45 Stunden Arbeit, 14 Stunden auf der Schiene – darunter geht es nicht, wenn man als Musiker auf Großbritanniens freier Wildbahn überleben will. Seit dreizehn Jahren arbeitet der Deutsche Sebastian Müller als Geigenlehrer und Mucker auf der Insel. Unterwegs mit einem 38jährigen, der zwischen Klassengesellschaft und Brexit kritisch auf beide Seiten des Kanals guckt.

Sebastian Müller
Sebastian Müller

Freitagnachmittag in Manchester. Leo denkt über die kniffligen Oktaven in Paganinis Caprice Nr. 17 nach, Sechzehntel, je zwei gebunden. Sauschwer, das sauber hinzukriegen. Er ist achtzehn und sieht aus wie vierzehn, schmächtig und blass. »Don´t play timid, spiel nicht schüchtern, du hast so viel Kraft!« Sein Lehrer Sebastian Müller sitzt auf einem Stuhl in der Ecke, die Geige im Schoß, wellige blonde Haare bis zum offenen Kragen seines weißen Hemds, schwarzes Jackett, Bluejeans. Mit acht Jahren wurde Leo, Sohn russischer Musiker, in Chetham aufgenommen, dem berühmten Musikinternat, einer von etwa dreihundert Schülern. Vor drei Jahren wurde der Deutsche sein Lehrer, dann auch sein Seelsorger – der Junge verlor unter dramatischen Umständen seine Mutter. »Er hat danach wie verrückt geübt«, sagt Sebastian später, »nur noch.«

Auch Sebastian Müller hat einmal wie verrückt geübt, als Student in Hannover, Berlin, Amsterdam, London. Jetzt kommt er kaum noch dazu. Vierzehn Stunden pro Woche ist er auf der Schiene, um 45 Schüler und Studenten in Manchester, Birmingham und London zu unterrichten. Seinetwegen bin ich hier. Mich interessiert diese sonderbare Insel, das Vereinigte Königreich, in diesen bewegten Zeiten in einer bodennahen Perspektive, in der eines unprominenten Musikerdaseins wie dem von Mr. Müller. Weil ein Deutscher, der sich hier als Geigenlehrer durchschlägt, vielleicht ein paar mehr Antennen hat als die Leute, die auf beiden Seiten des Kanals ihre Reviere und Ressentiments hüten, und als die Stars der Branche. Weil von Musik immer zuletzt die Rede ist, wenn es um die Gegenwart geht, und von der Basis fast nie, wenn es mal um die Musik geht.

»Ich kam 2006 nach London, war total überwältigt von der Geschwindigkeit, mit der alles geht, und habe mich sehr frei gefühlt. Die 140 Nationen in der Stadt – wie egal es ist, was jemand anhat! Dieses Gefühl, dass man sein kann, wer man will, hat mich auch körperlich aufgerichtet. Ich bin auf Menschen zugegangen, hab mich getraut, offen zu reden. In Deutschland blieb immer so vieles unausgesprochen.« Nach dem Studium an der Guildhall School stellte er dort ein Kammermusikprojekt auf die Beine, bei dem jüngere und ältere Studenten zusammenspielten, das lief gut, »dann wurde mir eine Stunde angeboten, die ich unterrichten durfte. Eine!« Es wurden schnell mehr.

Foto Diego Jaim via Pexels
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Er ist Lehrer aus Leidenschaft, gerade weil er selbst als hochmotiviertes Kind an unerfahrene Geigenlehrer geriet, als Linkshänder an der Waldorfschule zum Rechtsschreiben gezwungen wurde und als halber Autodidakt mit einer so »verqueren Haltung« sein Geigenstudium in Berlin antrat, »dass ich Jahre brauchte, um zu einer vernünftigen Statik zu kommen. Daraus hat sich eine Liebe zur Analyse entwickelt. Es macht mir großen Spaß, rauszufinden, woher das Problem eines Schülers kommt. Ist es ein mechanisches Problem, ein psychologisches? Zieht jemand die Schultern zusammen, weil er sich kleiner machen will, als er ist?« Während seiner Londoner Anfänge arbeitete Sebastian noch zusätzlich am IFF in Hannover, dem Institut für Frühbegabtenförderung, und an einer Musikschule in Wolfsburg – auch wegen der festen Einkünfte.  

