An der Dutch National Opera bietet sich ein seltenes Bild: Star-Sopranistin Julia Bullock hat es sich in einer Probenpause auf dem Bühnenboden bequem gemacht und stillt ihr neugeborenes Kind. Mit lässig überkreuzten Beinen strahlt sie glücklich in die Kamera. Man sieht ihr an: So macht Arbeit Spaß.

Den fotografischen Beleg dieses intimen Moments postet Bullock später auf Instagram und schreibt dazu:  

Thank you DNO for embracing me and my family with such openness these past weeks. You provided space for me to work and just live as a full person. It has enabled me to concentrate on all that I love…. and has made this process extraordinary. This is what the literal work of opera is all about: letting human beings share their full selves. 

(Danke DNO, dass ihr mich und meine Familie in den letzten Wochen so offen aufgenommen habt. Ihr habt mir den Raum gegeben, zu arbeiten und ganz Mensch zu sein. Das hat mir ermöglicht, mich auf all das zu konzentrieren, was ich liebe…. und hat diesen Prozess außergewöhnlich gemacht. Am Ende geht es genau darum in der Oper: Menschen zu ermöglichen, ihr ganzes Selbst zu teilen.)

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Die meisten Bühnenkünstlerinnen mit Kindern können von solchen Bedingungen – der Möglichkeit, ein Kind mit zur Arbeit zu bringen, am Arbeitsplatz zu stillen – nur träumen. Babys auf der Probe sind eher die Ausnahme als die Regel. Arbeitszeiten bis spät in den Abend, Wochenendproben und die sehr kurzfristige Probenplanung vieler Theater machen die Kinderbetreuung zur organisatorischen Zerreißprobe. Auch die französische Mezzosopranistin Virginie Verrez kann davon ein Lied singen. Während sie auf einem Berliner Spielplatz acht gibt, dass Töchterchen Eleonora (1 Jahr) keinen Sand verschluckt, spricht sie per Videocall mit VAN über den Spagat zwischen Kind und Bühne.

»Was meiner Meinung nach wirklich fehlt, in Deutschland, aber auch in Frankreich, ist Kinderbetreuung. An den meisten Häusern sind die Menschen zwar sehr nett und verständnisvoll, aber es fehlt eben ein Ort, wo wir unsere Babys während der Arbeit hinbringen können.«

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Noch am selben Abend hat Virginie Verrez einen Auftritt als Prinzessin Amastris in Xerxes an der Komischen Oper in Berlin. Reguläre Kitas haben um diese Zeit längst zu. Verrez Mann ist Dirigent und deshalb abends beruflich beschäftigt. Bei solchen Zeitplänen sind die beiden auf die Unterstützung der Großmütter angewiesen. So oft es geht, reisen entweder Mutter oder Schwiegermutter an, um auf Eleonora aufzupassen. Ohne ihre Hilfe würde es finanziell sehr knapp: »Als ich eine Produktion in Bordeaux gesungen habe und meine Mutter nicht einspringen konnte, habe ich für zwei Wochen ein Kindermädchen angeheuert. Wow, das hat so viel Geld gekostet! Müsste ich Vollzeit für eine Nanny bezahlen, würde ich mehr ausgeben, als ich verdiene.«

Jenseits der Finanzierungsfrage kostet das Muttersein auch körperliche Ressourcen. Als Sängerin macht Virginie Verrez vor allem der Schlafmangel zu schaffen: »Als Eleonora gerade drei Monate alt war, musste ich in London eine Aufnahme machen. Die Nacht zuvor war sie ungefähr acht Mal aufgewacht und ich hab mich gefühlt, als müsste ich sterben. Meine Stimme war zwar da, aber sie klang eben wie die Stimme von jemandem, der die ganze Nacht wach gewesen war.«  Pausieren kam nicht in Frage: »Wenn man ein großer Star ist, kann man es sich vielleicht erlauben, ein Jahr lang nicht zu arbeiten, aber als normaler Mensch geht das nicht.«

Der Stress geht für viele Frauen schon mit der Schwangerschaft los, denn nicht alle arbeiten gerne mit werdenden Müttern. Virginie Verrez kennt Geschichten von Kolleginnen, die wegen eines beginnenden Babybauchs Verträge verloren haben: »Da hatte die Regie wohl Angst, die Sängerin würde nicht mehr in ihr Kostüm passen. Ich frage mich wirklich, warum das ein Problem ist. Macht doch einfach ein größeres Kleid«

