Überlegt man sich mal, welche berühmten Zitate im Zusammenhang mit Komponistinnen und Komponisten wohl auf ewig mit der jeweiligen Künstlerin, dem jeweiligen Künstler untrennbar verbunden sein werden, fällt einem nach einer Minute doch recht viel ein. Arnold Schönbergs »Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen«, oder dem Franz Schubert zugeschriebenen »Kennen Sie eine fröhliche Musik?«.

Mit der Komponistin und Pianistin Fanny Hensel (1805–1847) wird auch so ein Zitat eng assoziiert – allerdings keine Aussage der Komponistin selbst, sondern eine Stelle aus einem Brief des Vaters an die 15-jährige: »Was Du mir über Dein musikalisches Treiben im Verhältnis zu Felix in einem Deiner früheren Briefe geschrieben, war ebenso wohl gedacht als ausgedrückt. Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seines und Tuns werden kann und soll.« Ein Zitat, das in die Musikgeschichte einging. So gediegen in der Schriftsprache des 19. Jahrhunderts ausgedrückt – und doch so niederschmetternd in der Grundaussage.

Das kompositorische Schaffen von Fanny Hensel erschien infolgedessen immer noch von dem Vorhang der Musik ihres Bruders Felix Mendelssohn Bartholdy wie verdeckt. Unterrichtet wurden beide – Fanny und Felix – vom Leiter der Berliner Singakademie Carl Friedrich Zelter. Fanny lernte Goethe kennen. Dieser mochte Fanny und eignete ihr das Gedicht Wenn ich mir in stiller Seele zu, das die Komponistin und gefeierte Pianistin sogleich vertonte. Am 14. Mai 1847 erlitt Fanny, mittlerweile verheiratete Hensel, während der Proben zu der Kantate Die erste Walpurgisnacht op. 60 ihres Bruders in Berlin einen Schlaganfall – und starb noch am selben Abend, im Alter von nur 42 Jahren.

Hensels bei den Interpretinnen und Interpreten beliebtestes Stück ist jedoch kein Lied oder ein Liederzyklus, sondern der Klavierzyklus Das Jahr. 1841 komponiert – und tatsächlich erst 1989 erstmals veröffentlicht. Die Komponistin »vertont« hier gewissermaßen jeden Monat eines Jahres. Ganz genau genommen lautet der Titel des Klavierzyklus Das Jahr – 12 Charakterstücke für Fortepiano


Januar. Ein Traum. Adagio, quasi una Fantasia 

Der Januar beginnt sehr vorsichtig, dunkel. Als seien die Glieder von etwaigen Neujahrsfeiern noch gelähmt. Ganz langsam und dramaturgisch klug tasten sich die »Dinge« hier an gewisse Überhaupt-Wirklichkeiten heran. Ein vielgestaltiger, innig durchwirkter Klaviersatz – und ein äußerst geschwindes Finale. Doch, doch: Das neue Jahr ist willkommen!

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Liana Șerbescu (1986) mit dem Januar

Voller Heiligkeit intoniert Liana Șerbescu den Januar. Genüsslich und inniglich kostet sie die Besonderheiten dieses ersten Jahresstückes aus – und erweist sich auch in Sachen Tempogestaltung als angenehm agil. Es gibt diesen Typus Interpretin, der fähig ist, wenig bekannte Klaviersachen so verinnerlicht und meisterwerkartig zu präsentieren, dass einem das Fragezeichen, warum diese jeweilige Musik einem noch nicht vorher untergekommen ist, umso größer im Kopf rumprangt. Șerbescu ist eine dieser Interpretinnen.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem Januar

Das »poco crescendo« in den Takten 5 und 6 hört man bei Sarah Rothenberg etwas expliziter. Manche Crescendi-Anbahnungen beginnt Rothenberg vielleicht etwas früh. Diese Angst, dass der Klang vielleicht gleich zu massiv werden könnte … Wer kennt sie nicht? Ansonsten: ähnlich schön wie Șerbescu.

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Lauma Skride (2007) mit dem Januar

Am meisten »auf Linie« spielt Lauma Skride den Beginn. Das »Decrescendo« im neunten Takt übergeht sie. Das Arpeggio in Takt 20 scheint aber wirklich nicht vorgesehen zu sein – und irritiert unnötig. Skride steht für meinen Geschmack zu häufig auf der Stelle. Das wirkt bei dieser Komposition, die aus dem Geist des Improvisierens entstanden sein muss, nicht ganz passend.

