Lucerne macht keine halben Sachen. Zumindest könnte man das meinen, wenn man sich zwischen August und September durch die kleine Stadt bewegt, über die Brücke gegenüber vom Hauptbahnhof spaziert, am Ufer des großen Sees entlang. Nicht nur gefühlt jedes Schaufenster, jede Plakatwand, jeder Bus trägt hier Farben und Logo des Festivals, auch das große Glas-Ufo KKL direkt neben dem Bahnhof und dem Fährhafen – und auch über den Straßen schweben kleinere und größere »Lucerne Festival«-Banner, aufgespannt an Seilen, und wehen wie Fahnen im Wind. Mit dem gleichen Selbstbewusstsein nämlich präsentierte das Festival das diesjährige Motto »Diversity« und druckte das Wort an jede sich bietende Stelle, unter anderem auf die Rückseite der Programm- und Infohefte. So trugen die Besucher:innen das Bekenntnis bewusst oder unbewusst als Slogan auch in ihre privaten Räume, Hotels und Cafés hinein.

Manche von ihnen werden den Schlachtruf dabei vielleicht eher im Sinne der Grafiker:innen dieser Flyer und Plakate verstanden haben: Auf einem Schachbrett stehen sonst nur schwarze und weiße Figuren, hier in Luzern aber spielen wir mit grünen, gestreiften, rosafarbenen. Kritiker:innen schöpften unter anderem aufgrund dieser Bildsprache den Verdacht, das Ganze möge eher dem guten Ruf des Festivals dienen und sei kein wirklich ernstgemeinter Vorstoß, nämlich vielmehr sogenanntes »Diversity-Washing« – echte Veränderung wäre in diesem Kontext eigentlich nicht gewollt. Man male eben dieses Jahr die Schachfiguren bunt an, unterstellten manche dem Festivalteam, spiele aber nach wie vor Schach nach den bekannten Regeln (und im nächsten Jahr dann wieder in Schwarzweiß).

Der Vergleich bewahrheitete sich in der Vergangenheit in anderen Kontexten immer wieder: Schwarze oder Künstler:innen of Color wie die Komponistin Eleanor Alberga nutzten nicht ohne Grund mehrfach die Gelegenheit auf Podien oder in Interviews darum zu bitten, doch lieber »regelmäßig eingeladen zu werden und nicht nur während des Black History Month«. So wie mit Komponistinnen und Dirigentinnen irgendwann auch nicht mehr vor allem über ihr Frausein gesprochen wurde, sondern sie über die Jahre hinweg zu einer wachsenden Selbstverständlichkeit auf Bühnen wurden, so sollte es sich hinsichtlich »echter« Diversity auch entwickeln in Bezug auf Künstler:innen und Akteur:innen, die nicht weiß sind, nicht binär, die trans* sind oder mit Behinderung  leben – so zumindest die Theorie.

Mit Lucerne ist nun eines der wichtigsten Klassikfestivals Europas auf den Zug aufgesprungen: Statt Beethoven satt programmierte das Team unter anderem Musik von 24 Komponistinnen und 16 Schwarzen Komponist:innen, lud sieben Dirigentinnen ein und die beiden Institutionen des Chineke!-Orchestra. Deren Gründerin Chi-Chi Nwanoku hielt die Eröffnungsrede des Festivals, und die Schwarze Sängerin Golda Schultz und der Schwarze Komponist, Schlagzeuger, Pianist und Posaunist Tyshawn Sorey waren in diesem Sommer die »artistes étoiles«. An einem Nachmittag hielt unter anderem die Autorin Mithu Sanyal das Impulsreferat für einen Talk zum Thema »Diversity«.

Gleichzeitig fiel auf: Rangierte ein Konzert nicht explizit unter der Diversity-Flagge, regnete es ungebrochen Beethoven, Mahler, Debussy, Ravel, Prokofjew, Wagner, Brahms, Dvorak, Schumann, Mozart, Bruckner, Schubert und so weiter. Dies ließ vor dem Hintergrund des Festivalmottos den Eindruck entstehen, dass man sich dann doch nicht so weit aus dem Fenster lehnen wollte.

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In den Augen von Intendant Michael Haefliger ist Lucerne jedoch spätestens seit 2016 jedes Jahr an den laufenden gesellschaftlichen Debatten beteiligt gewesen und hat sich entsprechend positioniert – als Beispiel nennt er im Interview das Motto »Primadonna« im Jahr 2016 und einen Schwerpunkt mit Geflüchteten im Folgejahr. Doch gab es auch damals Kritik daran, dass das Festival die Dirigentinnen beispielsweise an einem »Erlebnistag« auftreten ließ – oder an der Plakatgestaltung: Darauf hält eine filigran gezeichnete weiße Hand mit rot lackierten Nägeln und einem Perlenarmband am Handgelenk mit spitzen Fingern einen Taktstock. Das roch für manche weniger danach, Frauen in der Musik zu »ehren« als sie vielmehr zu exotisieren.

In diesem Jahr scheint Haefliger diese Schwierigkeit jedoch reflektiert zu haben: »Es ist nicht einfach, rüberzubringen, dass Florence Price mit dem Philadelphia Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin keine exotische Musik ist, sondern genau das, was das Publikum kennt und mag«, sagt er im Gespräch mit VAN.