»Das habe ich beides aufgegeben, trotz der Angst. Wenn du hier hart arbeitest und was anzubieten hast, lassen sie dich das machen. In Deutschland hast du einen festen Job, bist ein Star oder ein Niemand, außer in der Alten Musik. Deren Szene kann man ein bisschen vergleichen mit den Musikern hier. 95 Prozent der Musiker in England leben so, ohne Sicherheit.« Sicherer schien ihm ein College in Yorkshire, »die einzigen, die drei Monate fest durchbezahlten. Aber das war so schrecklich! Einer Geigerin haben sie zur Aufnahmeprüfung gesagt, ›tu mal dein Telefon auf den Notenständer und spiel‹ was. Die musste gar nicht kommen und wurde genommen. Ich hatte Schüler, die konnten ein fis nicht vom b unterscheiden. Da hab´ ich gedacht, ›nee, das geht zu weit.‹«

Inzwischen führt er eine Rollkofferexistenz, mit einer Kellerwohnung in London als Basis, Highgate, sieben Kilometer nördlich vom Zentrum, die er als Ruine zum Schnäppchenpreis gekauft und selbst renoviert hat. Dazu kommt ein Netzwerk von Studienfreunden und Kammermusikpartnern. Für Flüge hat Sebastian ein flight case, in das nur die Violine passt, wegen der Handgepäckbestimmungen. Der Bogen steckt dann in einer Röhre, die er zum Boarding im Mantel verschwinden lässt. Die tausend Partituren für seine Arbeit, Etüden, Sonaten, Konzerte, stecken im iPad, dazu die Notizen aus jeglicher Lektion. Die App merkt sich jeden Kringel, jeden Fingersatz, den er per E-Stift einträgt, die aktuelle Version mailt er dann den Schülern.

Mit 45 Studenten in drei Städten kommt er auf seine Kosten. Bezahlt wird pro Stunde. Wie viele Schüler man hat, hängt von Renommée und Selbstinitiative ab. »Wenn ich Schüler für ein Institut rekrutiere, kann ich die dort unterrichten.« Rekrutieren bedeutet, dass er Begabten, die er in Kursen trifft, vorschlägt, bei ihm weiter zu studieren, Jüngere bei Chethams´s und an der Londoner Guildhall School, senior students am Royal Northern College und der Uni in Manchester sowie am Royal Birmingham Conservatoire. Früher gab er eigens deswegen Sommerkurse, mittlerweile hat er mehr Kandidaten als Plätze. Trotzdem: »Es ist ein perfides System, weil es die Lehrer gegeneinander ausspielt. Wenn einer krank wird, sieht leicht ein anderer seine Chance. Jeder fürchtet, dass ihm Schüler abgeluchst werden. Eine Lehrerin am Geldtopf einer charity kann gut sagen: Wenn du zu mir kommst, werden dir die Gebühren erlassen.«

Foto Skitterphoto via Pexels
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Die sind beträchtlich. Ein Jahr Chetham kostet 37.000 Pfund, das sind derzeit 3000 Euro im Monat. Ermäßigungen für Europäer entfallen nach dem Brexit, und damit auch hunderte Schüler vom Kontinent. Ein senior student in London zahlt 1000 Pfund monatlich für ein Zimmer im Wohnheim. Eine Stunde für junior students an der Londoner Guildhall School kostet 86 Pfund, 100 Euro – in Deutschland zahlen Jungstudenten an Hochschulen keinen Cent, an deutschen Musikschulen kostet eine halbe Stunde rund 20 Euro. Bei Sebastian Müller landen 34 Pfund pro Stunde. Nach Abzug von Steuern und Versicherungen kommt er mit seinen fünf Instituten auf 36.000 Pfund im Jahr, wovon er für business expenses nochmal 9.000 ausgibt. Bei kurzfristiger Buchung können die zwei Stunden von Manchester nach London auch mal 170 Euro kosten. »Die Zugfahrten sind keine verlorene Zeit«, meint er, »das Organisieren der Geigenstunden für fünf Institutionen ist ein riesiges Puzzle. Dazu Prüfungen, Proben, Projekte, Elternkorrespondenz, Empfehlungen für scholarships…«

