Den Komponisten Alfred Koerppen kennen nicht viele außerhalb Hannovers, wo er jahrzehntelang eine Professur hatte. Er schrieb abseits der Diskurse, voller Schönheit und Melancholie, oft in einer Harmonik herber Farben, mit enormem Sinn für Stimmen. Volker Hagedorn traf den 95-jährigen und seine Frau, die Geigerin Barbara Koerppen, ehe der gebürtige Wiesbadener am 5. Juli starb. 

Der Zauberwald war das erste Stück, das ich von ihm hörte, es haute mich um, als ich 20 Jahre alt war. Wiederhören! Elf Minuten für Frauenchor, ein wahres Märchen, eine Realität. Aus Worten, Fragmenten von Jorinde und Joringel gerät man in die tieferen Dimensionen einer Welt, deren Eingang schon verschüttet schien. Die Stimmen erzählen nicht vom Wald, sie sind der Wald, ein dunkles und funkelndes Wunder. Die phonetischen Eigenschaften von Wörtern, Silben, Vogelrufen verbinden sich zu einem magischen Geflecht, in das man auch durch geschmeidigste Satzkunst hineingezogen wird, zuallererst durch eine leere Quinte, langgezogen, in der schon Vögel herumschwirren und »Komm mit« rufen. Später sind es unzählige, freigelassen aus 7.000 Körben.

Zauberwald, gesungen vom Mädchenchor Hannover unter der Leitung von Ludwig Rutt (aufgenommen in den 1980er Jahren).

1982, als Alfred Koerppen das vollendete, war sonst nicht die Zeit für Märchen, für körperhafte Klänge aber schon. Wolfgang Rihms eruptives Tutuguri wurde uraufgeführt und Sofia Gubaidulinas Sieben Worte, während György Ligeti mit dem Trio für Violine, Horn und Klavier zurück zu Brahms blickte. Die letzteren drei Komponisten sind jedem Musikinteressierten ein Begriff, Koerppen nicht, obwohl er noch weitaus mehr tolle Sachen geschrieben hat als den Zauberwald, und das über sieben Jahrzehnte hinweg. Allerdings auch unspektakulär vorbei an allen Diskursen über »Neue Musik«. 1926 kam er zur Welt, im selben Jahr wie Hans Werner Henze, Morton Feldman, György Kurtág, nahe drumherum Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, allesamt später höchst präsent.

Alfred Koerppen 1992

Koerppen weniger. Die jüngsten seiner wichtigsten Anreger sind Hindemith und Strawinsky. Geht gar nicht, oder? Geht eben doch. Es geht ja auch, Szymon Laks zu entdecken als großen Liedkomponisten des 20. Jahrhunderts, gut fünf Jahrzehnte, nachdem die Dominanz der tonangebenden Avantgarde seine Schaffenslust versiegen ließ. Es geht, Musik von Henze zu mögen und von Lachenmann ebenso, einst Antipoden und nicht an Polemik sparend. »Robespierre« Boulez wurde im Alter offen, und aus frühen Klavierkonzentraten machte er Orchestersachen, denen man sein Interesse an Wagner anhört. Vielleicht wird man die Gräben der 1960er ja bald nur noch auf Luftaufnahmen als Schatten im Acker erkennen wie die Grundrisse alter Römerlager.

»Wenn die Musik richtig gut ist«, sagt Alfred Koerppen bei meinem Besuch, »ist der Ort, wie weit sie avanciert ist, fast gleichgültig«. Wir sitzen in seinem Haus in Burgdorf bei Hannover, zusammen mit seiner Frau Barbara. Man duzt sich. Sie ist jetzt 92, er 95 Jahre alt. Sie unterstützen einander. Er liest ihr vor, weil sie schlecht sehen kann, und sie kümmert sich um alles andere, vom Rollstuhl aus, den er seinerseits auch gern als Gehhilfe benutzt. Sie nennt ihn »Koerppen«, nie Alfred, höchstens mal Alfredo. Früher, in den 1950er Jahren, fuhr sie Motorrad, und er saß hinten, der junge Musiktheorielehrer an der Landesmusikschule Hannover. Er war dorthin 1948 aus Frankfurt gekommen, als Qualifikation genügte schon der Ruf als verheißungsvoller Komponist. Barbara Boehr wurde seine Studentin in »GPI«: Generalbass, Partiturspiel, Improvisation.