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Els Biesemans (2012) mit dem Januar

Die belgische Organistin und Pianistin Els Biesemans spielt den Hensel-Zyklus auf einem Fortepiano.

Der Improvisationsgestus wird hier am ehesten Realität, abzulauschen schon an der beschleunigten Basslinie im fünften Takt. Hier entsteht etwas! Fantastisch und schlichtweg interessant, wie Biesemans beim ersten »Forte« in Takt 17 schon fast rauschhaft abgeht. Toll und kühn!

Februar. Scherzo. Presto 

Eine witzige und schön irritierende Oktaven-Auftakt-Situation – und dann huscht dieses Februar-Scherzo los. Wie bei Liszt und Chopin erleben wir nach dem flinken Quasi-Sommernachtstraum-Scherzo (im Februar!) grummelnde Oktaven, die jeweils in einen in die Höhe klatschenden Akkord münden. Ein ikonischer Augenblick. Anschließend wühlt sich Hensel mit Hilfe der anfangs eingedeichselten Scherzo-Staccato-Matrix durch diverse Tonarten. Ja, so ein Februar kann harte Arbeit sein. Ob Jahres- oder Quintenzirkel: Hauptsache bald Frühling …

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Liana Șerbescu (1986) mit dem Februar

Die von Fanny Hensel fein ausdifferenzierten Spielarten (Staccato vs. Legato) erlebe ich bei Liana Șerbescus Februar-Interpretation leider nicht als sonderlich spannungsvoll herausgepikst. Schön, aber etwas pauschal.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem Februar

Ähnlich geht Rothenberg vor. Akkurat, aber: Wo bleibt der Humor? Wo bleibt der vielleicht mephistophelische Witz bei den herauf- und herunterrollenden Oktaven?

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Lauma Skride (2007) mit dem Februar

Etwas zurückgelehnter im Tempo: Lauma Skride im Februar. Das könnte in dieser Art der »diktierten« Spielweise als Witz gemeint sein. Aber ich höre leider nur den Willen zur Fehlerlosigkeit. Und das war mir noch nie genug.

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Els Biesemans (2012) mit dem Februar

Hakeliger, interessanter dagegen: Els Biesemans. Witzig inszeniert sie ein Sich-Überschlagen. Forciert trappeln mir die Oktaven in die Fresse. Ist das lustig!


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März. Agitato 

Der März schneit in fis-Moll ins Haus. Es tropft à la Chopin in der zweituntersten Stimme. Ein melancholischer Gesang – mit einer Rezitativ-Stelle, die auf unsere Aufmerksamkeit spekuliert. Und das aus gutem Grund: Denn Fanny Hensel zitiert im Folgenden das häufig zu Ostern gesungene Christ ist erstanden. Die Melancholie von zuvor ist also einerseits privat, aber irgendwie auch allgemein, öffentlich, christlich. Eine Klage, der Jahreszeit gemäß. Interessant: Hensel schaut mit ihrem März-Stück offenbar nicht auf das Osterfest des Jahres 1841 zurück. Denn Ostern 1841 beging man am 11. April. Wenn, dann ist das eine Vorausschau auf das höchste christliche Fest des folgenden Jahres, 1842 (27. März). Und schon passt es wieder!

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Liana Șerbescu (1986) mit dem März

Liana Șerbescu spielt mir zu sehr »Ritardando«. Ja, dieser Choral, der »plötzlich« auftaucht, ist etwas Besonderes. Aber ich will hier Orgel-Flächigkeit, Kirchen-Einkehr, Kreuz-Inansichtnahme hören, keine Klavier-Besinnlichkeit. (Nach diesem Formteil catcht mich Șerbescu aber mit ihrer Emphase wieder.)

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem März

Etwas schlichter, kühler: der März aus den Händen von Sarah Rothenberg. Die intendierte Hölzernheit der Choral-Stelle: sehr fein!

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Lauma Skride (2007) mit dem März

Wieder im Tempo vergleichsweise etwas »zurück«: Lauma Skride. Die Aufnahme mit der wohl bekanntesten Pianistin unter den hier Vertretenen entpuppt sich Stück für Stück als die am wenigsten aufregende.

