Schuberts Winterreise geht immer, auch bei 35 Grad im Schatten, wie jüngst beim Festival ›Kissinger Sommer‹. Für das Konzert mit dem Bariton Benjamin Appl unternahm das Publikum sogar eine Landpartie nach Bad Brückenau. Dort trat er nicht nur mit dem Pianisten James Baillieu auf, sondern hatte noch den Schauspieler Harald Krassnitzer zur Seite, der die Winterreise aus der Perspektive eines Polarforschers beleuchtete.

Appl, der überall als ›letzter Schüler‹ von Dietrich Fischer-Dieskau angekündigt wird, verfolgt längst seine eigenen Wege und hat seinen Wohnsitz mittlerweile nach London verlegt: ein ebenso kritischer wie neugieriger Geist, der sich mit Leib und Seele dem Lied verschrieben hat und es in unserer Gegenwart wieder fest verankern will. Er wirkt wie ein Berufener, der von vielen geschmähten Gattung Lied ein neues Publikum zu erobern. Wie viel Nachdenken dazu gehört, erzählte er mir nach dem Konzert in Bad Brückenau.

VAN: Sie haben an der Guildhall School of Music in London eine Professur für ›German Lied‹. Was lehren Sie dort?

Benjamin Appl: Das ist nicht vergleichbar mit einer deutschen Professur. Wenn ich in London bin, unterrichte ich. Aber ich bin nicht häufig zu Hause. Es sind Perioden, einzelne Projekte. Ich begleite einen Studenten nicht jede Woche, das kann ich aufgrund meiner Tätigkeit nicht machen. Aber grundsätzlich sind die Engländer – und das ist auch der Grund, warum ich in London lebe – wesentlich offener für Fremdsprachen. Die Engländer sind meiner Meinung nach auch besser darin, in anderen Sprachen zu musizieren. Wenn man an der Guildhall School studiert, hat man jede Woche eine Stunde französisches Lied, eine Stunde spanisch, russisch, deutsch. Natürlich ist das englische Repertoire sehr schön, aber international gesehen nicht sehr verbreitet. Das heißt, die Engländer müssen in anderen Sprachen singen – und sind uns dabei oft voraus. In Deutschland kann man bis auf ein paar Pflichtstücke fünf Jahre mit deutschem Repertoire durchstudieren, ohne sich mit anderen Sprachen zu beschäftigen.

Haben Sie überwiegend englische Studenten?

Nein, aus der ganzen Welt. Viele Asiaten, viele Nordamerikaner. Europäer sind seit dem Brexit weniger geworden, weil die Studiengebühren so gestiegen sind.

Sie geben sicher auch Sprachunterricht? Begriffe wie etwa ›Maid‹ oder ›Feinliebchen‹ in Schuberts Winterreise sind bestimmt nicht jedem geläufig…

Nein. Und natürlich muss ich auch einen Bezug zum 21. Jahrhundert herstellen. Die Menschen wachsen nicht mehr mit Gedichten auf, sie lernen sie auch nicht mehr. Das sind ganz andere Voraussetzungen als noch in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bei den großen Liedsängern. Auch unser Publikum hat keinen Bezug mehr zu diesen Texten, wir müssen also  andere Zugangsweisen finden. Wenn man sich auf die Emotionen in diesen Liedern konzentriert und diese in die Sprache von heute übersetzt oder von den Studenten übersetzen lässt, dann gewinnt man auch einen Bezugspunkt zur jungen Generation.

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Aber ich höre immer wieder von den Veranstaltern, Liederabende verkauften sich nicht. Wieso?

Ich habe ein Interview mit Dietrich Fischer-Dieskau von 1974 gelesen, in dem er gefragt wurde: Liederabende sind tot – was machen wir? Diese Diskussion gibt es schon seit fünfzig Jahren! Es gibt so viele Studenten und Studentinnen, die sich mit dem Lied beschäftigen, wie noch nie. Es gibt so viele Hochschulen, an denen man Lied studieren kann, wie noch nie, also: Das Interesse ist da. Ich glaube, es hakt bei den Veranstaltern. Liedgesang ist keine Kunst, die man einmal aufs Programm setzt und dann schaut, wer kommt. Das große Problem unserer Zeit ist auch, dass wir alles in Zahlen oder Geld messen. Und das sind zwei Parameter, die in der Kunst nichts zu suchen haben. Ich verstehe: Es muss sich rentieren, wir sitzen alle im gleichen Boot. Aber Kunst kann nicht auf diesen Parametern beruhen, sonst ist sie tot.

