Neuerungsversuche, bemühte Leitmotive, großartige Musik und dann diese Akustik. In Luzern behält man die Contenance.
Text Bastian Zimmermann · Fotos © Lucerne Festival
»Schubert ging es nie um Ruhm und Glamour, sondern allein um die Kunst und die Wahrheit!«, so tönt es aus dem Hintergrund. Es ist schon Samstagnachmittag: Ich schaue auf den Vierwaldstättersee. Am anderen Ufer liegt Luzern, die Promenade, das historische Grand Hotel Palace, vor sich die historische Badeanstalt, dahinter die Berge. An meinem Ufer schiebt sich ein Vordach von gigantischem Ausmaß von oben in mein Blickfeld, ein graziles, schwarzes, eckiges, Monstrum. Ich schaue wieder vor mich, in mein Programmheft. »Bla, bla, bla, Schubert«, höre ich wieder hinter mir. Ich drehe mich um. Ein Mann, behangen mit Tüten, einem alten Chapeau Claque auf dem Kopf und sichtlich der Realität etwas entrückt, hatte wohl heimlich aus meinem Programmheft vorgelesen. Da geht es gerade um die Starpianistin Maria João Pires, der wiederum es nur um die Kunst gehe. Geboten wird an diesem Abend Schuberts Unvollendete (Sinfonie in h-Moll), gefolgt von Mozarts Klavierkonzert und der Jupitersinfonie, in diesem wahnsinnigen Kultur- und Kongresszentrum Luzern, das sich hinter mir auftut, das über unserer Szene thront − mit einem der besten Konzertsäle der Welt. Der Mann formulierte sein Wortspiel also mit Spott, für ihn kann im KKL, dieser Inkarnation von Geld und Hochkultur, schon per se keine Kunst und Wahrheit stattfinden. Gekommen ist er trotzdem.
Krieg und Krisen gibt es in Luzern eher nicht. Das Lucerne Festival wurde 1938 gegründet, mitten im Krieg, und es wurde groß während des Kriegs. 1943 gründete es das Schweizerische Festspielorchester, eine Ansammlung Schweizer Elite-Musiker/innen der Zeit. Während der Russlandfeldzüge führten sie in fünf Sinfoniekonzerten unter anderem Beethovens Neunte auf. Das Festival ist mit rund 30 Orchesterkonzerten eines der teuersten der Welt. Die besten Orchester und Dirigenten der Welt werden eingekauft und zu entsprechenden Preisen für ein entsprechendes Publikum angeboten. »Das erste Geschäft hat aber schon geschlossen!«, erzählt mir ein sympathischer Berufsschullehrer am Freitagnachmittag im Café. Der schlechte Wechselkurs lasse Touristen ausbleiben, Deutsche sehe man kaum noch, jetzt sind es eher die Asiaten, Inder und Araber. Aber dass Deutschland nun 800.000 Flüchtlinge aufnehme, unvorstellbar! Gedanken macht man sich also in Luzern.
Und erstaunlicherweise sucht auch das Lucerne Festival nach neuen Wegen abseits des Sinfoniekonzerts, um … ja, wozu eigentlich? Um ein neues Publikum zu gewinnen? Dem Festival mehr gesellschaftliche Relevanz zu verleihen? Die Entwicklung der Künste voranzutreiben? Dieses Jahr gab es Moderne und Postmoderne im Konzertsaal, Pop in der Festivallounge und sogar Straßenmusik in den Gassen Luzerns. Beethovens Fünfte wurde entthront, mit einem Orchester, das aus zusammengenagelten und -geleimten Instrumenten aus dem Baumarkt besetzt war. Das ist wunderbar. Die Schöngeisterei der bürgerlichen Hochkultur verlangt jedoch eigentlich nicht danach. Und ob sich ein alternatives, junges Publikum jährlich nach Luzern aufmachen wird, steht nach erster Sichtung der KKL-Promenade auch noch in Frage.
Anders in der Sache und darin überaus erfolgreich ist jedoch das 2003 durch Pierre Boulez mitbegründete Lucerne Festival Academy Orchestra, das mit über 100 jungen Musiker/innen aus der ganzen Welt viele Konzerte des Festprogramms bestreitet, sowie seit 2013 das Kompositionsförderprogramm der »Roche Young Commissions« – ebenfalls Boulez´ Schöpfung – die alle zwei Jahre zwei Komponist/innen mit einem Auftrag kürt. So bekommt man junge Leute und viel Neue Musik nach Luzern. Zusammengehalten wird das fast sechswöchige Programm seit der Intendanz von Michael Haefliger, von einem Festivalmotto: 2013 war es zum Beispiel die »Revolution« danach die »Psyche« und nun der »Humor«!