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Els Biesemans (2012) mit dem März

Gestisch, spannend, kurz ausbreitend, erzählend gelingt Biesemans der März. Auf gute Art aufgedreht plötzlich die beschleunigende Variation des Ganzen (bei Piano ma agitato). Schön holzig: Christ ist erstanden. Dann langsam wieder aufbäumend …

April. Capriccioso. Allegretto 

Mit dem April kommt Hensel gleich ins Erzählen hinein. Kleine Klagelaute schieben sich ins vielgestaltige, lebendige, typisch aprilfrische Bild. Schnell grüßt ein flinker Allegro-Teil. Nach einem spinnradartigen Quasi-Toccata-Part erleben wir wieder die Fanny Hensel, die sich hier richtig durch die Klaviatur durcharbeitet; womöglich Anstrengungen eigener Lebensumstände »bebildernd«. Die Harmonik steht auf ehernen Füßen, wird aber oft und gerne engschrittig verschoben. Fast lakonisch das Ende. Vordergründig ein Virtuosenstück. Aber es verbleibt das differenzierte Bild eines hin-und hergerissenen Menschen zurück, der sich an etwas die Zähne ausbeißt …

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Liana Șerbescu (1986) mit dem April

Zwischen Takt 5 und Takt 6 schreibt Fanny Hensel eine kleine Zäsur vor. Die höre ich bei Liana Șerbescu nicht. Das Pedal bleibt gedrückt. Mein Klavierprofessor hätte mich gesteinigt (und dafür vermutlich sogar seine Sunkist-Trinktüte aus der Hand gelegt).

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem April

Rothenberg spielt über diese Zäsur, die ja auch in ihrem emotionalen Gehalt, in ihrer Andeutung von Fragmentartigkeit verstanden werden will, ebenfalls hinweg. Șerbescu gefällt mir da besser, da sie weniger harmlos zu Werke geht.

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Lauma Skride (2007) mit dem April

Am harmlosesten fliegt der April bei Lauma Skride vorbei. Würde man diese Musik besser verstehen (wollen), so müsste man das Durchbrochene dieser Frühlingsschilderung auch »Realität« werden lassen. Das ist ja nur scheinbar ein wehmütiger April-Gesang! Was sich an kleinen Stimmungswechseln, seufzenden Wiederholungen aber schon früh abzeichnet, ist: Hier sind verschiedene Gefühle gleichzeitig am Start! Nicht erst beim Eintritt des Allegro-Teils.

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Els Biesemans (2012) mit dem April

Die galant »grobe« Art von Biesemans Spiel auf dem Fortepiano hat etwas für sich. Die ganze Geschichte verstehe ich trotzdem immer noch nicht … 

Mai. Frühlingslied. Allegro vivace e gioioso 

Ein lieblicher Maien-Gesang. Schön weit ausholend. Auch hier sehen wir, dass sich Hensel auf einem einmal gestrickten pulsierenden »Band« fast nie ausruht, sondern episodenhaft komponiert. Gleichzeitig ist das natürlich auch einfach romantische Klaviermusik; aber hier wirklich lyrisch, nie oberflächlich oder plump virtuos auftrumpfend. Das muss unbedingt schön, liebevoll gespielt werden, ohne zu glätten. Es darf aber auch nicht pseudo-krass zu existenzialistisch grollen, beispielsweise bei der kurzen Tiefenerforschung zu Beginn der vorletzten Mai-Seite.

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Liana Șerbescu (1986) mit dem Mai

Ja, schön. Holt mich aber nicht ab.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem Mai

Etwas schneller im Tempo. Aber zu lieb.

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Lauma Skride (2007) mit dem Mai

Hier passt Skrides Klavierspiel auf einmal merkwürdig gut. Aber mein Favorit ist der Mai nicht (wiewohl ich den Monat selbst liebe).

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Els Biesemans (2012) mit dem Mai

Ah, was können Tempo-Gestaltungsideen doch ausmachen! Auf einmal interessiert mich dieses Klavierstück. Aufregend, mutig.