So entgehen werdenden Müttern wertvolle Karrierechancen. Eine deutsche Opernsängerin und Mutter eines dreijährigen Jungen, die lieber anonym bleiben möchte, berichtet: »Ich hatte ein Job-Angebot von einem berühmten Festival. Das haben sie sofort zurückgezogen, nachdem ich meine Schwangerschaft verkündet habe. Die Begründung war, es werde auf der Bühne ›gefährlich‹ und es könne für mich und das Kind keine Verantwortung übernommen werden. Als ob ich das nicht selbst entscheiden könnte! Am meisten verletzt hat mich aber, als ich später das Stück gesehen habe und erkennen musste, dass der Vorwand der ›gefährlichen‹ Inszenierung eine eindeutige Lüge war.« Sie selbst empfindet sich seit der Schwangerschaft als künstlerisch und stimmlich gereift. »Ich habe das Gefühl, ich weiss mehr wie man stützt, kann mich mehr auf das Gefühl des ›Anlehnens‹ verlassen, wenn ich mich an meinen großen Bauch erinnere. Auch während der Schwangerschaft war Singen nie ein Problem.«

Auch hinter der Bühne kommt es vor, dass Mütter mit Diskriminierung zu kämpfen haben.

Teresa Monfared, freischaffende Bühnen- und Kostümbildnerin und Mutter von 4 Kindern, erinnert sich an ein ernüchterndes Gespräch mit einem Intendanten, dem sie eine erneute Zusammenarbeit vorschlug. Am Telefon erzählt sie: »Ich war zu dem Zeitpunkt schon sichtbar schwanger. Er hat mich ganz langsam von oben bis unten gemustert und meinte dann nur: ›Naja, du hast ja jetzt erstmal was anderes vor.‹«

Teresa Monfared mit ihren Kindern • Foto © Claudia Neuhaus

Die Entscheidung für eine eigene Familie wird von Arbeitgeberseite häufig als Entscheidung gegen die künstlerische Berufung interpretiert. Dabei bringen viele Mütter in der Theaterbranche große Opfer, um ihren Beruf trotz widriger Umstände weiter ausüben zu können. Besonders die langen Trennungszeiten bei Gastspielen sind eine Belastung für das Familienleben: »Wenn ich morgens um vier todmüde im Zug quer durch die Republik fahren muss, nachdem mein Kind mich am Abend vorher schreiend nicht gehen lassen wollte, frage ich manchmal schon: Warum mache ich das? Wenn ich dann aber  in der Beleuchtungsprobe sitze und sehe, wie meine Ideen lebendig werden, ist das natürlich erfüllend.« Diese Zerrissenheit kennt auch Nathalie Himpel, ebenfalls Bühnen- und Kostümbildnerin und Mutter einer Dreijährigen. Derzeit pendelt sie für eine Produktion zwischen Berlin und Magdeburg: »Ich bin an drei von fünf Tagen weg und meine Tochter zählt die Nächte, wie oft sie noch schlafen muss, bis ich wiederkomme.« Trotzdem oder gerade deswegen ist Nathalie Himpel leistungsfähiger als je zuvor: »Ich empfinde, dass ich motivierter bin. Wenn ich arbeite, weiß ich: Das ist jetzt meine Zeit, in der ich so richtig kreativ explodieren kann. Weil ich alles so genau planen muss, arbeite ich  außerdem noch strukturierter und genauer.« Und doch braucht es nicht viel, um das mühsam konstruierte Organisationsgebilde zum Einsturz zu bringen. Wenn der für die Abendrobe eingeplante Babysitter absagt oder das kranke Kind nicht in die Kita darf, hat Nathalie Himpel ein Problem: »Mir würde es helfen, wenn es am Theater für solche Fälle eine Anlaufstelle oder wenigstens Notbetreuung gäbe.«

Warum bietet der Theaterbetrieb Frauen mit Kindern nicht mehr Unterstützung an? Die Finanzierung der Kinderbetreuung spielt hier sicherlich eine Rolle. Vom Staatstheater Nürnberg berichten Künstlerinnen, dieses beteilige sich solidarisch an den hohen Betreuungskosten. Das Theater selbst wollte sich dazu auf VAN-Nachfrage nicht äußern. Auch die Flexibilität in der Probenplanung wollen sich viele Häuser nicht nehmen lassen. Aktuell werden Probenpläne vielerorts erst am Vortag um die Mittagszeit bekanntgegeben. Dabei können Proben von Montag bis Samstag in der Zeit zwischen 10 und 22 Uhr angesetzt werden. Häufig wird auch mit geteilten Proben – einer Vormittagsprobe und einer Abendprobe am selben Tag – gearbeitet, was die Organisation der Kinderbetreuung zusätzlich erschwert.

