Mit seinen über 80 Opernhäusern ist Deutschland für junge Sängerinnen und Sänger aus aller Welt eine Art Sehnsuchtsort. Doch nur wenigen von ihnen gelingt der Schritt auf die Bühne, denn die Konkurrenz ist riesig und die staatlich finanzierten Opernstudios bieten nur wenige Plätze. Auf dem überfüllten Markt wollen private »pay-to-sing«-Programme ehrgeizigen Nachwuchskünstlern gegen teures Geld einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Können sie ihr Versprechen halten?

»Während meiner Studienzeit  waren die meisten Gesangsstudenten wahnsinnig beschäftigt damit, Theoriekurse zu besuchen und Aufsätze über Schubert zu schreiben. Schon damals habe ich mich gefragt: Was nützt das auf der Bühne? Das interessiert niemanden! Du musst nur gut singen und schauspielern. Also habe ich beschlossen, mein eigenes Ding zu machen«, berichtet Opernsänger Mark Sampson, Gründer und künstlerischer Leiter der Berlin Opera Academy (BOA). Dieses jährlich stattfindende Sommerprogramm verspricht jungen Sängern den letzten Schliff und einen Fuß in die hart umkämpfte Tür der Opernindustrie. Es gehört zu den vielen kostenpflichtigen Kursen, die unter Sängern auch »pay-to-sing«-Programme genannt werden.

Die BOA liefert, was viele Hochschulen nach Sampsons Erachten nicht zur Genüge leisten: Praktische Bühnenerfahrung und direkte Kontakte ins Business. Erfolgreiche Bewerber bringen unter professioneller Anleitung Fachpartien aus dem Standardrepertoire in voll kostümierter Inszenierung inklusive Orchesterbegleitung zur Aufführung. Im Sommer 2023 stehen die Zauberflöte, Così fan tutte, Ariadne auf Naxos und Orpheus in der Unterwelt auf dem Programm. Jede Oper wird dreifach besetzt, zusätzlich gibt es Schauspielworkshops, Vocal Coaching, Vorsingtraining: Am Ende des Programms werden die hoffnungsvollen Talente einem Agenten vorgestellt. In den FAQ seiner Website verspricht die BOA ihren Teilnehmenden die Chance auf Weiterbeschäftigung an professionellen Opernhäusern und listet Alumni auf, die es auf kleine, mittlere und große Bühnen geschafft haben. Mark Sampson räumt allerdings ein: »Viele von denen waren schon großartige Sänger, bevor sie zu uns kamen und wären vielleicht auch so ihren Weg gegangen.«

Wie das Lyric Opera Studio Weimar – ebenfalls gegründet von Mark Sampson – legt auch die Berlin Opera Academy einen speziellen Fokus auf die Bedürfnisse junger Talente aus dem Ausland. Die suchen Anschluss in der großzügig subventionierten deutschen Musiklandschaft und wollen deshalb nicht nur singen, sondern auch Deutsch lernen. »Im Jahr 2019 gab es in ganz Nordamerika 1800 Opernaufführungen. In Deutschland allein waren es 9.000«, erklärt Sampson die Attraktivität des Kulturstandorts Deutschlands. Auch den amerikanischen Tenor Darell Haynes zog es hierher. 2017 packte er seine Koffer, um an der Berlin Opera Academy den Prinz Tamino in Mozarts Zauberflöte zu singen: »Das war für mich die Gelegenheit, meinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland zu verlegen.« Neben einem Rollendebüt bescherte ihm seine Reise ein neues berufliches Netzwerk: »Mit einigen der Coaches, die ich dort kennengelernt habe, arbeite ich heute noch.« Schließlich ergatterte er ein Vorsingen für den Extrachor der Deutschen Oper Berlin, wo er heute als freiberuflicher Chorsänger bei einzelnen Produktionen aushilft. »Ohne die Teilnahme an der BOA wäre das auf keinen Fall möglich gewesen«, sagt Haynes.

Foto: Kulturamt Lindau (CC BY-SA 4.0)

Die Aussicht auf Networking und Bühnenerfahrung macht »pay to sing«-Programme auch für den deutschen Nachwuchs interessant: Sopranistin Katharina Holzapfel verbrachte gleich zwei Sommer hintereinander beim Opera Performance Studio des Trentino Music Festivals. Dort genoss sie die Bergluft der italienischen Dolomiten und den Input renommierter Fachleute, darunter die erfolgreiche Sopranistin Jeanne-Michèle Charbonnet und Jane Robinson, Vocal Coach an der English National Opera. »Davon habe ich enorm profitiert«, erzählt die heute 27-Jährige dem VAN Magazin: »2018 habe ich den Oberto in Alcina gesungen und 2019 die Flora in The Turn of the Screw und außerdem Annio in La clemenza di Tito. Die Chance, eine ganze Rolle szenisch mit Orchester zu singen, war mir zu dem Zeitpunkt durch die Hochschule noch nie geboten worden – meiner Meinung nach übrigens ein großer Makel an den Hochschulen. In Trentino bin ich über mich hinausgewachsen, habe wichtige Erfahrungen gesammelt und wurde darauf vorbereitet, wie ich mich professionell in einem Engagement verhalte.«

