Musiker:innen auf einer Bühne, unauffällig beleuchtet, meist von Ferne betrachtet. Soweit, so normal, mittlerweile auch in flach auf kleinem Bildschirm. Während der Pandemie verlagerte sich ein Großteil des klassischen Musiklebens in den digitalen Raum, blieb dabei aber in den meisten Fällen ein blasses Abziehbild des Konzerterlebnisses im Saal. Projekte, bei denen das Format keine Notlösung, sondern ein wirklicher Gewinn ist, waren eine Seltenheit (aber es gab sie, zum Beispiel die Online-Tour SOUND_TRACKS von DieOrdnungDerDinge). Auch im Musikhochschulalltag schien Kunst, die von Anfang an digital gedacht ist, bisher keine große Rolle zu spielen. Doch das ändert sich.

Einen genaueren Blick auf das Studienangebot im Bereich der »Digitalen Künste« an den Musikhochschulen in Deutschland und ausgewählten Institutionen in Österreich und der Schweiz warf im Sommer 2021 eine Umfrage einer Arbeitsgruppe der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen. Die auf dieser Basis entstandene Studie, die VAN vorliegt, gibt sowohl einen Überblick über bereits bestehende Studiengänge, als auch über aktuelle Entwicklungen und Pläne für die Zukunft. Es geht dabei explizit nicht um die wahlweise herbeigesehnte oder als lästig empfundene Digitalisierung von Lehre und Verwaltung, sondern um Studiengänge, die Künstler:innen darin fördern, genuin digitale Kunst zu schaffen und zu entwickeln. Zwei Drittel aller Musikhochschulen, die an der Umfrage teilgenommen haben (17 aus Deutschland und jeweils zwei aus Österreich und der Schweiz), planen aktuell mindestens einen neuen Studiengang im Bereich der Digitalen Künste. 

Einen Masterabschluss kann man schon jetzt machen in Fächern wie Postdigitaler Instrumentenbau an der Kunstuniversität Linz, Multimedia Composition (das heißt unter anderem: Live-Interaktion mit Musik und Video, Internet-Komposition und das Schaffen interaktiver Installationen) an der HfMT Hamburg oder Professional Media Creation an der Folkwang Universität der Künste in Zusammenarbeit mit dem SAE Institut Bochum (hierbei geht es um die Umsetzung eines großen künstlerischen Projektes aus dem Bereich »Musik, Film, Video-, Installations- und Medienkunst, Sound-Art, bildende Kunst, Fotografie, Game-Art«). Neue Masterstudiengänge sind vor allem zu den Themen Künstliche Intelligenz, Klangkunst und Digital Performance geplant. 

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Als erste Musikhochschule hat die hmt Rostock für das kommende Semester einen Lehramtsstudiengang mit Hauptfach Digitale Musikpraxis (für Grundschule, weiterführende Schulen inklusive Gymnasium oder im Bereich Sonderpädagogik) eingerichtet. Damit will die Hochschule laut Website einen »kreativen Pool aus DJs, Producers, Self Recording Artists, Loop-Artists u. A.« ans Haus holen. »Langfristig soll mit dieser Maßnahme auch dem anhaltenden Bedarf an Musiklehrkräften in den Schulen begegnet werden, indem wir künftig mehr und von ihrer musikalischen Sozialisation her eben auch andere Studierende als bislang auf den Beruf vorbereiten«, so die Organisatoren des neuen Fachs, Christian Kuzio und Oliver Krämer, auf VAN-Nachfrage. »Mit der Einführung des Faches Digitale Musikpraxis soll das Musiklehramtsstudium auch für solche Studienbewerber:innen attraktiv werden, die nicht den üblichen bildungsbürgerlichen Weg des klassischen Instrumentalunterrichts gegangen sind, sondern die sich ihr musikalisches Können in informellen Lernprozessen vorwiegend selbst angeeignet haben und mithilfe digitaler Medien ihr kreatives musikalisches Potenzial ausleben.« 

