlichkeit tut weh. Ja, manchmal klatschen Leute nach dem ersten Satz, weil sie denken das Konzert sei vorbei. Aber auch das finde ich nicht schlimm. Und wenn es intuitiv fließt, dann lasst doch die Körper frei! Lasst sie doch machen, tanzen, weinen, lachen zum Barock. Vielleicht hätte auch Rondeau das Klatschen nicht erwartet, nicht gewollt, aber er musiziert schließlich nicht alleine: Wir, das Publikum, sind da! Wenn Corona etwas gezeigt hat, dann den Wert der Interaktion. Das gemeinsame Durchleben der Musik. Vielleicht hätte es Rondeau aus seiner Fassung gebracht. Und vielleicht wäre das gar nicht schlecht.

Variation

Nun ist das Stück wirklich zu Ende: Arie, 30 Variationen, Arie. Wie ein Monolith steht die gehörte Musik vor meinem Inneren. Ein Goldberg. Es ist nicht nur die Musik, es ist auch die Feierlichkeit, die die gesamte Aufführung einnimmt. Eine Zugabe? Undenkbar, welches Stück könnte da schon mithalten! Aber irgendwie ist mir auch langweilig. Ist die einzige Frage an einen Abend wie den der Goldberg-Variationen diejenige, ob der Interpret in Takt 27 einen Halbton nach oben oder zwei nach unten verziert, bevor man mit den Worten »Bach ist wirklich elysisch« wieder an die frische Luft tritt? Ich kann das verstehen, ich hatte (und habe noch oft) das Gefühl, Bach muss ein Gott gewesen sein, zumindest das größte Genie der Musikgeschichte. Aber damals gab es unseren heutigen Geniebegriff noch gar nicht. Bach war erst Hof-, dann Gemeindeangestellter und Lehrer. Die Goldberg-Variationen, erst im 19. Jahrhundert so benannt, schrieb er als Clavier-Übung. Glaubt man Zeitzeugen, hat er besser improvisiert, als er komponiert hat. Vermutlich wäre Bach sehr erstaunt, könnte er sehen, mit welcher Ehrfurcht wir heute seine Stücke zelebrieren. Das ist natürlich auch alles in Ordnung, ich habe nichts dagegen. Aber wir können da nicht stehen bleiben.

Tatsächlich war die ›Alte Musik‹, und damit der Barock, schon einmal voll Aufbruch und Bewegung. Die 60er und 70er Jahre erlebten eine Renaissance der historischen Instrumente und ihrer Sounds: komplexer in den Obertönen; ungewohnt, fast schon sperrig für Ohren, die Symphonieorchester gewohnt waren. Darin lag die Chance, etwas Besonderes zu hören: nicht die fertige Musik, sondern die Erzeugung ihrer Klänge. Die Saiten, das Holz, die Schwingung der Luft. Und darin liegt für mich auch eine der besten Seiten des Techno: einer Musik, die ihre Artefakte, ihre Technologie hörbar macht. Komponiert in eine Art, die uns mitreißt. Techno und Barock teilen das fragwürdige Schicksal, hochaufgelöst und wohlkomprimiert dem Massenvertrieb anheimzufallen. Aber wir können uns dieser archaischen Potentiale erinnern: ihnen zuhören. Die Sonate nicht als fertiges Brett konsumieren, sondern als Musik eines Menschen am Cembalo oder Klavier. Dafür dürfen wir diese Musik nicht verheiligen. Nicht Bach, nicht die Goldberg-Variationen. Wir müssen es uns erlauben, den Barock ästhetisch zu öffnen. Ihn variieren. Neu verknüpfen, mit neuen Noten oder neuen Instrumenten. Unsere veränderte Zeit sucht veränderte Formen. Und wir müssen diese Musik und ihre Aufführung inklusiver machen, barriereärmer. Offener für unsere und andere Körper. Diese Musik ist so irdisch schön, dass wir sie teilen müssen – auch mit allen, die bisher nicht im Barock-Club sind.

Eher als Werkstattunfall fiel Jürg Meister BWV_639.midi in die Hände. Herausgekommen ist eine groovige Digitalversion, gesequencet bei 68 bpm, ohne Velocity (›Cembalo-Style‹).