Pausen macht er kaum. In Manchester hat er an diesem Freitag um neun Uhr angefangen, seitdem gibt ein Schüler dem anderen die Klinke in die Hand, und mich stellt Sebastian allen vor mit dem Hinweis, der deutsche Besucher habe sich bereits um fünf Uhr morgens auf den Weg gemacht: Strapazen stehen hier in hohem Ansehen. Doch der Unterricht ist entspannt und konzentriert. Ich staune, wie ruhig sich der Lehrer auf jeden und jede fokussiert, auf Joels Bach-Suite, Leos Paganini-Caprice, Harrys Bruch-Konzert, auf das Handgelenk beim ersten, die Zuversicht beim zweiten, das Vibrato beim dritten – inzwischen im Zimmer 231, das sie »tropical paradise« nennen, wegen der Wärme, denn hier geht das Fenster nach innen, auf den Lichthof des modernen Gebäudes.

Einige Schüler fühlen sich hier wohler als in Zimmer 217. Dort probten sie spätabends im Mai vor zwei Jahren, als sie durch die großen Fenster auf die Arena gegenüber blickten, aus der Menschen liefen, blutüberströmt, auch Kinder und Jugendliche in ihrem Alter. Ein junger Islamist, selbst in Manchester geboren, hatte am Ende eines Popkonzerts die Sprengladung in seinem Rucksack gezündet. 22 Besucher riss er mit in den Tod, über 500 wurden verletzt. »Man merkt, wie sie daran denken, wenn sie auf die Arena schauen«, sagt Sebastian. Und man spürt, welche Geborgenheit ein Ort wie Chetham vermitteln kann – ein Institut, dessen älteste Bauten in den 1420ern errichtet wurden, ein Priesterlogis, aus dem 1653 eine Schule wurde und 1969 ein Musikinternat, das als eine der wichtigsten britischen Talentschmieden gilt. 95 von 100 Abiturienten gehen an Musikhochschulen; auch Dirigent Daniel Harding, Pianist Paul Lewis, Tenor John Daszak haben hier gelernt.

Jemimah ist Sebastians letzte Schülerin an diesem Tag. Die Bratscherin bringt die rasanten Passagen in Johann Nepomuk Hummels Fantasie zum Blühen, gewidmet einem Virtuosen des frühen 19. Jahrhunderts. Jemimah ist vierzehn und ziemlich souverän auf ihrem Instrument. Da kann ein Lehrer einiges fordern, und das tut er. »Jetzt möchte ich eine elegante Mischung aus detaché und spiccato…enjoy your d!« Er hat sie fast von Anfang an unterrichtet, als Siebenjährige begann sie mit der Viola, denn Geige, sagt sie, »spielte schon meine Schwester!« »Noch eine halbe Stunde, dann verlassen wir Alcatraz«, sagt Sebastian lachend auf deutsch, ehe er mit Jemimah noch ein paar Takte aus Zelters Konzert auseinandernimmt, die beim letzten Vorspiel schiefgingen.

Mit der Festung meint er die Sicherheitsbestimmungen. Seit Ermittlungen und Urteilen gegen sexuell übergriffige Lehrer ist man hier hochsensibel, niemand kommt ohne Namensschildchen hinein, und Sebastian dürfte nicht mal zur Toilette gehen, solange ich im Zimmer sitze. Wenn es nach den Eltern seiner Guildhall-Eleven in der Hauptstadt ginge, erzählt er mir im Abendzug nach London, dürften die Lehrer überhaupt nicht aufs Klo. „Bei einer Kollegin hat eine Mutter die Zeit gestoppt und verlangt, dass sie zwei Minuten länger unterrichtet.“ Dahinter steht nicht nur das teure Unterrichtsgeld, sondern die Möglichkeit, hier wie überall in Großbritannien bei Zwischenprüfungen Punkte zu sammeln, die den Weg an eine der besseren Universitäten ebnen. ABRSM heißt das magische Portal, Associate Board of Royal School of Music.

