Den Zeigefinger auf die eine und den Mittefinger auf die andere legen. Nein, das sind nicht die Tasten eines Klaviers. Es ist eine Klingel. Bitte lange auf beide Knöpfe drücken! steht an Alfred Brendels Tür. Ein sonniger Herbsttag. Ich bin in Hampstead. Im Erker ist für zwei gedeckt. Und schon erscheint der Meister, mit seinem am Vortag in der New York Review erschienenen Artikel in der Hand: »The Growing Charm of Dada … So haben sie ihn schließlich betitelt. Ich hatte Dancing amid Contradictions vorgeschlagen.«

Claudio Abbado und Alfred Brendel
Claudio Abbado und Alfred Brendel

Wir schreiben 2016. Zürich, Berlin und New York feiern 100 Jahre Dada. Brendel hat alle Ausstellungen besucht, alle Bücher gelesen. Beim Jubiläumsfestival in Zürich verwöhnte er sich mit der Sinfonie für neun Harley Davidson, Trompete und Synthesizer des greisen Avantgardekomponisten Dieter Schnebel. Brendel erzählt mir davon beim Lunch, und seine Augen strahlen. Der Esprit des Dadaismus hat ihn schon immer angezogen. Sein Erfindungsreichtum, der Nonsens, das Groteske … Nicht am Klavier, das nicht. Aber überall sonst. Er spürt eine Nähe zu dem, was für ihn in erster Linie eine Geisteshaltung ist, zum Triumph des Nonkonformismus, des Zufalls, der Ironie, des Humors, des Paradoxen.

Wie kommt das? »Ach«, erklärt er, »ich war noch sehr jung. … Meine Mutter sang mir ein Lied aus einem Berliner Kabarett der zwanziger Jahre vor. Es begann mit den Worten: … Ich reiß mir eine Wimper aus und stech’ Dich damit tot. – Am Ende schaute sie mich an und sagte: … Das ist blöd, nicht? … Das war das erste Saatkorn, der erste Keimling … Dann hatte ich ein kleines Grammophon auf dem ich Was macht der Meier am Himalaya hörte. Als ich 15 oder 16 war, lebten wir in Graz. Wir hatten wenig Geld, aber in einer Tauschzentrale holte ich mir einen Dada-Almanach von 1920. Das Cover zeigte Beethoven mit Schnurrbart. Ich war beeindruckt.«

Bei Tristan Tzara lesen wir, dass Dada »die Schubladen des Gehirns« zerstören wollte. Ich gestehe Alfred Brendel, dass ich gern das Seine öffnen würde, um in seinem Inneren die Mechanik seines Geistes zu untersuchen. Dabei weiß ich, dass ich dort keine »Schublade« finden würde. Von Jugend an übersprang dieser überzeugte Europäer alle Grenzen. Zunächst die geographischen. Geboren in Mähren als Sohn deutschsprachiger Eltern verbringt er die ersten Lebensjahre auf der jugoslawischen Insel Krk, wo Vater und Mutter ein Hotel führen, bevor sich die Familie in Zagreb und Graz niederlässt. Es folgen die Stationen Wien und London.

Edwin Fischer mit Katja Andy (links) und Alfred Brendel mit Lina Gerlieb (rechts), 1956
Edwin Fischer mit Katja Andy (links) und Alfred Brendel mit Lina Gerlieb (rechts), 1956

Der jugendliche Brendel durchlebt eine – wie er lächelnd sagt – pubertäre Geniephase, doch selbst in dieser Zeit schottet er sich in keiner Hinsicht ab. Alles interessiert ihn in seinem Streben nach dem Schönen. Er malt und zeichnet leidenschaftlich, komponiert Musik, schreibt Gedichte und Sonette. Mit 17 gibt er in Graz sein erstes Konzert. Auf dem Programm stehen Bachs Chromatische Fantasie und Fuge, Brahms’ Händel-Variationen und eine eigene Sonate. Noch heute spricht er über dieses Konzert, als sei es reiner Zufall gewesen: »Die Auswahl der Stücke stammt von mir.« Seine anderen Interessen – Farben, Worte, Linien, Bilder – gab er nie auf.

Alfred Brendel als junger Mann in Wien • Foto Privatarchiv Fayer
Alfred Brendel als junger Mann in Wien • Foto Privatarchiv Fayer

Nach dem Brotpudding zeigt Brendel mir seine Zeichnungen. Aufbewahrt auf der obersten Etage in einer großen Mappe findet sich ein Porträt seines Cousins Rudolf, entstanden 1948 in Graz, als sie zusammenwohnten. Die Zeichnungen erinnern an Oskar Kokoschka. Winkel und Schatten. Eine Möglichkeit, physische Merkmale ebenso zu erfassen wie moralische Wahrheit. Kokoschka selbst verwies auf die Kunst, eine im Konventionellen verhaftete Persönlichkeit »wie mit einem Dosenöffner« ins Licht zu holen. Wir verweilen bei der Signatur, grafisch gestaltet mit einem A, das einem chinesischen Hut über dem Namen nachempfunden ist. »Ich war 17 …«, lächelt der Meister entschuldigend und ignoriert meine Frage, ob er noch zeichnet.

Er sammelt. Das wohl. »Beziehungsweise … nicht unbedingt. Sammler ist zu viel gesagt. Ich besorge mir Werke von Künstlern, die mir gefallen.« Er zeigt mir Bilder von Max Neumann und Maria Lassnig. Eine Maske aus Neuguinea. An Larven erinnernde Figurinen, erworben bei einem Pariser Trödler. Und vor allem die große Büste einer Frau mit einem Ei auf dem Kopf, ein Überraschungsgeschenk, das seine Familie ihm zum Geburtstag machte. Er ist fasziniert von der Skulptur, denn »sie scheint in ihr eigenes Innere zu blicken«.

