Der Mensch ist gut, nur die Leut’ san bös. Ein alter Kalauer, er wird wahlweise Johann Nestroy, Erich Kästner oder Karl Valentin zugeschrieben. Doch egal, wer von den dreien ihn erfunden hat: Der zivilisationskritische Topos, der sich darin verbirgt, ist noch viel älter. Er reicht zurück bis zur antiken Polis. Dabei sind es durchaus nicht immer nur die großen Städte, Sodom am Toten Meer, Babylon am Euphrat, Mahagonny oder Gotham, in denen das Böse unter dem Pflaster brütet und gute Menschen sich in schlechte verwandeln. Manchmal erwischt es auch idyllische Kleinstädte wie Hawkins, Indiana. Oder einsame, abgelegene Bergdörfer, wie Dogville, in den Rocky Mountains.

Als Lars von Trier im Jahr 2003 für seinen Film Dogville in Cannes gefeiert wurde, behauptete er, dies sei eigentlich gar kein Film. Was sonst? Zuerst wird das böse Dorf aus der Vogelperspektive gezeigt, Straßen und Häuser sind mit Kreide auf einen Bühnenboden gemalt, im Prolog stellt ein Erzähler aus dem Off die Bewohner vor. Dann werden sie in Nahaufnahme unter die Lupe genommen, am Ende der Versuchsreihe sind sie tot. Man könnte also von einer Vivisektion sprechen, mit stark reduzierten filmischen Mitteln, wobei, typisch für Trier, auch das Brecht-Theater Pate stand. Der Komponist Gordon Kampe hat das Ganze jetzt im Auftrag des Aalto-Theaters Essen in eine Oper transformiert und sich das originale Filmskript selbst zum Libretto zusammengekürzt.

Ensemble • Foto © Matthias Jung

In der Musik sind natürlich ganz andere Mittel gefragt. Ein Erzähler, wie in einem Märchen, wäre wohl denkbar, aber den hat Kampe gestrichen. Stattdessen stellen sich die Versuchskaninchen im Prolog selber vor. Eines nach dem anderen trabt am Premierenabend auf die Bühne und singt ein paar Töne, einen halben oder auch zwei, drei Sätze, mit oder ohne Triller, süß oder scharf, im Stakkato oder mit Legato, tief oder hoch. Schon wissen wir, wes Geistes Kind sie sind.

Das geht sehr einfach los, mit einem aufspringenden Posaunenglissando in es-Moll, als würde da ein Vorhang aufgezogen. Natürlich gibt es keinen, die Bühne gähnt schwarz, offen, leer. Einmal es-Moll, zack, das reicht schon aus. Und schon steht Tom Edison Jr. auf der Bühne, in Bluejeans, mit Baseball-Cap und ruft fröhlich: »Good evening, Chuck!« Chuck (Heiko Trinsinger) ist ebenfalls ein Bariton, ebenso wie der junge Tom (Tobias Greenhalgh), nur deutlich dunkler, mit Ausreißern in hohe, sarkastische Register. Es-Moll ist eine selten benutzte Tonart. Bei den Alten, die noch nicht in wohltemperierter Stimmung dachten, schrieb man ihr scheußliche Wirkung zu. Als »horrible & affreux« bezeichnete Marc-Antoine Charpentier anno 1690 ihre Eigenschaft, sie sei von »schwärzester Schwermut«, so sein Kollege Christian Friedrich Daniel Schubart, der in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (1784) schreibt: »Wenn Gespenster sprechen könnten, so sprächen sie ungefähr in diesem Ton.« Kampe stammt aus dem ruhrpöttischen Schmelztiegel, er hat unter anderem bei Adriana Hölszky in Rostock studiert. Vielleicht kennt er sich deshalb ganz gut aus mit kaputten Typen aus bizarren Soziotopen. Aber vor allem, das kann man auch aus anderen Kampe-Musiken erfahren, ist er einer von denen, die das Fürchten nicht gelernt haben, nicht vor Gespenstern oder vor altmodischer Tonmalerei, weder vor kleinen Scherzen noch vor groß besetzten Symphonieorchestern.