Doch es gibt andere Orte und Länder, die vielversprechend sind. In Hongkong ist der Saal mit zwölfhundert Leuten voll, in Japan ist der Andrang groß. Ich fahre jetzt nach Mexiko, da gibt es ganze Stadien, wo wir angeblich singen – ich weiß nicht, ob das an mir oder an dem mexikanischen Pianisten liegt. Es gibt aber Möglichkeiten, das Lied an Menschen heranzubringen, auch wenn man über Zahlen spricht: Der Liederabend wird grundsätzlich nicht für die große Masse sein, und das sollten wir alle akzeptieren.

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Sie teilen Ihr Pensum in fünfzig Prozent Lied, etwa dreißig Prozent Oper und zwanzig Prozent  Oratorium, das heißt: Ihr Schwerpunkt liegt auf dem Lied…

Das ist meine große Liebe.

Können Sie auch davon leben?

Ja. Ich bin, Gott sei Dank, einer der wenigen, der das sagen kann. In den besten Jahren gebe ich um die fünfzig Liederabende.

Was bedeutet dieses Lieder-Dasein für Sie?

Man kann selbst programmieren, man ist sein eigener Dramaturg und man hat Kontakt mit dem Publikum. Aber vor allem ist es die Beschäftigung mit der Lyrik. Normalerweise wird ein Komponist durch ein Gedicht inspiriert und will es in Musik verwandeln. Oft aber ist der Hintergrund eines Gedichts ein ganz anderer als in seiner Vertonung suggeriert. Heines berühmtes Liebesgedicht Du bist wie eine Blume war wahrscheinlich an ein Schwein gerichtet. In Liebesschmerz fasste Schumann Heines Gedicht: ›Anfangs wollt ich fast verzagen, und ich glaubt’, ich trüg es nie; und ich hab es doch getragen – Aber fragt mich nur nicht, wie?‹ Angeblich schrieb es Heine, weil er zu kleine Schuhe gekauft hatte. Da gibt es also sehr verschiedene Ebenen, manchmal sind sie kongruent, manchmal aber nicht. Manchmal widerspricht die eigene Anschauung dem Textdichter oder dem Komponisten. Wir Sänger befinden uns in einem Dreieck, einmal folgt man mehr dem Komponisten, einmal mehr dem Textdichter. Das kann sich jeden Abend verändern, und das ist die schöne Herausforderung beim Liederabend.

Sie haben kürzlich Ihr Debüt in New York gegeben – mit welchem Repertoire?

Ein gemischtes Programm, ›Nocturne‹, mit deutschen, englischen und französischen Liedern, das wirklich durch die Nacht geht, von der Abendstimmung über Fantasien bis in Alpträume. Ein Programm, das zwar bekannte Stücke wie den Erlkönig enthält, aber auch sehr viel Unbekanntes. Und ein Programm, das versucht, Menschen an das Lied heranzuführen, die normalerweise nicht in Liederabende gehen.

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Was war da für ein Publikum?

Ganz gemischt. Auch relativ viel junge Leute. Leider hat man dort kaum eine Chance, nach dem Konzert mit dem Publikum zu sprechen. Der Bühneneingang liegt weit entfernt auf der gegenüberliegenden Seite.

Peter Gelb, der Generaldirektor der Metropolitan Oper, sagte neulich in einem Interview, dass er von vielen Sängern und Sängerinnen erfahren habe, wie aufgeschlossen sie für neues Repertoire seien. Können Sie das bestätigen? 

In Amerika mehr als hier, das kann ich bestätigen. In Amerika gibt es ganz wunderbare junge Komponisten, vor allem in New York, da passiert viel. Die bringen auch viel nach London, die English National Opera arbeitet oft mit ihnen zusammen. Das ist hier auf dem Kontinent noch nicht angekommen, da sitzt man noch fest auf den alteingesessenen, bekannten Opern.

Sind Sie mit Edith Wiens nach New York gekommen?

Nein, ich habe bei ihr studiert, bevor sie nach New York ging – in München.

Was hat Ihnen Frau Wiens vermittelt?

Bei ihr habe ich als Jungstudent begonnen, mit ihr ging ich meine ersten Schritte in die professionelle Richtung. Und sie hat sich nicht gescheut, den gesamten emotionalen Bereich eines jungen Sängers abzudecken.

Es gibt nicht allzu viele Gesangslehrer, die sich daran trauen. Das ist eine sehr intensive und sehr persönliche Arbeit, bei der man sich gelegentlich auch an die Wand gedrängt fühlt und aus der man auch wieder ausbrechen muss. Aber das schätze ich gerade an ihr: dass sie sich getraut hat.

