»Und bei euch so?« Die Gespräche über den Ausnahmezustand im Kulturbetrieb sind zur öden Routine geworden. Man weiß was kommt. Geschichten von neuen und wiederverworfenen Plänen, von überstürzt realisierten Digitalprojekten und infrastrukturellen Mängeln, von personellen Engpässen und übermüdeten Eltern, von nächtlichen Anträgen zu aus dem Boden sprießenden Fördertöpfen und kaum zu erfüllen scheinenden Auflagen, von zaghafter Vorfreude auf das nächste Projekt und der Angst vor mangelnder Nachfrage. Die Erfahrungen in den Theatern, Museen und Konzerthäusern ähneln sich allerorten und quer durch die Gewerke. »Was soll man da noch schreiben?«, frage ich die Kolleg:innen in der VAN-Redaktion, als sie mich um eine Einschätzung zur Lage der Musikvermittlung in Zeiten von Corona bitten. Doch sie bleiben hartnäckig und so nehme ich meine homeofficekonformen Noise-Cancelling-Kopfhörer, die ich seit März besitze, und klingle bei den Kolleg:innen durch.

Die Geschichte, die mir viele als Erstes erzählen, fügt sich nahtlos ein in das alte Image der Zunft. Kaum hatte der erste Lockdown begonnen, ploppten auf den privaten Smartphones Nachrichten von den Marketing-Kolleg:innen auf: »Wir sollten mal was bei Facebook posten, wenn wir schon keine Konzerte machen dürfen. Fällt dir da nicht was ein? Was mit Kindern kommt immer gut! Wir haben leider kein Budget und keine konkrete Idee, aber es wäre super, wenn das morgen noch online gehen könnte.« Natürlich hätten sie sich breitschlagen lassen, erzählen die Kolleg:innen. Kaum hatten sie sich versehen, hielten sie im heimischen Wohnzimmer eine Joghurtbecherrassel in die Smartphonekamera, überredeten die Tante zur Mitwirkung im Splitscreen-Chor, ließen sich von alten Kommiliton:innen in eine Videoschnittsoftware einweisen und konzipierten das alljährliche Instrumentenkarussell mit den Orchestermusiker:innen schwuppdiwupp als Onlineformat um.

Dass in Ausnahmezeiten gerade in den Musikvermittlungsabteilungen schnelle Hilfe gesucht (und offensichtlich gefunden) wurde, passt bestens ins Bild. Denn während viele Gewerke im Klassikbetrieb nicht gerade für ihre Agilität und Flexibilität berühmt sind, gelten Musikvermittler:innen traditionell als hilfsbereite »eierlegende Wollmilchsäue« mit »120% Stressresistenz«, wie es Barbara Volkwein es in ihre »Zehn Gebote der Musikvermittlung« einmeißelte. Begrenzte finanzielle und personelle Ressourcen, künstlerische Zugeständnisse und das schnelle Einlernen in fachfremde Gebiete gehörten vielerorts sowieso zum Alltag. Schon vor der Pandemie sahen viele Kolleg:innen diesen Zustand kritisch und machten sich auf den Weg, daran strukturell etwas zu ändern. Doch wie ist es ihnen ergangen, als die Krise dann kam? Die Erfahrungen sind durchmischt.

Lisa Rogers, Solo-Hornistin der Düsseldorfer Symphoniker, © Thomas Weisschnur. 
Lisa Rogers, Solo-Hornistin der Düsseldorfer Symphoniker, © Thomas Weisschnur. 

Eine Kollegin erzählt, dass sie sich nicht nur von der Pandemie, sondern auch von ihren Vorgesetzten ausgebremst fühlte: »Bei allen Entscheidungen über den grundsätzlichen Umgang mit der Pandemie haben wir kaum ein Wörtchen mitzureden. Sie werden oben getroffen – wir müssen mit den Konsequenzen leben. Kreative Ideen aus unseren Reihen für neue oder angepasste Formate wurden gerade zu Beginn der Pandemie pauschal abgelehnt, sodass wir zwischenzeitlich fast gar nichts zu tun hatten. Da merkt man schon sehr, dass man am untersten Ende der Nahrungskette ist.« Auch eine andere Kollegin erzählt, dass sie bei Strategieentscheidungen meist vor vollendete Tatsachen gestellt wurde: »Es fanden schon Gespräche mit dem Team zu Absagen oder Kurzarbeit statt – das Ergebnis stand da aber meistens schon fest.« Daher bliebe ein etwas fahler Beigeschmack – bei allem Verständnis für die Planungsunsicherheit und die angespannte finanzielle Lage der Kulturinstitutionen. Andere fühlten sich dagegen von ihren Vorgesetzten nach Kräften unterstützt und in die Entscheidungsprozesse einbezogen.

