Viele haben schon über die Musik Beethovens salbadert – und werden es wieder tun; vor allem im Jahr 2020. Manche werden wieder allen Ernstes schreiben: »2020 hätte Beethoven seinen 250. Geburtstag gefeiert.« Als hätte er jemals die Chance gehabt, 250 Lenzen zu zählen! Todesschwadronieren à la Adrian Leverkühn kann fürderhin die Lösung nicht sein. Thomas Mann ist – ja, auch im Doktor Faustus (1943–47) – ein furchtbarer Schriftsteller und wird hierzulande wegen seiner peinigenden Art und Weise, selbstzerstörerische Familientragik, pädophile Knabenbetrachtung und norddeutsche Landschaftslangeweile kombiniert zu haben, bis heute unverständlicherweise geschätzt. Hier läuft überhaupt etwas schief. Wir trauen uns nicht, Neues über alte Werke zu schreiben; immer in der typischen Klassikangst, Kollegen zu verprellen, als verrückt erklärt zu werden oder, dass ich nicht lache, der Musik zu »schaden«. Dann bleibt doch normal – und findet weiterhin Thomas Mann gut! Beethoven hätte euch verachtet!
Egal, ob man musikalisch oder schriftstellerisch etwas Innovatives verzapft: Auf Unverständnis trifft man garantiert immer. Schon damals. 1823 hieß es in der »Zeitung für Theater und Musik zur Unterhaltung gebildeter, unbefangener Leser. Eine Begleiterin des Freimüthigen« (Berlin 1823) zum zweiten – und damit abschließenden Satz – von Beethovens Klaviersonate op. 111: »Nur ausdauernde, im Lesen fertig geübte und denkende Spieler werden sich ohne Ermüdung durch dieses letzte Dutzend Seiten durcharbeiten, dann aber auch durch viele Schönheiten für die Mühe entschädigt werden, obgleich nicht zu läugnen ist, daß für den angedeuteten Zweck viel zu viel Mittel angewandt sind, und die lange Dauer des ganzen – sechszehn Seiten in hohem Format einnehmenden – Satzes, bei aller Neuheit der etüdenmäßig behandelten Durchführung des Hauptgedankens, doch eine gewisse Einförmigkeit hervorbringt, welche keinen vollkommenen Total-Eindruck zurückläßt.« – »Viel zu viel Mittel«, »lange Dauer«, »etüdenmäßige Durchführung«, »gewisse Einförmigkeit«, »kein vollkommener Total-Eindruck«: Nie hat ein Mensch in allem Gesagten mehr geirrt! Nie!
Wir wissen zu wenig über Musik, von der wir vorgeben, sie schon lange zu kennen. Ein Indiz dafür ist – man stöhne bitte kollektiv, sich an den verschwitzten Händen haltend, auf – tatsächlich: Wikipedia. Der Wikipedia-Artikel zu Beethovens op. 111 (abgerufen am 24. Februar 2019) ist eine einzige Katastrophe. Die – wie immer unbekannten – Autoren des Artikels weisen beispielsweise die sich neigende Auftakt-Quinte (d2-g1) zum zweiten (!) Takt des letzten Satzes als »lyrisches Arietta-Thema« aus; dabei beginnt die Arietta mit einer abwärtsgerichteten Quarte. Auch kennen die Autoren den Unterschied zwischen vierter und fünfter Variation nicht; jedenfalls verschwimmen die Grenzen beider Variationen in den hilflosen Beschreibungen des musikalischen Geschehens dieser »Analyse« völlig; Dyskalkulie verpanscht mit Ratlosigkeit; vermutlich orientieren sich zehntausende Musik-Leistungskurs-Schüler und talentfreie Programmtextautoren an diesem Artikel, der zum Ende hin schließlich auch noch die unvermeidlichen »Meinungen« zur Charakteristik dieser Musik abzubilden nicht auszuschlagen vermag – oder schreiben ihn gar zu allem Überfluss noch zur Hälfte ab.
