Nur die Zeit – vielleicht auch die unruhigen Zeiten – können den Wert seiner Musik beweisen, prophezeite Miloslav Kabeláč vor seinem Tod. Die Werke des vergessenen Komponisten (1908–1979) – dem bedeutendsten tschechischen Sinfoniker in der Generation nach Bohuslav Martinů – zeigen heute nicht nur großartige musikalische Qualitäten. Sie vermitteln auch Werte wie Humanismus, Aufrichtigkeit, Toleranz und Mut.
Mitten im Zweiten Weltkrieg vertont Miloslav Kabeláč in seinen Sechs Männerchören nach Worten von Jiří Wolker op. 10 diesen versöhnlichen Satz: »Jeder hat irgendwo ein Herz – auch wenn er es nicht bei sich trägt.« Wie eine Chronik erzählt das Chorwerk vom Schicksal der tschechoslowakischen Bevölkerung: von der allgemeinen Mobilmachung 1938 und den gewaltsam niedergeschlagenen Studentenprotesten 1939, vom Leid der Verfolgten und der Hoffnung auf einen baldigen Sieg über die deutschen Besatzer.
Für Miloslav Kabeláč sind die Kriegsjahre die schwerste Zeit seines Lebens. Vom Tschechischen Rundfunk, bei dem er unter anderem als Musikregisseur tätig war, wird er suspendiert. Auch als Dirigent tritt er nicht mehr öffentlich auf. Der Grund: seine Ehe mit der jüdischen Pianistin Berta Rixová, von der er sich trotz politischen Drucks nicht scheiden lässt. Dass das Ehepaar den Krieg überlebt, grenzt an ein Wunder. Um dem Arbeitslager zu entgehen, wird der Komponist von Freunden in einem Krankenhaus versteckt. Seine Frau flüchtet mit falschen Papieren in den Norden des Landes, arbeitet sich auf einem Bauernhof die Pianistinnenhände wund und entkommt so dem Transport nach Theresienstadt. Zum Weihnachtsfest 1945 schreibt Kabeláč seiner Frau und werdenden Mutter ein friedliches, stilles Wiegenlied. Wieder für Männerchor, allerdings ohne Text.
Angesichts seines persönlichen Schicksals ist es umso erstaunlicher, dass Kabeláč auch in späteren Kompositionen regelmäßig aus seinen Sechs Männerchören zitiert – und zwar explizit den humanistischen Satz, den man auch als sein »Credo« bezeichnen könnte: »Jeder hat irgendwo ein Herz – auch wenn er es nicht bei sich trägt.« Die Sechs Männerchöre wurden bis heute weder aufgeführt, noch eingespielt. Sie sind ein stummes Zeugnis problematischer Geschichtsschreibung und ein eindringliches Zeitdokument.
Ein weiteres Vokalwerk »aus der Schublade« steht sinnbildlich für die Geisteshaltung von Miloslav Kabeláč: Nach dem kommunistischen Putsch 1948 schreibt erseine Kantate Žalost (Kummer). Den Titel sowie den Text für gemischten Chor trägt er erst viele Jahre später in das Autograf ein, aus Sorge vor politischen Konsequenzen für sich und seine Familie. Der Text basiert auf der Dichtung Zkazený svět (Verdorbene Welt) von Karel Jaroslav Erben. Dort beschreibt das lyrische Ich das Gefühl, in einer »verfluchten Welt« voller Lüge und Betrug zu leben, in der Glaube, Liebe und Aufrichtigkeit keinen Platz mehr haben. Kabeláč veröffentlicht diese regimekritische Kantate wohlweislich nicht. Doch als er einen Kompositionsauftrag für die Feierlichkeiten zum 5. Jahrestag der Schlacht bei Dukla erhält, schreibt er seine Kantate fast »wortwörtlich« in eine rein instrumentale Trauermusik für Blasorchester um, die am 9. Oktober 1949 auf dem sowjetischen Flughafen in Prag uraufgeführt wird. Vom Gedankengut und ästhetischem Programm der neuen sozialistischen Regierung distanziert sich Kabeláč Zeit seines Lebens. Er schreibt weder Huldigungskantaten noch Massenlieder.