Was heißt das genau?

Emotionen auszudrücken, in der Musik, in der Sprache. Jede Woche mussten wir vor der ganzen Klasse eine Arie oder ein Lied vortragen, was per Video aufgezeichnet wurde. Dann ging es zur Auswertung in den Aufnahmeraum: Die Hand ist hier nicht gut, der Blick ist dort nicht gut, die Augen sind tot – alles Mögliche, worauf spezifisch hingewiesen wurde. Und es ist nicht so einfach, sich selbst jede Woche anzuschauen… Aber es ist sehr wichtig für einen Sänger, sich früh damit auseinanderzusetzen.

Also auch eine Lehre des Auftretens…

Ja. Das ist heute wichtiger als jemals zuvor.

Und dann sind Sie nach London?

Ja, zu Rudolf Piernay an die Guildhall School of Music.

Und London ist Ihr Lebensmittelpunkt geblieben?

Jetzt seit dreizehn Jahren. Eigentlich wollte ich nur ein Jahr bleiben, aber wie es so kommt im Leben: London war eine tolle Stadt, auch aufgrund der großen Affinität zum Lied, wo es so viele Möglichkeiten und ein großes Publikum für Lied gibt, wo jedes Festival auch Liederabende organisiert, sogar in Kleinstädten. Das Lied ist viel lebendiger als hier, und das ist nach wie vor der Ausschlag für mich, in London zu leben.

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Hat sich nach dem Brexit viel für Sie verändert? 

Für mich nicht, weil ich beide Staatsbürgerschaften besitze, ich kann frei reisen. Für andere Kollegen, die in England leben oder Engländer sind, hat es sich sehr verschlechtert. Es gibt eine bestimmte Anzahl von Tagen, die sie in der EU verbringen dürfen. Angenommen, eine Opernproduktion dauert neunzig Tage, dann kann ein Sänger oder eine Sängerin nur an einer, maximal zwei Produktionen teilnehmen. In manchen Ländern dürfen sie nur neunzig Tage, in ganz Europa nur einhundertachtzig Tage im Jahr arbeiten.

Ihre CD-Aufnahmen sind sogenannte Konzeptalben. Welche Themen haben Sie bisher behandelt?

Es ist ein Ewig-Suchen. Ich denke, nach achtzig Jahren großer Aufnahme-Industrie sind wir bei der Frage angelangt: Was ist unsere Zeit? Wir können natürlich wieder Schubert-CDs aufnehmen, aber was ist die Aussage unserer Zeit? Wie erreichen wir Menschen in unserer Zeit? Wie bei den Studenten auch, suche ich nach Themen, bei denen sich jeder angesprochen fühlt. Das ist bei der CD Heimat so gewesen, so hoffe ich wenigstens, aber auch beim neuen Album Forbidden Fruit

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Dort loten wir Grenzen in einer Gesellschaft aus, in der wir denken, wir werden immer liberaler und die anderen immer konservativer. Also jeden Tag müssen wir entscheiden, ob wir Grenzen überschreiten oder Verbotenes eingehen oder nicht. Das empfand ich als spannendes Konzept. Dann ging es auf die Suche in Büchereien oder im Internet, wo man einen schnellen Zugang zu Noten hat. Und dazu gibt es auch ganz viel Musik [die CD zusammen mit dem Pianisten James Baillieu enthält unter anderem Lieder von Ivor Gurney, Roger Quilter, Jake Heggie, Reynaldo Hahn, Francis Poulenc, Edvard Grieg, Leonello Casucci]. Das ist eigentlich meine Lieblingsaufgabe: Wenn ich ein neues Album herausbringe, stecken etwa anderthalb Jahre an Repertoire- und Ideensammlung dahinter – und die Schwierigkeit, alles wieder auf sechzig Minuten zu reduzieren.

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Aber an Schuberts Winterreise sind auch Sie nicht vorbeigekommen…

Das Faszinierende an der Winterreise ist, dass sie eine echte Reise ist. In jeder Sekunde steht man an einer Weggabelung und muss Entscheidungen treffen. Das hängt von der Tagesform und seinem eigenen psychischen Zustand ab. Manchmal wird sie verbitterter, manchmal wehleidiger, manchmal jünger, manchmal älter – je nach Reaktion des Publikums. Jeden Abend ist sie eine andere. Ich habe sie jetzt etwa neunzig Mal im Konzert gesungen. Und neulich war ich bei Alfred Brendel, um sie mit ihm zu erarbeiten. Für mich ist es wichtig, immer wieder Inspirationen von außen zu finden. Das können andere Musikstücke sein, Kunstgalerien, Menschen in der U-Bahn, die Natur. Damit man als Musiker offen bleibt, muss man gelegentlich einen Schritt zurückgehen und sich ›Input‹ von einer anderen Generation holen. Ich möchte nie nur ›abliefern‹, sondern jeden Abend neu kreieren.