Dem Pianisten Edwin Fischer (1886-1960) zufolge fänden wir in der Sonate op. 111 »das Diesseits und das Jenseits versinnbildlicht«. Vieles Geschreibe über Beethovens letzte Klaviersonate liest sich überhaupt so, als sei er unmittelbar nach dem letzten Akkord am Tische zusammengesackt und voller Selbstmitleid eines großen Genies gestorben; natürlich wissend, vorher unsterbliche Musik abgeliefert zu haben. Doch Beethoven lebte nach op. 111 noch mehr als fünf Jahre – und komponierte Werke wie die Missa solemnis, die 33 Variationen über einen Walzer von Diabelli, die neunte Sinfonie sowie die Streichquartette Es-Dur, a-Moll, B-Dur (mit der später dann gesondert herausgegebenen Großen Fuge), cis-Moll und F-Dur. Opus einhundertelf: kein letztes Werk also, ganz im Gegenteil; noch nicht einmal das letzte große Werk für Klavier (siehe eben die Diabelli-Variationen).

Und so wirkt der Beginn von op. 111 auch alles andere als friedlich und sich selbst dem Schicksal – am liebsten noch den niedlichen blass-weißlichen Engelchen – ergebend. Da ist eher jemand in Sachen »zeitnaher Jour-fixe-Termin in der Hölle« mit dem Leibhaftigem im Verhandlungsgespräch. Adolf Bernhard Marx (1795–1866), Beethoven-Zeitgenosse und einer seiner ersten Biographen, schrieb über den besagten Sonaten-Anfang im Jahre 1824: »Diese Schläge im Einleitungssatze, dieses wüste, ungebändigte Stürmen und Toben im Allegro: ist das Musik?« Ja. Natürlich. Immer. Musik. Prankig dahingesetzt, im Forte. Die Eckpfeiler eines noch nicht vollständig (tür)eingetretenen ganzverminderten Septakkords, rhythmisch scharf gezackt. Dann noch eine Zweiunddreißigstel mitsamt ganz vermindertem Akkord. Das erinnert in seiner punktierten c-Molligkeit an den Beginn der Pathétique, also an die Klaviersonate c-Moll op. 13 aus dem Jahr 1799, doch ist der rhythmisch-harmonische Beton hier viel schroffer herausgearbeitet worden. Spätwerkig.
Dann geht es fast rezitativartig weiter, aber stets mit der Beethovenschen Faust, welche jederzeit dazwischenzuhauen droht, im Nacken. Oh, wehe! Das ist Weichheit und größte Wut im direkten Nebeneinander. Da ist kein bisschen Recitativo-Bravheit in den anrollenden Vorschlags-Sextakkorden! Aber trotzdem ist das eine Hommage, eine Erinnerung an barocke Rezitative und forsch punktierte französische Ouvertüren. Da ist Grollen, da ist versäumte Jugend und saure Erwachsenheit eingefroren in Musik. Beethoven komponiert ganz zu Beginn dieser Sonate sogar eine dreifache Barock-Hommage: an die temperamentvollen Louis-quatorze-Punktierungen französischer Ouvertüren, an barocke Rezitative und an die barocke Machart, Allegro-Sätze mit einer überaus ernsten Einleitung einzuläuten. Das liebte noch Beethovens Lehrer Joseph Haydn in vielen seiner Sinfonien.
Der große Artur Schnabel (1932) verhuscht den Beginn der Einleitung leider ziemlich, mit viel Pedal und viel zu wenig Scream-Schrecken in der dreinfahrenden Anmutung dieser jähen Anrollung. Bei Solomon Cutner (1951) klingt das ebenfalls zu unbesonders, zu murmelig, zu pedalisiert. András Schiff (2008) allerdings beginnt die Vorschläge in einem wirklichen Pianissimo und crescendiert aufregend hin zu dem jeweiligen Sextakkord, den er fest packt ohne ihn dabei in metallische Steinwaystücke zu reißen. Gefällt.
Ab Takt 6 folgt in der Maestoso-Einleitung eine Reihung von doppelt punktierten Akkord-Situationen und den entsprechend kurzen Werten vor dem jeweils nächsten Klang; die Passage zieht sich – wie schon die Triller ganz zu Beginn – ins Piano, dann sogar ins stete Pianissimo zurück. Eine stille Andacht nach diesem extrovertierten Beginn – zugleich eine aufgeschriebene Improvisation. Stellen wir uns bitte bei diesem Stück immer vor, wie Beethoven Zuhause in Wien – er ist ungefähr vierzig Mal umgezogen! – am Flügel sitzt und seinen Emotionen freien Lauf lässt; dabei im Hintergrund – er konnte gar nicht anders – die neuen, ungezügelten harmonischen und rhythmischen Ideen im Kopf, in den Adern, im Blut, in den Fingern; keine intellektuelle Musik, aber auch keine auf Effekt gebürstete reine Improvisation. Herz und Hand und Kopf und Leben.