Miloslav Kabeláč hat den Großteil seines Lebens unter der Herrschaft zweier totalitärer Regime verbracht. Trotz regelmäßiger nationaler und internationaler Erfolge – vor allem in den 1960er Jahren – wurde er als freiheitlich denkender, humanistisch gebildeter und weltoffener Komponist immer wieder in die Schranken gewiesen oder zum Schweigen gebracht. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wurde er zunehmend aus der musikalischen Öffentlichkeit ausgegrenzt, bis zu seinem Tod 1979 und darüber hinaus.
Wer sich in die Musik von Miloslav Kabeláč vertieft, entdeckt nicht nur den Humanisten und Anti-Ideologen, sondern auch den Philosophen und Architekten, den Handwerker und Avantgardisten. Seine Musik besticht durch meisterhafte Beherrschung der Form und Dramaturgie, durch ausgeklügelte Modi und farbenreiche Instrumentation, aber auch durch leidenschaftliche Musikalität, Monumentalität und berührende Verletzlichkeit.

Miloslav Kabeláč wird am 1. August 1908 in Prag geboren. Am Prager Konservatorium studiert er Komposition, Dirigieren und Klavier, erhält Unterricht bei Erwin Schulhoff, Alois Hába und Karel Boleslav Jirák. Neben seiner Tätigkeit im Rundfunk tritt Kabeláč nach dem Studium vor allem als Dirigent in Erscheinung und setzt sich für die zeitgenössische Musik ein. 1936 leitet er die Uraufführung von Der Wunsch des Liebhabers aus den Vier Stücken für gemischten Chor op. 27 von Arnold Schönberg. Im gleichen Jahr heiratet er seine ehemalige Kommilitonin Berta Rixová.

Als im März 1939 die Nationalsozialisten das »Protektorat Böhmen und Mähren« ausrufen, schreibt Kabeláč die Kantate Neustupujte! (Weichtet nicht!) für Männerchor, Blechbläser und Schlagwerk op. 7, Der Komponist bezeichnet sie 1959 als »Aufschrei gegen die Gräuel und die Unmenschlichkeit des Faschismus«. Mit empathischem Blick für die Sorgen der tschechischen Soldaten angesichts der deutschen Übermacht, aber auch mit kämpferischer (nicht kampfeslustiger!) Haltung klingt diese Kantate auf die Melodie des hussitischen Chorals Die ihr Gottes Streiter seid aus, der in dieser bedrohlichen Zeit auch für viele andere Komponisten (zum Beispiel Pavel Haas oder Viktor Ullmann) zum musikalischen Symbol geistigen Widerstands und nationaler Selbstvergewisserung wird.
Schon während des Krieges beginnt Kabeláč die Arbeit an seiner Sinfonie Nr. 1 in D op. 11 für Streicher und Schlagwerk, einem düsteren Werk. Insgesamt acht Sinfonien wird Kabeláč bis 1970 schreiben, jede für eine andere, zuweilen ungewöhnliche Besetzung. Ungetrübte Leichtigkeit stellt sich selten ein in diesen Sinfonien. Religiöse Themen über Leid, Schuld und Menschlichkeit prägen jedoch nicht nur die sinfonischen Werke: Die Sonate für Trompete, Schlagwerk, Klavier und Rezitation mit dem vielsagenden Titel Schicksalsdramen des Menschen streift existentielle Fragen über Leben und Tod, Individuum und Gemeinschaft, Trauer und Trost.
Einen ähnlichen philosophischen Überbau prägt auch das Mysterium der Zeit op. 31 (1956–1957) mit seinem spannungsreichen, dramaturgisch wie architektonisch meisterhaft geformten Bogen. Der Dirigent Jakub Hrůša zählt diese Passacaglia für großes Orchester in VAN zu seinen Lieblingsstücken:
»Die kosmologische Idee, über die Musik und über Töne zu verstehen, was Zeit ist, ist tatsächlich sehr fruchtbringend. Auch wenn man nichts über die Musik weiß, entfaltet sie eine große Wirkung.«
Doch Kabeláč ist nicht nur ein Meister der großen Form. Er komponiert viele Lieder, Klavier- und Kammermusik. Während der politisch höchst angespannten ersten Jahre des kommunistischen Regimes widmet er sich mit besonderer Hingabe Werken für Kinderchor und Klavier bzw. Orchester.