»Für jedes Instrument gibt es acht Examen, bei denen man drei Stücke spielen muss, dazu kommen Tonleitern, Vom-Blatt-Spiel, Gehörbildung. Es geht bei den Jüngsten los mit Bruder Jakob und endet mit Beethovens Frühlingssonate. Manchmal bekomme ich so eine Ansage: Im Juni macht meine Tochter grade six, bitte bereiten Sie sie adäquat vor, sie muss die und die Punktzahl erreichen.« Denn für Unis wie Cambridge empfiehlt sich neben einem Einser-Abitur der Nachweis erfolgreicher extra-curriculum activities. Und viele Privatschulen treffen eine Vorauswahl nach Höchstnoten bei ABRSM-Vorspielen. »Dazu müssen die Eltern Pianisten bezahlen, Examensgebühren, es ist ein riesiges business.« Er schätzt, dass damit allein in England 40 Millionen Pfund pro Jahr zusammenkommen. Das System wird, das British empire lässt grüßen, schon lange auch exportiert. Ein befreundeter Pianist ist vier Wochen pro Jahr in Hongkong und nimmt dort Examen ab, »500 Mal dasselbe Programm.«

»Vielen Eltern ist es völlig egal, ob das musikalisch ist, ob die Haltung stimmt. Es geht um Abstiegsangst. Die Musik muss herhalten, damit der Sohn erfolgreicher Anwalt werden kann. Aber durch den Druck kommt schon mehr raus, so ein Rumgeeier wie an deutschen Musikschulen erlebt man hier selten.« Auch für ihn selbst gilt: Zeit ist Geld. »Ich lebe von der Substanz. Ich würde mir gern Zeit nehmen, für das Konzert von Glasunow noch mal die Bogenstriche durchzudenken. Die hab´ ich nicht. Dann nehme ich halt wieder Tschaikowsky, Brahms, Sibelius, weil ich die in- und auswendig kenne.«  

Als Distinktionsmittel in der Klassengesellschaft wird die Musik also geschätzt. Warum müssen sich dann Instrumentallehrer und die meisten Orchestermusiker auf Honorarbasis durchschlagen? »Die Orchester sind überwiegend eigene Unternehmen, die sich dem Markt unterwerfen, und von den Musikinstituten werden nur wenige subventioniert. Verbreitet ist die Ansicht, wer Geige spielt, wer Kunst macht, hat sowieso Geld. Ich werde oft sogar von gebildeten Leuten gefragt, was ich im Hauptberuf mache! Alles, was nicht business ist und auf den ersten Blick was einbringt, hat politisch keine Priorität.« Die Musikversorgung an staatlichen Schulen befindet sich im freien Fall – Andrew Lloyd Webber spricht von einem »nationalen Skandal« – aber auch die Spezialisten haben es schwer: »Es sagt ja viel, dass es keine Professuren und Festanstellungen für Instrumentalisten auf Hochschulebene gibt.« Mehrere EU-Direktiven zur Verbesserung der Lage werden mit dem Brexit wohl hinfällig.  

Kaum ein britischer Musiker hat nur einen Job oder gar ein freies Wochenende. Wer im London Symphony Orchestra 128 Pfund für sechs Stunden Probe und Konzert erhält – mit 150 Euro das Minimum eines Muckenspielers im deutschen Westen –, kann das in den Abbey Road Studios aufbessern und Soundtracks für Computergames einspielen, Tagessatz 600 Pfund. Sebastian hat mitgemacht bei Everybody´s gone to the rapture, Apokalypse in der Grafschaft Shropshire. »Das anspruchsloseste Zeug wird am besten bezahlt, aber um diesen Kuchen wird viel gezankt.« Wer da zu kurz kommt, kann immer noch bei einer Show an einem der 180 Theater in London mitspielen. Besser ist es, bei den fixers, die die Musiker des LSO und anderer Orchester zusammentelefonieren, auf der Liste zu stehen. Wenn Simon Rattle Mahlers Fünfte dirigiert wie jetzt, gibt es wegen der großen Besetzung besonders viel Bedarf. Natürlich hoffen viele, dass der neue Chefdirigent das LSO auf die Basis fester Verträge stellt, wie sie alle fünf BBC-Orchester, das Orchester der Royal Opera oder das CBSO haben.  