Humor ist natürlich ein schwieriges Motto. Vereinend und stark abgrenzend zugleich, können die Geschmäcker, gerade wenn man sich einem neuen Publikum öffnen möchte, das nicht den distinguierten Witz der Upperclass teilt, weit auseinanderdriften. Schauen wir beispielswiese auf den composer in residence, den Schweizer Jürg Wyttenbach: In Cortège pour violon, accompagné de »La Fanfare Harmonie du village« versammeln sich am Samstagmittag die Musiker/innen der Jungen Philharmonie Zentralschweiz nach und nach vor dem berühmten, auf eine Leinwand projizierten Gemälde Un enterrement à Ornans von Gustave Courbet, in dem sie einer nach dem anderen eine der Figuren musikalisch porträtieren. Die im Programmtext angebrachte Entschuldigung, dass Wyttenbach hier mit der Unbeholfenheit der Musiker kompositorisch arbeite, konnte man jedoch nicht ganz ernstnehmen − oder eben mit Humor. In dem neuen »Madrigalspiel« Der Unfall setzt Wyttenbach jedoch am Freitagabend erfolgreich auf tradiertere Formen der Ironie. »Wäre ich ein Musiker gewesen, wäre ich nicht überfahren worden!« Der Sprecher Silvester von Hösslin bot auf der Bühne des Luzerner Theaters in guter Stand-Up-Manier einen Text des schon in den 70er Jahren verstorbenen Literaten Mani Matter dar, der von der peinlichen Obsession handelt, irgendwie den Hergang eines Unfalls plausibel zu erfassen. Die acht Sänger und Sängerinnen der Baseler Madrigalisten, drei weitere Solisten wie auch ein Pantomime performen hierzu einzelne, kleine Szenen, bei denen Musik und Handlung sich auf wunderbar simple wie subtile Weise verbinden. Die Theaterbühne kann hier etwas bieten, das dem Konzerthaus versperrt bleibt: Kleinbürgerliche Kleinkunst, Musik also für ein anderes Publikum als das der Hochkultur. Damit war aber schon in der Programmierung des Festivals die Trennung der Schichten durch den Humor zu spüren. Die Menschen im Konzert sind nicht die im Theater, sind nicht die im neuen 40-Minuten Sonderprogramm des Festivals, das als »letzte« Kategor
ie sogar verlauten lässt: »Einen Dresscode gibt es nicht, Vorwissen ist nicht nötig, und auch der Eintritt ist frei. Hier können Sie einfach einmal Festivalluft schnuppern …«
Der Sonntag galt wieder der Hochkultur, der wohlangebrachten Hommage an Boulez, der heuer Neunzig wurde, aber wegen Alter und Krankheit leider nicht kommen konnte. Der Dramaturg Mark Sattler beschrieb in dem festivaleigenen Blog den Tag als eine Art Gipfelerklimmung – die sich tatsächlich lohnte. Mit acht Werken von Boulez und acht neuen Werken befreundeter Komponisten wurden in fünf aufeinanderfolgenden Konzerten wichtige Stationen im Schaffen von Boulez durchschritten. Die Musiker des Ensemble Contemporain und der Lucerne Festival Academy wie auch die Zuschauer waren in dem zehnstündigen Marathon aufs Äußerste gefordert. Aus dem Tagesprogramm sind insbesondere die Aufführungen der beiden Boulez-Werke sur Incices aus den 90er-Jahren und Rituel in memoriam Bruno Maderna aus den 70er Jahren zu erwähnen. Ersteres schuf Boulez in der Besetzung für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger, um die einzelnen Klangtexturen nach und nach zu einem von den Musikern des Ensemble intercontemporain in den Klang eines einzigen Mega-Klaviers zu verweben. In den heutigen Diskussionen um fehlende Riten im Umgang mit dem Tod setzt letzteres Werk in Erinnerung an den Komponistenfreund Maderna eindeutige Zeichen. Die Aufteilung der Musiker in acht Gruppen im Raum und eine andauernde Weiterentwicklung einfacher musikalischer Motive in einer Art Gruppenkonversation erinnern tatsächlich an die verlorengegangenen Momente des Gemeinsam-Trauerns. Das Abschlusskonzert glitzerte mit intertextuellen Bezügen im Programmheft, die dem feierlichen Anlass gerecht wurden: Wolfgang Rihm, der schon die Rede zur Verleihung des Adorno-Preises an Boulez hielt, schrieb zum Geburtstag das Gruss-Moment. Boulez wiederum komponierte einst eine musikalische Würdigung György Kurtágs zum Sechzigsten. Nun sieht dieser sich veranlasst, etwas für Boulez zu schreiben. Mit den Notations, die Boulez 1945 als Miniaturen fürs Klavier komponierte und die er ab 1978 mehrfach revidiert fürs Orchester neu umsetzte, konnte man im großen Tutti-Finale durch das Festival Lucerne Academy Orchestra der Gegenüberstellung dieser beiden Versionen beiwohnen. Schon fast poppig wurde dieser »Tag für Boulez« bei großem Applaus beendet, indem der Dirigent Matthias Pintscher den polyrhythmisch-bewegenden Schluss der letzten Notations noch einmal wiederholen ließ.

… zurück an der KKL-Promenade: Das Sinfoniekonzert steht an. Ich habe genug von diesem Freiredner hinter mir und gehe dem KKL entgegen. Einige der Zuschauer für das Sinfoniekonzert kommen gerade schick vorgefahren. Nun also Schubert und Mozart. Schuberts »Unvollendete« ergreift mich. Nicht aufgrund einer neuen, charaktervollen Interpretation, die Bernard Haitink mit dem Chamber Orchestra of Europe geliefert hätte. Es ist der Klang, so analytisch, präzise und gebunden, der überzeugt. Es ist dieser Raum, das KKL, der hier für die Musik geschaffen wurde und der ergreift – und ich erwische mich bei dem Gedanken: … unabhängig von wem er gerade für was auch immer benutzt wird. ¶
Schuberts Unvollendete, im Sommer 2013 gespielt vom Lucerne Festival Orchestra mit Claudio Abbado (Dirigent),
Mitschnitt von WQXR New Yorks Classical Music Station. Es gibt noch einen kurzen Vorbericht auf Englisch.