Juni. Serenade. Largo

Wie der langsame Satz eines Klavierkonzerts, der von der Solistin zunächst ganz allein bestritten wird. Ein Gesang, der von d-Moll in Takt 5 schön in D-Dur übergeht. Berührend leuchtend. Die gute alte Zeit: Sie erscheint doch als etwas im Rückblick Angenehmes. Ab Takt 12 schreibt Hensel vor, das Ganze soll nach einer Gitarre klingen; Zweiklang-d-Moll-Tupfer im 6/8-Takt bereiten einen Gesang in der Mitte des Klavieres vor; man schmachtet in Gedanken kurz herüber zu Schuberts Ständchen (hier aus Gründen in der Liszt-Bearbeitung für Solo-Klavier) – und ist doch dann ganz wieder bei Hensel! Nichts bleibt dabei »stehen«. Ganz im Gegenteil. Was aus dem d-Moll-Gondellied noch so (Virtuoses) wird … Sehr spannend.

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Liana Șerbescu (1986) mit dem Juni

Sonor, überzeugend, souverän. Die Gitarren-Imitation gelingt der Pianistin. So ganz bin ich aber noch nicht bei der Sache. Der Girlanden-Part ist allerdings ganz subtil gestaltet.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem Juni

Rothenberg nutzt die Aufleuchtungsmöglichkeit in Takt 5 überhaupt nicht. So etwas finde ich immer etwas schade. Grundsätzlich baut sie mir zu viele kleine Ritardandi ein. Das nimmt die Spannung ziemlich heraus.

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Lauma Skride (2007) mit dem Juni

1842 schon komponierte Fanny Hensel offenbar eine Alternative zum Juni. Skride hat sich anlässlich ihres 2007er-Albums für diese zweite Version entschieden. Ein ganz anderes Klavierstück also. Schön gespielt, aber zieht an mir doch in seiner erwartbaren Klage vorbei.

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Els Biesemans (2012) mit dem Juni

Auch Biesemans spielt die 1842er-Version vom Juni. Und schon die differenzierende Strukturierung der unterschiedlichen »Schichten« weckt mich frühsommerlich auf!



Juli. Serenade. Larghetto 

Endlich ein bisschen Ruhe. »Sommerpause« im Juli. Der Juli beginnt allerdings harmonisch unschlüssig. »Alles in Ordnung bei dir?« – »Ähm … nein.« (Anderes »besagt« dann auch der dunkel timbrierte f-Moll-Teil, der bald folgt. Klanglich faszinierende Tremoli in äußerster Klaviertiefe bewirken sogar ein Trauermarschgefühl. Und dann wird es kontrapunktisch. Mehrere Stimmungsbilder zur gleichen Zeit.)

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Liana Șerbescu (1986) mit dem Juli

Merkwürdig, dass hier das »Pianissimo« in Takt 7 lauter ist als das vorherige »Piano«. Das tiefe, erdige Tremolo-Vibrieren dieser Aufnahme sagt mir dafür ziemlich zu.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem Juli

Etwas flüssiger im Tempo. Etwas hölzerner: die Tremoli.

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Lauma Skride (2007) mit dem Juli

Um Einiges oberstimmenfixierter als die Kolleginnen Șerbescu und Rothenberg. Die Tremolo-Stelle nimmt sie quasi »in einem Atemzug«. Muss man so auch erstmal können!

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Els Biesemans (2012) mit dem Juli

Etwas topfig im Angang. Aber das ist hier auch nun einmal nicht nur »schöngeistig« komponiert, sondern fällt so in die Geschichte hinein, harmonisch durchaus kühn (will heißen: Der erste Akkord ist harmonisch kein »üblicher erster Akkord«). Und daher trifft Biesemans auch hier den Ton. Ganz aus erdiger Lava mischt die Interpretin die Tremoli später hinzu.

August. Allegro

Ein klangvoller Oktaven-Ruf zu Beginn. Dann sein Echo. Aus den Punktierungen wird zunächst ein hübsches, volksliedartig tönendes Charakterstück. Der Beginn auf dem Ton a kehrt zwischendurch fein wieder, erinnert an den Anfang. Nach einigen Momenten der Entwicklung ist die Stimmung fast ausgelassen. Ein Volksfest, angenehmes, gutes Herzpoltern erwirkendes Verliebtsein. Und auch hier passiert noch Einiges mehr. Das Stück versuppt richtig zwischen einigen 16tel-Girlanden – »Ist das damals im August wirklich passiert?«

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Liana Șerbescu (1986) mit dem August

Abgesehen von ein paar Zäsuren (teilweise notiert, teilweise nicht) schnurrt das ganz okay ab.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem August

Wieder – und zwar schon im Auftakt zum zweiten Takt – ein Ritardando, das nicht vorgeschrieben ist.  Einen mutigen Gedanken sollte man nie, niemals glätten!