Im »Unglückstakt« 13 dann eine Zerknirschung in kleinen Sekunden; scharfe Dissonanzen, noch eigens betont durch Sforzati: »Beethoven, wo ist dein Stachel?« Hier. Dissonanzen, die wiederum irgendwie »barock« anmuten, ähnlich der Vorhaltsdissonanzen in einem der von Schmerz nur so durchtränkten Bach-Choräle wie Christ lag in Todesbanden.
Der herrliche, aber stets gehetzte Artur Schnabel nimmt die tief angesiedelten Dissonanzen zu brav. Solomon dagegen vollbringt Einzigartiges, allein, was die erste berühmte Seite von op. 111 anbelangt.
Dort, wo die Musik in den Takten 6 bis 9 scheinbar gänzlich zum Stillstand kommt, da beginnt mit diesem Interpreten an der Seite eine Reise ins Innere, ein liebevolles Flüstern in dein Ohr, liebe Leser*in; ein demütiges Gebet ohne Dogmatik, ein Dank für alles Intime und Zärtliche – gleichsam verbunden mit der Erinnerung an große Schmerzen.
Für die erste Seite braucht Solomon ganze zwei Minuten, wohingegen Wilhelm Backhaus (1953) die Besonderheiten dieser Musik unsensibel übergeht und nach einer Minute »durch« ist. Friedrich Gulda (1953) bringt wenigstens dezente Betonungen, nimmt die Sforzati für voll, lässt dann aber zu stark nach. Edwin Fischer (1954) setzt die Dissonanzen und ihre Auflösungen deutlich voneinander ab, lässt den Hörer den Schmerz spüren; das ist zwar etwas akademisch, aber dennoch gut.
Sviatoslav Richter (1961), der die ausnotierten Anroll-Arpeggi mit ihrem Zielakkord ganz zu Beginn noch völlig trocken abreißen ließ, nimmt den Dissonanzen von Takt 13 dafür dann durch kleine Decrescendi jedwede Sprödigkeit; ganz im Sinne eines frühromantischen Bach-Verklärung à la »Bach/Busoni« intensiviert Elly Ney (1968) die kleinen Sekunden mit dem Gestus von Inbrunst und Demut zugleich, ähnlich wie Grigory Sokolov (1988). Arturo Benedetti Michelangeli (1990) versteht die Stelle verblüffend ähnlich wie Fischer, doch spielt Michelangeli die Sforzati »deutscher«, trockener. Warum Schiff ausgerechnet an dieser Stelle beschleunigt: ein Rätsel. Daniil Trifonov (2014) verarztet die Passage mit größtem Schmerzpotential. Irgendwie onanistisch in der ganzen Optik, aber hier im Klangresultat nicht falsch.
Als Übergang zum eigentlichen – und einzigen! – Thema des ersten Satzes hören wir dann einen ausnotierten Triller ganz in den Tiefen des Elfenbeins, darüber ein sanfter G-Dur-Akkord. Schnabel nimmt diesen Triller leider zu sehr ins Pedal, Solomon beweist erneut seine ewigliche Pianissimo-Hoheit über das Reich der 88 Tasten; Richter, Ney, Sokolov, Michelangeli und Trifonov verwischen die Spuren der Töne G1 und As1 zu sehr; der sonst für späten Beethoven nicht so sehr geeignete Gulda hält sich als einer von ganz wenigen Pianisten überhaupt an die Anweisung des Komponisten, welche eigentlich besagt, den Triller ganz ohne Pedal zu spielen.