Ob mit oder ohne Unterstützung im Rücken – alle erzählen bildhaft davon, wie sie sich in den letzten Wochen und Monaten weit über die bezahlten Stunden hinaus engagiert haben, um den Betrieb am Laufen zu halten und möglichst produktiv umzuplanen. Zur üblichen Konzeptionsarbeit kamen etliche neue Aufgaben hinzu und der Mehraufwand war enorm: Rechtefragen bei Onlineproduktionen mussten geklärt, Hygieneschutzverordnungen studiert, Videoschnittprogramme gelernt, Postproduktionen betreut und Steuerungsrunden moderiert werden. Und da fast alle Schulen und Spielstätten eine unterschiedliche Linie im Umgang mit der Pandemie fuhren, mussten nicht nur A-, B- und C-Pläne für verschiedene Infektionsgeschehen, sondern auch noch jeweils passgenaue Formate für die unterschiedlichen Zielgruppen entwickelt werden. Und all diese Pläne landeten dann frustrierender Weise doch allzu oft im Papierkorb, weil sich das Infektionsgeschehen negativ entwickelte und eine Durchführung nicht mehr zu verantworten war. »Wir arbeiten zum Teil 70 statt 30 Wochenstunden – alle hier machen Überstunden«, erzählt eine Kollegin.

Trotz allem überwiegt das Verständnis für die besonderen Anforderungen dieser Zeit deutlich über den Klagen. Die Identifikation mit der eigenen Institution und Arbeit ist enorm und trägt offensichtlich über vieles hinweg. Und doch seien die Zeiten zehrend gewesen, berichten viele. Das liege vor allem an den fehlenden gemeinsamen Erlebnissen, erzählt Lydia Kappesser vom Beethovenfest Bonn. Im normalen Musikvermittlungsalltag machen die positiven Momente in Konzerten oder Workshops die großen Anstrengungen im Vorfeld oft fast vergessen, wie die Hormone nach der Geburt den Schmerz. »Die strahlenden Kinderaugen – so klischeehaft das klingt – sind dann doch irgendwie entscheidend«, sagt Sumi Schmidt vom Gürzenich-Orchester lachend. »Wenn es still wird im Saal und die Kinder wirklich gebannt sind, dann bekommt man einfach Gänsehaut. Solche Momente mit Streamingangeboten zu erzeugen, ist viel schwieriger. Manchmal gelingt es, dann freut man sich besonders.«

Mehr noch als die fehlende unmittelbare Reaktion oder die geringen Klickzahlen seien es Selbstzweifel an der Qualität, die manchmal die Motivation trübten, erzählen einige. »Wir sind eben keine ausgebildeten Kameraleute und Filmemacher. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben super In-House-Teams und viel Erfahrung, die setzen an einem ganz anderen Punkt an und werden dann bis zu 60.000 Mal geklickt. Unsere selbstgemachten Angebote kommen da nicht mit.« Eine andere Kollegin gesteht sich ein: »Wir haben mit den verfügbaren Mitteln unser Bestes gegeben, aber vermittlerisch vom Hocker reißt mich das jetzt nicht.«

Auch Marion Leuschner vom Beethovenfest Bonn findet nicht alles künstlerisch und pädagogisch überzeugend, was im letzten Jahr in den unterschiedlichen Institutionen entstanden ist: »Langfristig spannend sind echte digitale Formate, die Live-Formate nicht nur qualitativ hochwertig abbilden, sondern eine eigene Ästhetik entwickeln und pädagogische Mehrwerte schaffen – sonst bleibt es für alle nur eine Übergangslösung.«