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Lauma Skride (2007) mit dem August

Spitzfingriger, durchaus spannend – auch weil Lauma Skride hier die zweite (radikalere) August-Version, die Hensel hinterlassen hat, spielt.

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Els Biesemans (2012) mit dem August

Jeder Ton wie ein Nachdenken. Auch Biesemans nimmt die zweite August-Fassung. Und wie humorvoll, absichtlich »zu langsam« sie den Part ab Takt 26 exemplifiziert – mit dem Blick zu den anderen Heranwachsenden, die ihre Reitferien hier verbringen: »Na, ihr! Schaut mal, wie ich diesen Rappen gezähmt habe!« Das ist wirklich toller Humor. Der Blick aus dem Fenster zum Immenhof.  Ich möchte mit Els Biesemans befreundet sein.

September. Am Fluss. Andante con moto 

H-Moll. Die linke greift über die rechte Hand. Ein elegischer Undine-Reigen im stetigen Flusse? Eine Daumenmelodie bleibt jetzt vergleichsweise lange am (Sommerschluss-)Ball. »Hattest du einen schönen Sommer?« (Der Befragte geht gar nicht direkt auf die Frage ein, sondern klagt uns bereits sein September-Leid, sein September-Lied entgegen.)

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Liana Șerbescu (1986) mit dem September

Das ist gut gelungen, wie Liana Șerbescu aus der h-Moll-Gurgelei heraus leidenschaftlich ihr »Wort« erhebt.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem September

Wieder zu selbstverständlich abgespult. In jedem Takt habe ich das Gefühl, ich könnte voraussagen, wie es weitergeht. Das ist etwas, was ich nicht (können) will!

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Lauma Skride (2007) mit dem September

Etwas eingedunkelter dagegen Lauma Skride. Das Henselsche Stimmungsbild malt Șerbescu aber bislang am besten.

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Els Biesemans (2012) mit dem September

Überraschend explizit schält Biesemans hier die Melodie heraus. Statt umdunkelten Flussläufen hört man das Sprudeln eines Baches. Doch wie Biesemans dann den Klang öffnet – und sich den hohen Oktaven zuwendet: Das ist erhebend und emotional.

Oktober. Allegro con spirituo

Das erinnert schon ein bisschen an Robert Schumanns Ländliches Lied aus dem Album für die Jugend. Tja, nur war Fanny sieben Jahre früher dran, denn Schumanns Opus 68 kam erst 1848 heraus. Ein ähnlicher Klaviersatz, Hornquinten- oder Hornquinten-Andeutungen … Und das im Zeichen jeweils einer jahreszeitlichen Programmatik. Nachdem Hensel dann in As-Dur die Jagdhorn-Saison variierend durchgeführt hat, geht die Komponistin in einen C-Dur-Teil über, der sehr schlau und strahlend-wohltuend die vielen Punktierungen des As-Dur-Teils in ganz »normale« Achtel-Oktaven im Bass flächig in die Klaviatur holzt. Nachher blinkt/winkt dann das Hauptthema des Beginns zur gleichen Zeit wie die Teile des besagten Intermezzos!

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Liana Șerbescu (1986) mit dem Oktober

Die Emphase, mit der Șerbescu zu Werke geht: gut, ja! Eh ein gutes Stück Klaviermusik, das mich an die Klavierbegleitung von späteren Hugo-Wolf-Liedern erinnert. Und das würde vielleicht nicht passieren, wenn Șerbescu das nicht entsprechend mutig spielen würde.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem Oktober

So eine »vorbeiziehende Passage« wie in den Takten 12 bis 16 ist für meinen Geschmack sofort wie gemacht, um etwas zu beschleunigen, strettaartig, diabolisch, triumphierend … Hier wiederholt sich doch nur bestimmtes Zeug. Und ich will dazu eingeladen werden, mir eingeleitet von entsprechend aufregender Vorrede den nächsten Ideenreigen anzuhören. Werde ich aber hier nicht.

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Lauma Skride (2007) mit dem Oktober

Gänzlich unaufregend und unaufgeregt: Lauma Skride. Ein klares »Nein«. Fast nervig korrekt.