Dann also kommt es zu dem prominent inszenierten Eintritt des Sonatenthemas. Wieder mit einem »Anroller«, wütend gegen die C-c-Oktavenwand fahrend; verwegen der Sprung vom es zum h, wieder ein Vorschleifer, dann die Fortsetzung, alles in sich beschleunigenden Oktaven hinfortziehend, dramatisierend… Doch auch hier kehrt sehr bald schon wieder Ruhe ein. Entsprechend der Unangemessenheit beruhigender Mantras spitzt sich die emotionale Gesamtsituation dadurch umso heftiger zu. Es kommt in den Takten 48 und 49 zu einem Intervallsprung-Massaker, das bis zu diesem musikgeschichtlichen Zeitpunkt wohl ganz alleine für sich dastehen dürfte: Über und unter den rödelnden linke-Hand-Fortissimo-Tremoli haut Beethoven jeweils einen Einzelton mit einem Abstand von fast fünf Oktaven ins schwarz-weiße Gebälk. Das klingt bei dem risikoreichsten Beethoven-Interpreten aller Zeiten – Artur Schnabel – fast zu zurückhaltend, was vielleicht der Aufnahmequalität zuzuschreiben ist. Gulda diktiert die nun wirklich hier nur als sich bewegende Fläche fungierende linke Hand viel zu sehr, so, dass die Wirkung der vier Kometentoneinschläge – der Pianist greift mit der rechten Hand unter die linke; das ist auch ein Stück Augenmusik – im Tümpelgemisch musikhochschulgelehriger Korrektheitslangeweile trübe versiegt. Als geradezu fatal müssen wir dagegen Backhaus dafür schelten, dass er ausgerechnet an dieser Stelle langsamer (!) wird. Are you fuggin‘ serious, Mr. Bakinghouse? Mit Stahlgewitter-Feeling pflockt Fischer die besagten vier Ton-Pfähle in den tremolierend-wankenden Untergrund: »Das ist mein Haus, meine Wut und meine Nicht-Zuversicht!«
Dabei verspielt sich Fischer in Takt 49 sogar. Na und? Nur Mut, nur Mut!
Michelangeli macht es ebenfalls richtig, indem er die garstigen Takte zuvor inszeniert, als kämpfe er sich durch einen Fluss voller schwarzer Galle, voller Rudimente von subtil im Smoothiemixer zerteilter schlechter Menschen der Vergangenheit. Hier wird der krasse Kampf, das rigorose Ringen und der schreiende Schmerz dieser Musik im Zusammenwirken mit der unbändigen und pianistisch virtuos-ungebändigten Kraft plastisch erlebbar. Erstaunlich, dass gerade die ungarisch-russische Fraktion mit dieser allein schon optisch im Notenbild frappierenden Explosion nichts anzufangen weiß; sowohl bei Schiff als auch bei Sokolov, Kissin und Trifonov verpuffen alle Tonzünder wie langweilige legale Silvesterböller aus Deutschland bei zu feuchter Wetterlage. Richter und noch adäquater Solomon allerdings machen alles wieder wut…
Dankbar lassen wir uns die Fortissimo-Kugeln dieser beiden guten Herren ins Hirn ballern. Mehr davon.
Nach einem geisterhaften Fugato-Beginn der Durchführung – Beethoven liebte plötzliche Schein-Fugen – kommt es im weiteren Verlauf des erstaunlich kurzweiligen ersten Satzes zu einigen Dramatisierungen des schon bekannten Materials. Doch bald schon muss die stillstmögliche C-Dur-Arietta samt ihrer unfassbaren – und trotzdem, ich schwöre es, an wenigen Nachmittagen komponierten – Variationen folgen. Ein Stück Musik, über das man noch so viel mehr schreiben müsste – oder es am besten, dies zeigt eben jener Artikel hier, am besten ließe. Ein paar Andeutungen müssen fürwahr genügen…
Zum Ende des ersten Satzes hat sich der tiefe Himmel schon nach C-Dur hin aufgehellt. Und eben dort beginnt die verschlungene, kraft- und temperamentvolle Reise der Arietta mitsamt ihren fünf unterschiedlichen Variationen. Das Thema ist – in seiner schlichten, sonoren Satzweise gleichbleibend – in zwei Teile geteilt: C-Dur und a-Moll; die ersten bedeutenden Intervalle des Themas sind dabei schon in sich ausholend, raumergreifend, mit möglichem Blick auf das, was da noch kömmet, strukturiert: Auf die abwärts geneigte Quarte folgt eine abwärts gerichtete Quinte – und schließlich eine aufsteigende Sehnsuchtssexte. In kleinen Schritten geht es also hinaus dort in die Welt. Aber in aller Stille, in aller Gesetztheit, friedlich, singend, selig fast.