Foto © Matthias Jung

Die Essener Philharmoniker unter Leitung von Tomáš Netopil leisten ganze Arbeit. Viel exotisches Schlagzeug sitzt mit im Graben, neben den Harfen und der Celesta auch Gongs und singende Sägen. Das eine braucht Kampe für die zuckersüß vergiftete Lyrik. Anderes für beunruhigende Geräusche. Aber nie hat man, trotz der Vielfalt der Klänge, den Eindruck von Manierismus. Alles wirkt mächtig und durchsichtig zugleich, wie aus einem Guss. Genauso individuell wie die Celesta agieren die Blech- und Holzbläser, die Geigen und Kontrabässe, oder, beispielsweise, die hohe Flöte, die den blinden alten Jack McKay (Andrei Nicoara) durch seine Einsamkeit begleitet. Diesem Mister McKay würde man wohl als letztem etwas Böses zutrauen. Er vergreift sich auch erst kurz vor Schluss, an dem Mobbingopfer des Dorfkollektivs, sei es aus Feigheit oder Dummheit. Der erste indes, der brutal herfällt über das Mädchen Grace ist besagter Apfelbauer Chuck, der mit den hohen Schnapp-Atmern. Eigentlich ist er nur ein mürrischer alter Trottel, der alles immer zweimal-zweimal sagt, drei ungezogene Kinder sein eigen nennt sowie einen unsichtbaren Hund. Wird aber laufend ausgezankt von seinem Weib Vera (Marie-Helen Joël), die ihrerseits, deutlich sichtbar, wieder schwanger ist und chronisch unzufrieden, weshalb sie sich, ebenfalls als erste, mit anderen Frauen des Dorfes gegen Grace, die blonde, schöne, geheimnisvolle Fremde, verbündet. 

Marie-Helen Joël (Vera, Chucks Frau), Lavinia Dames (Grace), Maartje Rammeloo (Liz Henson) • Foto © Matthias Jung

Einzeln bedauernswert, gemeinsam: ein Mob. So wird aus jedem armen Wurm in dieser verbiesterten Normalo-Gesellschaft unweigerlich der Wolf der anderen. Dass sie genauso aussehen, wie sie klingen, dafür haben Kostümbildnerin Tabea Braun und Regisseur David Hermann perfekt Sorge getragen, in verräterischen Pastelltönen, sparsamen Gesten. Spektakulär das bewegliche Bühnenbild von Jo Schramm! Er hat eine schräg ansteigende Rampe hineingebaut ins schwarze Nichts, von, wie das Programmheft stolz vermerkt, 57 Meter Länge. Montiert wurde sie auf einen Bühnenwagen. Und so zieht langsam und lautlos das Dorf an uns vorbei, aus Sperrholz gebaut, in lauter durch Türen verbundenen Einzelzimmern, eineinhalb Stunden lang. Während das Edle, Gute, Schöne also kontinuierlich links im Orkus versinkt, steigert sich nach rechts hin, bildlich, der Horror.

Lavinia Dames (Grace) • Foto © Matthias Jung 

Einzig die junge Grace bleibt exterritorial. Im Film ist Grace als Figur, dargestellt von Nicole Kidman, menschlich kommensurabel und Teil des Spiels. In der Oper jedoch: zu schön für diese Welt. Ist vielleicht gar kein Mensch, sondern nur ein Katalysator, eine Art Lackmuspapier. Strahlend klar gesungen von Lavinia Dames, mit ihren hell leuchtenden Kantilenen, taucht sie auf aus dem Nebel, wie eine Lorelei, ganz in weiß. Betört den jungen Tom, der sich für einen tollen Hecht hält, aber sich alsbald selbst als hohler Schwätzer entlarvt. Und auch das Kind Jason (Len Peris Beier) – das bereits die gleiche Apfelbauer-Latzhose trägt wie sein Vergewaltiger-Papa, nur eben ein paar Nummern kleiner – entpuppt sich im Duett mit Grace als Inkarnation des Bösen. Die ihm von Kampe zugedachte, silbrig-fahl schwebende Melodie ist eine Hommage an den Gesang des kleinen Miles, dem Monsterkind aus Brittens Oper The Turn of the Screw

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Wie das enden muss, weiß man aus dem Kino, aus Dogville wie aus anderen Rape-and-Revenge-Filmen. Eine Frau sieht rot. Aber auch diesbezüglich hat die Opernbühne noch ein paar Extraknaller parat, die hier nicht gespoilert werden sollen. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.