Besonderes Interesse hegt Kabeláč sowohl für die tschechoslowakische Volksmusik (ganz im Geiste Leoš Janáčeks), aber auch für die außereuropäische Musik. Ein Schlüsselerlebnis ist für ihn eine Aufführung des indischen Tänzers Uday Shankar im Jahr 1935 in Prag:
»Für jemanden wie mich, der vor allem in der europäischen Kunstmusik ausgebildet ist, war dieses Treffen eine Offenbarung. […] Ich habe in der Musik dieses Ensembles nach Lektionen und Bereicherung gesucht. Auch im Reichtum der Schlaginstrumente und in ihrer musikalischen, klanglichen und technischen Verwendung. Auf einmal kam mir unser Gebrauch des Schlagwerks barbarisch vor…«
Die Jahre des Prager Frühlings sind für Kabeláč eine Zeit des Aufatmens, Experimentierens, aber auch des nationalen und internationalen Erfolgs. Von dem frisch gegründeten Ensemble Les Percussions de Strasbourg erhält er in den 1960er Jahren zwei Kompositionsaufträge. Seine Otto invenzioni op. 45 und Otto ricercari op. 51 werden 1965 und 1976 in Frankreich uraufgeführt, seine Sinfonie Nr. 7 für großes Orchester und Sprecher beim Festival Prager Frühling 1968 vom Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden unter Ernest Bour. Als Pionier für elektroakustische Musik in der Tschechoslowakei baut Kabeláč in Pilsen ein Studio auf und schreibt seine elektroakustische Komposition E fontibus bohemicis.
Dann kommt der Wendepunkt: Mit der russischen Invasion 1968 und der Rückkehr zur repressiven Politik (der sogenannten »Normalisierung«) in den 1970er Jahren, kehren viele tschechische Künstler:innen ihrem Land den Rücken, Miloslav Kabeláč jedoch bleibt in Prag. Unter dem Eindruck der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings komponiert er seine Sinfonie Nr. 8 op. 54 (1969–1970). Die Uraufführung soll in der Straßburger Paulskirche stattfinden. Antiphonen (Gegenklänge) lautet der Titel dieses Werkes. Die Besetzung ist ungewöhnlich: Neben dem Chor setzt Kabeláč ein Schlagwerkensemble ein, außerdem eine Sopranistin und die Orgel. Die Musiker:innen sind im Kirchenraum verteilt – so entsteht ein immersives Klangerlebnis.
Die 8. Sinfonie beginnt düster, und unübersichtlich – bis aus diesem Chaos die Sopranstimme herausbricht mit den biblischen Worten »Mene tekel upharsin.« (»Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft.«)
Miloslav Kabeláč hat diese Worte bewusst gewählt: mit Blick auf die Machthaber in Moskau. Er kombiniert das Menetekel mit dem mittelalterlichen Dies irae-Motiv als Symbol für die Endlichkeit des Menschen. Die Sinfonie klagt an, bäumt sich wütend auf, versinkt in stiller Klage und schließt in fast unwirklicher Ekstase mit einem Hoffnungsschimmer: dem Halleluja.
Uraufgeführt wird die Sinfonie 1971 in Straßburg im Rahmen eines Hommage-Konzerts für Kabeláč. Die Anreise wird ihm verwehrt. Die Paulskirche steht nicht mal zwei Kilometer vom Europarat entfernt – für den Komponisten ein symbolträchtiger Ort, um die Botschaft seiner Sinfonie zu übermitteln.
Bis zu seinem Tod am 17. September 1979 komponiert Miloslav Kabeláč weiter. Auf eigenem Wunsch ist das Jüdische Gebet für Männerstimmen mit der letzten Opuszahl versehen. Gewidmet ist es seiner Frau Berta. In Tschechien kehrt seine Musik nach der Wende nur zögerlich ins Konzertleben zurück. Und auch dort ist er bis heute selbst für viele professionelle Musiker:innen ein Unbekannter.
Doch vielleicht sind es ja tatsächlich die »unruhigen Zeiten«, die den Wert dieser Musik beweisen: Mehrere geplante CD-Veröffentlichungen (unter anderem beim Label Capriccio mit der Gesamtaufnahme der Kammermusik), Konzerte außerhalb von Tschechien sowie Rundfunkübertragungen zeigen das wachsende internationale Interesse an Kabeláč. Der Dirigent Jakub Hrůša spielt seine Musik zunehmend mit internationalen Orchestern. In einer Portraitsendung über Miloslav Kabeláč im Deutschlandfunk Kultur sagt Hrůša:
»Ich bin überzeugt: Hätte er in einem künstlerisch freien Umfeld gelebt, wäre aus ihm ein bedeutender internationaler Komponist geworden – und nicht nur ein regionaler.« ¶