Sebastian kennt einen Fagottisten, der auf Pilot umgeschult hat, um eine Familie gründen zu können, und er vertritt eine Lehrerin, die für ihr Baby ganze sechs Wochen freinehmen darf. Schülereltern, die selbst Musiker sind, setzen sich mit in den Unterricht und erledigen Nebenjobs am Laptop – Notenschreiben für Verlage etwa. Sein Blick auf Deutschland ist ambivalent: »Die Sicherheit der Orchestermusiker dort«, durchbezahltes Einkommen, Rente, »finde ich schon erstaunlich. Ein britischer Steuerzahler, selbst ein Musiker hier wäre schwer davon zu überzeugen, für so viele Orchester, so viele Pensionen aufzukommen.« Dafür vermisst Sebastian die »deutsche Gründlichkeit«: »Als ich in britischen Orchestern ausgeholfen habe, gab es maximal eine Probe, Beethovensinfonien auch gern mal ohne. Nachdenken über die Stücke? Um Gottes willen!«

Wovon er träumt? »Eine Professur irgendwo, wo ich zwanzig Schüler statt 45 habe und mal eine Stunde mehr mit einem machen kann! Aber Professuren gehen meist an Leute mit Spielkarrieren. Ich überlege, ob ich Schüler abgebe, damit ich zwei Stunden am Tag üben kann und wieder ins Konzertante reinkomme. Für eine Professur zählt eher, wieviel man spielt und nicht, wie erfolgreich man unterrichtet. Aber wer sich den ganzen Tag in andere hineinversetzt, weiß abends nicht mehr, wie sich der eigene Körper anfühlt, das braucht ein paar Tage. Über Weihnachten habe ich jeden Tag sieben Stunden geübt und mich wieder komplett gefühlt.«

Irgendwie, gesteht er, macht ihm das Jonglieren aber auch Spaß, der Stress seiner 60-Stunden-Woche. Er hat ein bisschen was von Crocodile Dundee, wie er so im britischen Musikdschungel unterwegs ist. Nach neun Stunden Unterricht und zweimal zwei Stunden Zugfahrt an diesem Tag hat Sebastian immer noch Lust, in einem Pub neben der Euston Station in ungeheurem Lärm ein Glas Lager und einen Burger einzuwerfen. Er erzählt von den polnischen Krankenschwestern, die die Insel in Scharen verlassen, von aberhunderten Belegen, die er für seine permanente Aufenthaltsgenehmigung beschaffen musste, die bald nur deswegen noch etwas wert sein wird, weil er damit kurz vor knapp noch die britische Staatsangehörigkeit erwerben konnte. Was ihn hier hält? »Ich bin im UK mit offenen Armen aufgenommen worden. Und dann ist da dieser wunderbare britische Humor. Der nimmt dem Sein die Schwere!«

»Vielen Eltern ist es völlig egal, ob das musikalisch ist. Es geht um Abstiegsangst.« Geigenlehrer Sebastian Müller über Basisarbeit in London und den bevorstehenden Brexit in @vanmusik.

Am nächsten Vormittag in der Guildhall School ist er schon wieder fit. »Wie waren deine Osterferien?«, fragt er die vierzehnjährige Allegra. »Stressful«, sagt sie mit müdem Lächeln. Sie musste sich für die Schule auf siebzehn Prüfungen vorbereiten. »Dann konntest du die Geige wohl nicht oft auspacken«, sagt er freundlich. Zu ihren exams kommt noch eines für die Violine, bei dem 44 Tonleiterübungen parat sein müssen. »Welche ist die schlimmste?« »Alle.« »That sounds promising…« Er steht auf, mit Instrument und Bogen, und lenkt Allegra von ihren Sorgen um die linke Hand ab. Er zeigt ihr, wie beweglich sie mit der Rechten streichen kann, was von den Fingern bis zum Rückgrat möglich ist. Und spielt ein paar Akkorde aus Brahms´ Konzert, als kämen die ganz von selbst zustande, wenn man sich nur mal locker macht. Das Zimmer scheint größer und heller zu werden dabei. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.