Die Öffnung durch Studiengänge rund um Digitale Künste – was sowohl Zielgruppe als auch Studienverlauf und -organisation angeht – soll dann auch auf die traditionellen Studiengänge an Musikhochschulen rückwirken, hofft Bernd Redmann, Präsident der Musikhochschule München und Vorsitzender der Arbeitsgruppe »Digitale Künste« der Musikhochschulrektorenkonferenz: »Meiner Meinung nach muss das eine Entwicklung sein, die die Hochschulen als ganze in ihrer Studienvielfalt erfasst«, erklärt Redmann gegenüber VAN. »Also ein spezialisierter Bereich, aber mit Ausstrahlung in die klassischen künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Studiengänge, mit der Idee, dass auch Studierende sich dort beraten lassen können, wenn sie zum Beispiel ein Streamingkonzert innovativ gestalten und mit digitalen Mitteln ernsthaft künstlerisch arbeiten wollen. Also so, dass neue Ideen, Inhalte und Gestaltungsformen entstehen und es über das Dekorative, Ambientemäßige hinausgeht.« 

Foto dear computer (CC BY-SA 2.0)

Solche Fähigkeiten sind vermutlich besonders für Studierende interessant, die keine feste Orchesterstelle anstreben. Auch hier könnten die Digitalen Künste ein Umdenken an Musikhochschulen anregen: weg vom ultimativen Ziel des gewonnenen Probespiels, auf das das Studium aktuell noch häufig ausgerichtet ist, (es gibt ohnehin viel zu wenige Orchesterstellen für zu viele Studierende in den klassischen Instrumentalfächern) hin zu größerer Vielseitigkeit, auch was Arbeitsweisen und Organisation angeht. 

Die neuen Studiengänge machen allerdings auch eine neue Infrastruktur und neue Professuren nötig. Damit sind nicht unerhebliche Kosten verbunden. »Es wird nicht anders gehen, als dass zusätzliche Mittel und Stellen an die Hochschulen kommen«, so Bernd Redmann. »Wir sind in allen Bundesländern dabei, Lobbyarbeit zu machen, damit die Kunsthochschulen befähigt werden, diese digitale Transformation hinzubekommen. Es ist natürlich in jedem Bundesland anders, in einigen wird die Künstlerische Ausbildung insgesamt ausgebaut und gefördert, in NRW und Baden-Württemberg zum Beispiel, in anderen ist man da eher in der Defensive.« Zuweilen müssen auch erstmal die rechtlichen Rahmenbedingungen an die Entwicklung der Künste und damit auch der Kunsthochschulen angepasst werden. »In Bayern wird gerade ein neues Hochschulgesetz erarbeitet. Es ordnet in seiner Entwurfsfassung den Kunsthochschulen die Aufgaben zu, die Künste zu entwickeln und künstlerische und wissenschaftliche Forschung zu betreiben«, berichtet Redmann. »Dieser Aspekt der Forschung ist im jetzt noch geltenden Hochschulgesetz nicht enthalten. Da stand, dass die Kunsthochschulen – neben der Entwicklung und Vermittlung von Fähigkeiten und Kenntnissen – die Pflege der Künste zur Aufgabe haben, was eigentlich eher rückwärtsgewandt ist.« Das neue Hochschulgesetz sei ein Beispiel für den aktuell stattfindenden Perspektivwechsel an Musikhochschulen, die immer stärker auch Innovation und Weiterentwicklung als ihre Aufgaben sehen. 

Auch zur Vernetzung zwischen den Institutionen und zur verstärkten Zusammenarbeit böten die Digitalen Künste (die entsprechend zumindest in Teilen auch digital und damit ohne großen Aufwand hochschulübergreifend gelehrt und erlernt werden können) Möglichkeiten, die aktuell noch wenig genutzt werden. Doch auch hier zeigen die Musikhochschulen Ambitionen: Ebenfalls im Sommer 2021 haben sich 18 Institutionen aus Deutschland zum Netzwerk 4.0 zusammengetan, um gemeinsam Potentiale digitaler Lehre zu erschließen. Ganz so schnell, wie manche es sich erträumen, vollzieht sich aber auch dieser Wandel nicht. Sinnbildlich dafür ist die Website des Online-Netzwerks: gerade nicht erreichbar, weil im Umbau. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com