Dass es auch anders geht, zeigen Häuser wie das Theaterhaus Jena. Geprobt wird hier – mit Ausnahme der Endproben – nur »ungeteilt« zwischen 10 und 16 Uhr und grundsätzlich nicht an Samstagen. Das sorgt, so Andrea Hesse vom Theaterhaus gegenüber VAN, zwar für mehr Planungsaufwand bezüglich der theaterinternen Abläufe und der Bühnenzeiten der einzelnen Gewerke. Die Unterstützung am Haus sei für diese Regelung dennoch groß – und das schon seit Längerem: »Der Prozess in Richtung einer größeren Familienfreundlichkeit am Theaterhaus war ein fließender und hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass die Künstlerischen Leiter:innen selbst Kinder hatten und somit wussten, wie schwer es ist, am Theater Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen«, so Hesse. »Spätestens seit der Spielzeit 2004/05, mit der Übernahme der Künstlerischen Leitung durch das Team um Markus Heinzelmann, wurde besonders auch im künstlerischen Bereich auf die Bedürfnisse junger Eltern geachtet. Das spiegelte sich zum Beispiel bei der Besetzung der Elternpaare wieder, aber auch in den Bedürfnissen der Kinder angepassten Probenzeiten.« Die folgenden Leitungsteams bauten die Maßnahmen zur Familienfreundlichkeit weiter aus. Eltern werden am Jenaer Theater heute individuell bei der Finanzierung der Kitaplätze unterstützt, Gastkünstler:innen mit Kindern greift das Theater bei der Suche nach familienfreundlichem Wohnraum oder der Kinderbetreuung unter die Arme. Dem Jenaer Ensemble-Rat, der sich aus allen festen Ensemblemitgliedern zusammensetzt und der auch an künstlerischen Entscheidungen beteiligt wird, ist die Familienfreundlichkeit ebenfalls ein großes Anliegen. 

Die an anderen Häusern verbreitete Haltung, dass sich Künstler:innen (vor allem Solist:innenen) montags bis samstags bis 22 Uhr bereit zu halten haben und maximal flexibel sein müssen, passt ins Bild des weltentsagenden Künstlers, der ausschließlich von und für die Kunst lebt. Die multitaskende Mutter fällt hier aus dem Rahmen. »Im Theater wird eine bedingungslose Liebe erwartet. Man kann aber sehr wohl das Theater lieben und trotzdem um 17 Uhr nach Hause gehen und dann noch was anderes machen«, meint Natalie Himpel. Dass sie eine Tochter hat, die im Falle eines Betreuungsengpasses mit auf die Probe kommt, lässt sie in Verhandlungen deshalb vorsorglich unerwähnt. Dafür legt sie umso mehr Wert auf eine angemessene Gage: »Manche Theater verkaufen es einem als Riesengeschenk, dass man 12 Wochen lang für weniger als Mindestgage (2750 Euro brutto pro Monat) als Selbständige arbeiten darf. Ich bin auch immer öfter an dem Punkt: Es muss sich rentieren. Warum soll ich meiner Familie und mir das ganze Hin und Her zumuten, wenn sich das finanziell nicht lohnt? Ich mache deshalb kaum noch Projekte in der freien Szene. Da gibt es nicht nur wenig Geld, sondern in der Regel auch keine Werkstätten und ich muss am Ende noch selber zum Baumarkt fahren und Holz zuschneiden.«

Auch in der Gesangsabteilung sieht man die Dinge pragmatisch: »Weil ich keine einzige Sekunde am Tag habe, wo ich auf der Couch liege und nichts tue, habe ich auch weniger Zeit, mir unnötig um meine Stimme Sorgen zu machen. Ich liebe Singen, aber es ist auch nur ein Job«, sagt Virginie Verrez. 

Um dem Einzelkämpfertum überarbeiteter Mütter ein Ende zu setzen, vernetzt der 2022 gegründete Verein Bühnenmütter e.V. Bühnenkünstlerinnen mit Kindern untereinander und setzt sich für familienfreundlichere Arbeitsbedingungen an deutschen Opern- und Theaterhäusern ein. Ganz oben auf der Liste der Forderungen stehen bessere Planbarkeit, weniger Abendproben und Betreuungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz: »Wir arbeiten gerade an einem Familiensiegel, um familienfreundliche Theater auszeichnen und in einen freiwilligen Transformationsprozess einzuladen«, erklärt Teresa Monfared, die seit kurzem Vorstandsmitglied bei den Bühnenmüttern ist. 

Langfristig braucht es dazu nicht nur den guten Willen einzelner Kulturinstitutionen, sondern ein kulturpolitisches Bekenntnis für einen Strukturwandel innerhalb des gesamten Theaterbetriebs. Zum einen muss die Politik Möglichkeiten finden, wie Theater Kinderbetreuung anbieten können, ohne die Mehrkosten dafür selbst tragen zu müssen, zum anderen müssen die Theater selbst Kompromisse eingehen und auf maximale Flexibilität in der Probenplanung verzichten.

Bis es soweit ist, müssen sich Bühnenmütter berufliche wie private Freiräume weiterhin selbstständig erkämpfen. ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).