Was haben Sie bei Brendel erfahren?

Eine ganz andere Sichtweise hinsichtlich Aussprache, Tempi, Vibrato, Verzierung. Manches nimmt man an, bei anderem denkt man: Das bin ich nicht. Aber darüber nachzudenken und dann zu entscheiden, das ist ganz wichtig.

Eine eigene Kreation der Winterreise führen Sie auch mit dem Schauspieler Harald Krassnitzer auf, der den Kommissar Moritz Eisner in der Wiener Tatort-Reihe spielt. Dabei wird Schuberts Reise mit der ersten Nordpol-Expedition Österreichs konfrontiert – Krassnitzer liest zwischen den einzelnen Liedern aus den Tagebüchern der Expeditionsleiter. Wie ist es dazu gekommen?

Vor einigen Jahren war ich in England in ein Projekt eingebunden, bei dem die Winterreise in Zusammenhang mit einer Südpol-Expedition gebracht wurde. Das wollte ich auch in Deutschland machen und fragte deshalb ein paar Schauspieler an. Harald Krassnitzer hat gleich angebissen. Wir trafen uns in Wien, und er packte seine Bücher aus: Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der sich auf ein Treffen so gut vorbereitet hat wie Krassnitzer. Und er wollte den Nordpol machen. Wir haben das Programm dann in London in vier, fünf Tagen zusammengestellt. Was mich besonders überzeugt hat, ist die Sprache in den Tagebüchern, die ja lange nach Schuberts Tod, erst 1872, geschrieben wurden. Da gibt es eine Nähe zu den Texten der Winterreise: Irrlichter, Nebensonnen, bellende Hunde, das Haus eines Köhlers. Erst laufen die Geschichten total unabhängig voneinander parallel, und man muss sich eine gute halbe Stunde einhören. Aber dann verweben sie sich mehr und mehr. Und für mich als Ausführender beginnt das nächste Lied in einem ganz anderen Zustand, als wenn ich es alleine singe. Ich finde, dass ein Werk, das so häufig aufgeführt wird, ruhig in verschiedene Kontexte gestellt werden kann. Die Winterreise per se löst sich dadurch nicht auf. Sie wird nur unter unterschiedlichen Spotlights beobachtet.

Sie haben die Winterreise auch als Film aufgenommen. Wo war das?

Auf dem Julierpass im Engadin. Dort wurde 2017 auf 2300 Meter Höhe ein roter Holzturm gebaut – als temporäres Theaterhaus. Der Turm soll  wieder abgerissen werden, weil er im Naturschutzgebiet steht. Ich sah ihn auf Fotos und dachte, das ist der ideale Ort für die Winterreise. Die BBC erteilte dann den Auftrag für den Film von neunzig Minuten Dauer. Wir waren zehn Tage dort, fünf Tage drehten wir im Turm, fünf Tage draußen. Ich stand bei Minus achtzehn Grad im Schnee… Was man im Film sieht, ist alles live gesungen. Es war die größte Extremsituation meines Lebens, und es gab Momente, in denen ich nicht mehr wollte. Aber wir haben es durchgezogen. Es ist auch eine Möglichkeit, diese Musik an Leute zu bringen, die beim Durchzappen im Fernseher vielleicht mal drei, vier Minuten hängen bleiben. Jedenfalls ist es wunderbar, dass die BBC der Winterreise und Schubert diesen Film geschenkt hat – in einem Land, wo der Komponist und die Sprache eigentlich nicht zu Hause sind.

Kann man den Film auch im deutschen Fernsehen sehen?

Leider nicht. Er lief in der Schweiz, in anderen europäischen Ländern, in Südamerika – aber in Deutschland nicht.

Finden Sie das typisch?

Dazu sage ich nichts. ¶

… stammt aus einem Musikerhaus in Baden-Baden, studierte in Freiburg und Berlin Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Romanistik. Zehn Jahre hatte sie ihren Lebensmittelpunkt in Frankfurt a.M., bevor sie als Redakteurin, Produzentin und Konzertveranstalterin an den SWR nach Baden-Baden zurückkehrte. Daneben leitete sie die Bachwoche in Ansbach und die Badenweiler Musiktage. Sie ist journalistisch für verschiedene Medien tätig und ist Mitglied in der Jury des Preises der Deutschen Schallplattenkritik.

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