Im Esszimmer stapeln sich Monographien und Kataloge: Cobra, Max Ernst, Hammershoi … Man könnte ewig mit Alfred Brendel über bildende Kunst reden. Von Cimabue bis Van Eyck, von Altdorfer bis Stoskop oder die Boxen von Cornell: Er weiß erstaunlich viel und seine Neugier kennt keine Grenzen. Manchmal erscheint sie auch ganz verspielt. Hier hängt ein Foto von Alfred Cortot, verkleidet als Buffalo Bill. Dort legt er seine Rechte auf einen Tintenabdruck der Hand von Alban Berg und konstatiert mit kindlicher Freude: »Unsere Hände sind genau gleich groß!« Sein Schalk macht selbst vor dem Allerheiligsten nicht halt, dem Zimmer mit den perfekt schwarz glänzenden Flügeln, auf dessen Eingangstür auf deutsch geschrieben steht: »Kirche. Kein Eingang.«

Brendel unter dem Schubert-Bildnis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Brendel unter dem Schubert-Bildnis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Er liebt die Kulissen, die andere Seite der Szenerie, den Übergang. Weiter geht es. Mit Fragen nach dem, was für ihn immer seine »zweite Natur« war: die Literatur. Er nennt Lieblingsautoren – Shakespeare, Musil, Stendhal, Flaubert… Er spricht über Edward Lear und Italo Calvino. Und natürlich über seine eigenen Gedichte. Zweifellos trug er sie immer in sich, latent. »Nach einem Leben voller Lektüre mussten die Worte irgendwann heraus«, stellt er fest und lacht. Wie es anfing? In einem Flugzeug, ganz überraschend. »Ich war auf dem Weg nach Japan und konnte nicht schlafen. Und so im Halbschlaf dösend entstand ein Gedicht.« Es war das erste aus der Sammlung mit dem Titel Fingerzeig. Es ist die Geschichte eines Pianisten, dem eines Tages ein dritter Zeigefinger wächst.

Bilder und Ideen kommen ihm spontan, ganz unerwartet. Oder aus Zeitungsmeldungen. Ein Cartoon von Gary Larson. Eine Reminiszenz an Poeten, die er bewundert – den Polen Zbigniew Herbert oder den Deutschen Christian Morgenstern, dessen Galgenlieder er einst auswendig lernte. Auch durch das Kino. Chaplin, Woody Allens Zelig, Buñuel … »Oh ja, besonders Buñuel … Seine Filme setzten etwas in mir frei, weil sie mir realer als die Realität erscheinen.«

Rattle, Brendel und die Wiener Philharmoniker beim Abschiedskonzert für Brendel
Rattle, Brendel und die Wiener Philharmoniker beim Abschiedskonzert für Brendel

Wenn das Thema erst einmal präsent ist, entwickelt es sich, gebiert Variationen, deren Rhythmus und Tempo, wie in der Musik, fundamental sind. Doch schreibe er vor allem, so Brendel, »um mich selbst zu überraschen«. Seine Gedichte sind ihm so wichtig, weil sie an das Glück des Schöpferischen anknüpfen. »Sie sind ganz anders als die Sonette meiner Jugend, produktiv, nicht reproduktiv.« Sie sind ungewöhnlich, eigenwillig, phantastisch – phantasmatisch? –, diese freien Kompositionen, halb Affe, halb Engel, bevölkert von Dämonen und Fabelwesen. Sie sind Ausdruck dieser inneren Freiheit, die immer schon Alfred Brendels Markenzeichen war. Seine Unabhängigkeit von Moden, Cliquen, Institutionen. Doch sie zeugen auch von jener glücklichen Verbindung von Gegensätzen, aus denen unser Leben gewebt ist. Von jenem komplexen Gleichgewicht. Von der ewigen Verknüpfung von Denken und Fühlen, von Bewusstem und Unbewusstem, von Ernst und Scherz, von Sinn und Unsinn. Seine Gedichte verweisen auf die sehr Brendelsche und weise Überzeugung, nach der das Leben zu ernst oder zu unfassbar ist, um ganz und gar ernst genommen zu werden. In manchen von ihnen gibt es Figuren, die mit einem Auge lachen und mit dem anderen weinen. Wie in dadaistischen Assemblagen? Vielleicht. Doch im Grunde auch wie der Autor selbst. »Auf Fotos wird diese Spannung deutlich«, gestand er mir bei einer früheren Begegnung. »Wenn Sie mein Gesicht betrachten und dabei eine Seite verbergen, entdecken Sie, dass eine Hälfte von mir lächelt, und die andere nicht.« Dancing amid contradictions. Die Überschrift ist sicherlich nicht beliebig gewählt. »Nein«, sagt Brendel. »Ich liebe die Gleichzeitigkeit des Widerspruchs. Und bezogen auf mich denke ich oft, dass es die inneren Widersprüche sind, die mich am Leben halten.« ¶

Foto: privat 
Foto: privat 

Florence Noiville wurde 1961 in Boulogne-Billancourt geboren. Die Absolventin der Universität Sciences-Po gab eine Karriere im Management zugunsten eines Lebens für die Literatur auf. Für ihre Biographie Isaac Bashevis Singers (2003) gewann sie 2004 den Prix du recit biographique. Noiville ist die Autorin dreier Romane: La Donation (2007), L’Attachement (2012) und L’Illusion délirante d’être aimé (2015). Sie verfasste Porträts von Schriftstellern wie Imre Kertész, Nadine Gordimer, John le Carré und Herta Müller für »Le Monde«.