Unbeschreiblich schön, wie Schnabel zögernd vom Auftakt zum ersten vollen Takt der Arietta hinübergeht; als taste sich jemand erst im Dunkeln an den stufenlosen Lichtschalter heran. Das ist dabei keineswegs mit irgendeiner Art von »Rubato« gleichzusetzen; das ist immanente Bewegung, sehr sensibel. Beim Übergang nach a-Moll bringt Schnabel dann eine kleine Akzentuierung, zieht ein anderes Register. Der Eintritt in die Moll-Sphäre klingt wie die plötzliche Erinnerung an eine enttäuschte Liebe. Das ist von so großer Schönheit, dass man gar keinen weiteren Interpretationsvergleich mehr bräuchte. Gleichsam steckt in diesen Gedanken aus Musik schon der gesamte Gehalt dessen, was folgen wird: eine tändelnde Variation zu Beginn; eine wiederum wie improvisiert klingende zweite Variation, eine swingende Variation voller neuer rhythmischer Ideen, voller innerer Takt-Dialektik, eine vierte Variation voller Engelstrost, voller schamanischer Heilungsgesten – und immer versteckt, aber irgendwie präsent: das Arietta-Thema. Am Ende schließlich Trillerketten, C-Dur-Licht… Man möchte es nicht beschreiben. Und auch bloß nicht zu häufig hören. Diese Musik kann heilen.
Zu Beginn des Ganzen versteht sogar der durchaus viel zu häufig viel zu hart anschlagende Gulda die dabei nicht unsaftige Sanftheit der Arietta; das hinüberschauende a-Moll ertönt bei ihm voller intensivster Intimität; das kann man kaum schöner spielen.
Fast gehetzt klingt dazu im Vergleich Backhaus, der trotz des Tempos den »großen Bogen« nicht zu spannen imstande ist. Eben jenen Reiz des Zusammenhangs reizt Fischer gekonnt aus, wenn auch ohne Farbänderung beim Übergang zu a-Moll. Der absolute Individualist Richter zieht sich in eine Schutzhülle aus herrlichstem Pianissimo zurück und summt unvergleichlich schön, allen Stimmen polyphon nachsinnend, sein Lied, immerdar. Sokolov lässt die Arietta orgelartig anmutend ertönen; weniger im Sinne einer kontrapunktisch durchdrungenen Orgel-Polyphonie als vielmehr in einem brahmsigen Bassoktavenbetonungssinne. Als es dann zu der besagten a-Moll-Intensivierung kommt, da streckt Sokolov gewissermaßen alle Viere von sich, verbreitert das Tempo und erreicht damit eine Schwere und Tiefe, die einem emotional richtig zusetzt.
Und so wird es dahinfließen… Stören wir den Verlauf der Variationen nicht weiter. Alles Schreiben über solche Musik muss wohl doch – zunächst – Fragment sein. Am Ende klingt die letzte Beethoven-Klaviersonate vielleicht doch nach Abschied. Nur ging es für Beethoven danach weiter. Und nach dessen »Tod« begann ohnehin die spannendste Zeit. Für uns.
Am Ende bleibt die Interpretation von Solomon Cutner als die vom Autor dieser Zeilen im Hinblick auf das ganze Werk am meisten bevorzugte, ja, inniglich geliebte Aufnahme übrig. Wie geschmackvoll und dennoch dynamisch radikal, wie intellektuell und gleichzeitig emotional durchdrungen kann man Beethoven verstehen? Solomon antwortet. Man möchte ihn umarmen – und ihm in Dankbarkeit voller Respekt und Anteilnahme zuhören; bei dieser Art von Musik, die in ihrem Charakter eigentlich kaum ein Davor und kein Danach hat.
Danach – oder damit? – begann dann wohl die Romantik in der Musik; und Musikgefühle wurden an den Trieb verraten. Das hier aber ist eine Musik, die das Wort »Kitsch« noch nicht kannte, dabei sich jeglichen Selbstmitleids entledigt hat – und trotzdem die tiefste, aufrichtigste Menschlichkeit verströmt, die denkbar ist. Nicht die neunte Sinfonie liebt alle Menschen. Es ist die Sonate op. 111. Erst trauernd (Maestoso), dann wütend (Allegro con brio ed appassionato), dann tröstend (Arietta. Adagio molto semplice e cantabile). Die wahre Menschenmusik. Ohne Zwangsumarmung. Ohne Brüder. Aber mit allen Geschwistern. ¶