Anne Tüshaus von der Kölner Philharmonie versucht die digitalen Herausforderungen sportlich zu sehen: »Das ist für uns auch eine Zeit, in der wir auf digitaler Ebene Experimente wagen und Neues ausprobieren können. Es geht zwar auch manchmal etwas schief, aber gleichzeitig vollziehen sich einige Veränderungen viel schneller, das ist wie ein Brandbeschleuniger!« In den letzten Monaten sei ihr jedoch auch noch einmal bewusster geworden, wie wichtig das gemeinschaftsstiftende Live-Erlebnis für ihre Arbeit sei: »Das, was im Raum passiert, wenn ein Musiker auf die Bühne tritt, das können wir mit digitalen Mitteln einfach nicht ohne weiteres abbilden. Echte Begegnungen zwischen Menschen sind fast immer der Startpunkt für Musikvermittlungsarbeit. Die Beziehungsarbeit ist es, die mich wirklich reizt.« Deshalb freue sie sich – bei aller Offenheit für digitale Formate – sehr darauf, wenn irgendwann wieder normale Konzerte, Workshops und Probenbesuche möglich seien.

Doch es gibt auch einige wenige, deren Jahresbilanz fast nur positiv ausfällt. Die Tonhalle Düsseldorf ist so ein Beispiel. Klickt man sich durch die digitalen Angebote, die über das Jahr veröffentlicht wurden, kann man kaum glauben, dass ein nur zweiköpfiges Team mit 1,5 Planstellen dahinter steht. Auf der Homepage findet man abgefilmte szenische Kinderkonzerte, musikalische Minipodcasts für die Allerkleinsten, neuproduzierte Puppenspielkurzfilme, interaktive Klatschvideos, Onlineschwangerschaftsyogasessions mit Livemusik, einen 1,5-stündigen Klangspaziergang mit ortsspezifischen Neukompositionen, die obligatorische Splitscreenproduktion mit über 250 Teilnehmer:innen, individuelle digitale Wohnzimmerkonzerte zum Verschenken, einen musikalischen Weihnachtsmarkt mit Musiker:innen aus der freien Szene und, und, und… »Hinter mir liegen mehrere 12-Stunden-Tage in Folge«, schreibt Katharina Höhne, als ich sie nach einem Telefontermin frage. Am Sonntagnachmittag könnte es gehen, da sei sie ohnehin in der Tonhalle.

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Zwischen den letzten Dreharbeiten für die Sofa-Symphonien – persönliche ZOOM-Konzerte mit Kammermusikensembles, mit denen man in guter alter »Nur die Liebe zählt«-Manier geliebte Menschen überraschen kann – erreiche ich sie. Müde aber nicht ohne Stolz erzählt sie: »Es war fast ein Geschenk, dass wir gezwungen wurden, noch mehr als sonst über den Tellerrand zu schauen. Das ist zwar anstrengend, aber es sind wirklich tolle neue Formate entstanden.« Ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Aktivitäten sei gewesen, dass die Welt jenseits des Tellerrands schon ziemlich vertraut war. Durch frühere Projekte hatte das Team Erfahrung mit Film- und Audioproduktionen, digitale Formatideen in der Schublade, die Expertise, um neue Formate realistisch einschätzen zu können und ein privates Netzwerk von Medienleuten, die kurzfristig zum Freundschaftspreis einsprangen. Außerdem stand – und das sei das Ergebnis jahrelanger Entwicklungs- und Überzeugungsarbeit – das ganze Haus von der Intendanz bis zu den Musiker:innen hinter den Aktivitäten.

Eine solch enthusiastische Stimme macht Mut in diesem müden Dezember und stimmt zuversichtlich, dass die Anstrengungen der Ausnahmezeit auch nach der Pandemie Früchte tragen werden. Die Lernkurve ist außerhalb der Komfortzone nun mal bekanntermaßen höher und so nehmen alle Institutionen aus diesem Jahr neue Ideen und Kompetenzen mit. Das Gesamtbild zeigt aber auch einmal mehr, dass noch immer viele Institutionen das schier unermüdliche Engagement und die große Kompromissbereitschaft der Kolleg:innen für gegeben hinnehmen. Wenn sie langfristig künstlerisch exzellente Musikvermittlung und profilierte Programme am Hause haben wollen – ganz egal ob im digitalen Raum oder im Konzertsaal – sollten sie an dieser Grundhaltung etwas ändern. ¶