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Die Frage ist nur: Wieso kommt die Dramaturgie überhaupt auf die Idee, eine Sinfonie von Florence Price könnte, noch bevor irgendein Ton erklungen ist, auf das Publikum »exotisch« wirken? Die Musik einer Schwarzen Frau ist an diesem Ort vom ersten Moment an als »anders« markiert – anders als das, was man vermeintlich kennt – dabei ist ihre Musik spätromantisch, klassisch, sinfonisch und voll tänzerischer Raffinesse. Price zitiert hier und dort Melodien amerikanischer Indigener, einige ihrer Tänze erinnern klanglich an den Stil Dvořáks, Coplands oder Korngolds. Trotz der anfänglichen Unsicherheit, so Haefliger, habe das Publikum überwiegend positiv reagiert und beispielsweise das Chineke! Junior Orchestra mit Werken unter anderem von Samuel Coleridge-Taylor und Stewart Goodyear minutenlang bejubelt und beklatscht.

Es stellt sich dennoch die Frage: Ist nun das Motto an sich nicht auch eine eher problematische Kennzeichnung, die zwangsläufig Othering und Tokenism nach sich zieht, ja beides sogar im selben Moment vereint? Schafft man mit der Betitelung »Diversity« nicht vielmehr einen exotisierten Extraraum neben dem als »normal« gekennzeichneten Betrieb? Die Sache ist komplex: Einerseits führt Repräsentation in beinahe jeder Form dazu, dass Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, ermutigt werden, einen ähnlichen Weg einzuschlagen. Jemanden im Fernsehen, auf der Opernbühne, im Parlament zu sehen, »der aussieht wie ich«, kann ein empowernder Moment sein – und gleichzeitig lernt eine auf Diskriminierung gegründete Gesellschaft, dass Menschen aus marginalisierten Gruppen sehr wohl Individuen, Expert:innen, Profis sein können.

Andererseits verändert sich kaum etwas an diskriminierenden Strukturen, wenn man eine Frau in den Vorstand wählt oder eine Schwarze Person zur Chefdirigent:in. »Einfach nur ein Orchester wie das Chineke! zu programmieren, macht noch kein diverses Festival«, sagte dazu Chi-Chi Nwanoku in ihrer Eröffnungsrede. »Dem Engagement für ein diverseres Programm muss auch ein Engagement für die Entwicklung eines diverseren Publikums gegenüberstehen. Das ist ein Langzeitjob, der Entschlossenheit und harte Arbeit erfordert.« Sie fragte ins schweigende Publikum: Überlegten sich denn die Dramaturgieteams, welches Publikum sie adressieren wollten? Machten sie sich Gedanken beispielsweise über die Barrieren, die es Menschen erschweren, die Häuser zu betreten und Musik zu hören? Sei ihnen klar, wie privilegiert man sein müsse – und zwar auch finanziell –, um überhaupt in der Lage zu sein, ein Instrument zu lernen? »Diversität ist ein konkretes Problem, das konkrete Lösungen braucht«, so Nwanoku. »Dazuzugehören ist ein menschliches Grundbedürfnis. Jeder verdient es.« In Luzern applaudierten die Zuhörenden.

Auch Mithu Sanyal hob in ihrem Impulsreferat immer wieder hervor, dass es nicht darum gehen dürfe, einfach nur in einem Jahr die Bühne zu öffnen für nichtweiße Musiker:innen – welche positiven Effekte das im Nachgang auch haben mag –, sondern dass der entscheidende Faktor die Umverteilung und Neustrukturierung von Machtverhältnissen bis hin zur Abschaffung von Macht sei: »Kapitalismuskritik, Kapitalismuskritik, Kapitalismuskritik«, sagte sie, dürfe vor dem Hintergrund der hitzig geführten Debatten um Diversität nicht vernachlässigt werden. Hier klopfte das Thema auch schnell wieder an Michael Haefligers Tür: »Warum tut sich gerade die klassische Musik so schwer, wenn es um Diversität geht?«, fragte Sanyal während des NZZ-Podiums die wohl mächtigste Person in der Runde, den einzigen Mann und Dirigenten Adam Fischer –, doch der beantwortete sie nur mit einem Schulterzucken. »Vielleicht hat es mit der streng hierarchischen Situation der großen Häuser zu tun«, antwortete Sanyal schließlich selbst und wusste, dass sie Recht hat.

Nun müsste auch Lucerne – sofern sie es wirklich ernst meinen – auch einen Blick hinter die eigenen Kulissen werfen. Immerhin habe es im Vorhinein des Festivals eine interne Beratung gegeben, erzählt Michael Haefliger, mit einer Schwarzen Expertin, von der man sehr viel gelernt habe. Man habe die eigene Teamstruktur analysiert und sei zu dem Schluss gekommen, dass es da in einigen Aspekten noch was nachzuholen gebe. Wie man nun sicherstellen wolle, dass der ganze Vorstoß nicht wieder verpufft, scheint zumindest im Gespräch zu sein: »Es besteht immer die Gefahr, dass man in den gleichen Trott zurück verfällt«, sagt Haefliger und verrät, dass man eine Stelle für Nachhaltigkeit beim Festival einrichten wolle, die darauf achten soll, dass eben genau das nicht passiere.

Was Lucerne in diesem Jahr vorgelegt hat, ist, so sehr man es auch kritisieren kann, ein wertvoller Beweis: Dieses Programm bildet etwas mehr ab als das, was sich bei anderen großen Häusern und Orchestern im Jahr 2022 finden lässt. Und es scheint trotzdem zu funktionieren. 

In Luzern strahlt am Abreisetag die Sonne auf den See, die Berge erscheinen bei der klaren Luft näher als sonst. Es geht kein Wind, die Wimpel über den Straßen hängen schlaff herunter. Inwieweit der Diversity-Vorstoß hier lebendig bleibt, können erst die Programme der nächsten Jahre zeigen – unter einem anderen Motto, aber hoffentlich mit einem Blick für Vielfalt, der so selbstverständlich geworden ist, dass man ihn sich nicht mehr groß auf die Fahnen schreiben muss. ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.