Doch nicht alle haben so viel Glück. Eine deutsche Gesangsstudentin, die anonym bleiben möchte, schreibt in einer E-Mail an VAN über ihre Zeit an einer österreichischen »pay-to-sing«-Akademie: »Die Proben bestanden darin, dass etwa dreißig Menschen den ganzen Tag lang in einem Kellerraum saßen und sich gegenseitig dabei zuhörten, wie sämtliche Terzette und Duette sechsmal hintereinander in verschiedenen Besetzungen durchgesungen wurden – wirklich musikalisch geprobt wurde so gut wie gar nicht, da die meisten Proben nicht vom musikalischen Leiter selbst, sondern von ebenfalls zahlenden und unerfahrenen Dirigier-Assistent:innen geleitet wurden. Fast noch schlimmer waren allerdings die szenischen Proben. Wir wurden einfach nur gestellt. Uns wurde gesagt, wo wir wann zu sein hatten und welche Gesichter wir zu machen hatten.«

Auch nützliche Kontakte gab es nur teilweise: »Uns war ein Vorsingen bei Agenturen versprochen worden – es handelte sich um die Agenten der beiden Academy-Leiter. Jeder von uns bekam genau 5 Minuten, um bei denen vorzusingen, und am Ende erhielten wir nicht mal das versprochene Feedback. Viele der Sänger:innen, die aus den Staaten angereist waren, hatten große Hoffnungen in diese Akademie gesetzt. Für sie tat es mir ganz besonders Leid.«

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Diese enttäuschende Erfahrung hat die Studentin knapp 2.000 Euro gekostet – für ein »pay to sing« ein vergleichsweise günstiger Preis. Das Trentino Music Festival kassiert für eine komplette Opernpartie ganze 5.000 Euro. Bei der Berlin Opera Academy kommt eine ähnlich hohe Summe zusammen, bei Bedarf kann noch ein Explore Berlin & Transport Package oder ein Visa Application Consultation Package für je 500 Euro dazu gebucht werden. 

5.000 Euro für einmal Bühnenluft schnuppern – lohnt sich das? Die ehemaligen Teilnehmenden sind sich nicht sicher: »Als ich jünger war, war das leichter finanziell zu stemmen als jetzt als freischaffende Sängerin. Da ist es fast undenkbar, mal eben ein paar Tausend Euro übrig zu haben für so ein Programm – vor allem weil man in der Zeit ja auch keine Einnahmen hat«, meint Katharina Holzapfel. Auch Darell Haynes findet: »Es kommt auf die Rolle an. Königin der Nacht? Auf jeden Fall. Zweite Dame? Eher nicht. Als ich damals mitgemacht habe, war in der Teilnahmegebühr die Unterkunft mit enthalten, das hat sich inzwischen geändert. Würden sie mir heute den Tamino anbieten, aber ohne Unterkunft, würde ich nein sagen.«

Dass sich solche Preise nicht jeder leisten kann, liegt auf der Hand. Auch angesichts der geringen Gagen für Solisten erscheint die Investition in ein »pay to sing« nicht unbedingt verhältnismäßig. Zwar liegt die monatliche Mindestgage für Festangestellte im NV Bühne Solo seit 1. Januar 2023 immerhin bei 2.715,00 Euro, für Gastsänger:innen beträgt sie jedoch nur 271,50 Euro pro Vorstellung und 135,75 Euro pro Probentag. Selbst wer nach einem erfolgreich absolvierten »pay to sing« ein Folgeengagement erhält, muss viel arbeiten, um dieses Geld wieder reinzukriegen.

Ob es jemals zu so einem Vertrag kommt, bleibt ungewiss. Sascha Krebs, Künstlerischer Betriebsdirektor am Theater Magdeburg, hat jedenfalls so seine Zweifel: »Wenn eine Sängerin die Tatjana nur bei einem ›pay to sing‹-Programm gesungen hat, verschafft ihr das bei mir keinerlei Vorteile gegenüber anderen Bewerberinnen, wenn ich Eugen Onegin zu besetzen habe. Ich denke, das viel sinnvollere Ausbildungsprogramm für junge KünstlerInnen ist die Teilnahme an einem Opernstudio der großen Häuser.«

Doch genau da liegt das Problem. Der Andrang auf die heiß begehrten Opernstudioplätze ist enorm. Für das Düsseldorfer Opernstudio der Deutschen Oper am Rhein bewarben sich nach Angaben der Studioleitung für die Spielzeit 2022/2023 allein etwa 600 Sänger:innen auf 8 Stellen – davon waren über 300 Sopranistinnen. Bei den anderen großen Studios in Köln, Berlin, Frankfurt, München und Dresden dürfte es nicht viel besser aussehen.

Hunderte, wenn nicht Tausende frustrierte Nachwuchssänger haben das Nachsehen und private Anbieter können leicht Kapital aus ihren enttäuschten Hoffnungen schlagen. Auf individueller Ebene mag ein »pay-to-sing«-Programm nicht mehr als ein gutes oder schlechtes Erlebnis sein. Auf struktureller Ebene jedoch gehören sie zum Krankheitsbild eines Marktes, in dem Angebot und Nachfrage aus dem Gleichgewicht geraten sind und junge Künstler teuer für ihre Träume bezahlen müssen. ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).