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Els Biesemans (2012) mit dem Oktober

Kleine Binnen-Dynamik-Ausflüge, vor allem in den galoppierenden Bass-Oktaven – und ein stetiges: »Gleich passiert etwas!« So mag ich das.

November. Mesto 

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Liana Șerbescu (1986) mit dem November

Absolut souverän. So richtig bekommt mich diese Klavier-Klage aber nicht. Auch das »Spinner-Lied« (Allegro molto) ist mir zu wenig »appassionato«.

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem November

Da ist mir zu viel »mit vorheriger postalischer Ankündigung Ihres Schreibens« im Spiel.

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Lauma Skride (2007) mit dem November

Okay, Klangfülle kann es dann ausmachen! Und Linie!

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Els Biesemans (2012) mit dem November

Beides – Klangfülle und Linie – kann natürlich auch Biesemans. Und bei ihr klingt es gleich viel interessanter. Tastend – und durchaus mal (siehe Takt 8) trocken und barsch. Extrem interessant. So wird das Meisterinnenwerk erst zum Meisterinnenwerk!

December. Allegro molto 

Das ist das einzige Stück, das tatsächlich in dem Monat geschrieben wurde, auf den es sich »bezieht«. Und Hensel gibt daher dem (mit Nikolausmütze geschmückten) Affen Zucker – okay: und Zimt. Denn an der schönsten »Erwartungsstelle« baut sie Vom Himmel hoch ein und führt die Melodie fast orgelartig durch. Eine Mischung von Chopins »Terzen-Etüde« (gis-Moll op. 25, 1837) mit dessen schneller cis-Moll-Etüde (op. 10, 1833), Felix-Mendelssohn-Scherzo und Liszt-Emanation am Schluss.

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Liana Șerbescu (1986) mit dem Dezember

Das flitscht profund weg. Und die Staccati gefallen mir. Geschieht harmonisch Ungewöhnliches (so ein unangekündigter Wechsel von G-Dur nach E-Dur), so würde ich mir bewusste »Anführungszeichen« wünschen. Ich will Verwegenheit spüren! (Șerbescus Vom Himmel hoch klingt oberstimmenfixiert und nicht weiter auffällig.)

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem Dezember

Rothenberg spielt den Dezember tatsächlich so prägnant und straff wie die besagte Etüde op. 10 Nr. 4 in cis-Moll von Chopin. Kann man machen.

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Lauma Skride (2007) mit dem Dezember

Ach, nein! Viel zu diktiert. Und technisch auch nicht ganz souverän. Wenn »trocken«, dann muss man das auch können!

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Els Biesemans (2012) mit dem Dezember

Hier fehlt mir plötzlich fast der Mut von Els Biesemans, an dem ich zuvor noch so viel Freude gehabt hatte. Trotzdem würde ich ihre Aufnahme als meine Favoritin empfehlen.

Nachspiel. Choral (»Den 15ten Decbr. 1841«)

Alles hat ein Nachspiel. Auch Das Jahr hat eines. Eine berührende Rückschau in a-Moll – in ein versöhnliches A-Dur mündend.

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Liana Șerbescu (1986) mit dem Nachspiel

Das von Hensel hier schnell eingefügte Zitat Das alte Jahr vergangen ist lässt Șerbescu demütig und orgelartig erbeben. Sehr schön! Wer mit »historisch informiert« (siehe Biesemans) nicht so »kann«, der möge Liana Șerbescu hören!

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Sarah Rothenberg (2006) mit dem Nachspiel

Bei Rothenberg höre ich den herabsinkenden Lamento-Bass kaum. Etwas zu forciert in den Oberstimmen schaltet sie dennoch schön um zu den stilleren Teilen dieses betenden Schlussstückes.

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Lauma Skride (2007) mit dem Nachspiel

Etwas zu langsam im Tempo für meinen Geschmack. Da würde sich die mitsingende Gemeinde irgendwann bei der Pfarrerin beschweren.

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Els Biesemans (2012) mit dem Nachspiel

Hier spüre ich den elegisch-chromatischen Bass! Und hier höre ich die (mentale) Einfachheit von guten Protestantinnen und Protestanten in der Lüneburger Heide, deren ich meine neue Wohnungseinrichtung zu verdanken habe. (Liebe Grüße gehen raus an meinen verstorbenen Großonkel.) Ja, ja, das alte Jahr … Und noch so viel mehr, was vergangen ist … ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.