Zu der Zeit schrieb Koerppen auch seine 12 Klavierstücke Orpheus in Thrazien, entschieden näher an Hindemith als an Schönberg, mit etwas Neoklassizismus dabei, sehr frei, seinem Vater hätte das wohl nicht gefallen. Der hatte in den 1920ern das UFA-Orchester in Wiesbaden geleitet und war 1944 an einer Embolie gestorben, als er in Wiesbaden am Klavier die Todesverkündigung aus der Walküre probte. Da war sein Sohn 17 Jahre alt. Kurz vor Kriegsende machte Koerppen Abitur am Musischen Gymnasium in Frankfurt, dessen Direktor Kurt Thomas ihn »immer mehr aufs Komponieren schob«, wie er erzählt. Ob er später mitbekam, dass Thomas ein Mitglied der NSDAP war, dass diese Schule für Begabte ein Vorzeigeprojekt war, und wie es ihm damit ging?

ANZEIGE

Das hätte ich ihn gern noch gefragt, in einem weiteren Gespräch, denn so einfach ist das Interviewen nicht. Wenn einer fast ein Jahrhundert hinter sich hat und nicht jede Frage gleich versteht, springt er gern zwischen den Jahrzehnten, Orten, Werken hin und her. Wenn Barbara Koerppen ausführen will, was er nur gestreift hat, knüpft er schon woanders an, so kommt es zu polyphonen Situationen. Es wird aber klar, was ihn als jungen Mann in den letzten Kriegsjahren umtrieb. »Verzweiflungsgesten, Erschütterungen, Einbrüche, eine negative Landschaft«, so beschreibt er mir, was er in einer Sinfonie komponierte, 1944 begonnen, die er dann für Jahrzehnte wegschloss. »Es gibt schwache Stellen, es gibt sehr gute Stellen, ein ausgesprochenes Jugendwerk.«

In welchem Stück, möchte ich wissen, erfährt man über ihn am meisten? »Es gibt fünf Gesänge«, sagt er, »mit Violine, Sopran, Klavier, wenn ich die höre, bin ich doch nach wie vor sehr erfreut, dass das zum Leben gekommen ist. Die Barbara spielt die Geige. Dauer der Freude.« Er habe es 1965 auch als »Provokation« verstanden, fünf Gedichte mit Zikaden und Duft und Frühling zu vertonen. »Dauer der Freude, das ist kein Thema für die Neue Musik, sie sieht lieber, was alles kaputtgeht und zuendegeht.« Da klingt Koerppen, als taumele er gerade mit Mitte vierzig aus einem Tribunal der Darmstädter Ferienkurse. Aber die Gesänge selbst sind gerade keine ohrensalbenden Idyllenbeschwörungen. Sie messen klar und  konzentriert die poetischen Räume aus, an Grenzen drängend, die Töne für Herders Zikade in hartem Diskant komprimierend, während Goethes Zikade am Ende auch zurückblickt auf Strawinskys Sacre, und man spürt, dass dieses grundstürzende Werk da erst gut 50 Jahre alt ist.

An Die Zikade aus Dauer der Freude mitDavid Wilde, Norma Enns und Barbara Koerppen

Zugleich ist der Zyklus auch ein Porträt der Geigerin, die das uraufführte, ihrer Energie und ihrer Sensibilität, eine, die dank ihres Könnens auch Paul Hindemith noch kennenlernte. »Ich hab’ mit ihm Monteverdis Orfeo in Rom aufgeführt. Alle sagten: ›Pass auf, der ist sehr schwierig, der Mann‹, aber er hat mich geliebt und ich fand ihn wunderbar.« 1963 war das, kurz vor Hindemiths Tod. Ursprünglich wollte Barbara Boehr gar nicht Geige lernen, sondern Klavier, in Stolp nahe der Ostsee, heute Słupsk in Polen. »Meine Eltern spielten als Amateure Geige und Bratsche. Sie waren zu arm für ein Klavier, aber es gab eine Viertelgeige im Haus, und drei Tage nach meinem fünften Geburtstag bekam ich Geigenunterricht. Ich konnte sehr schnell sehr gut spielen.«

Da ihre Lehrerin ein Klavier hatte, verbrachte Barbara viel Zeit dort und brachte sich das Klavierspielen selbst bei. Später wurde der Vater, ein Jurist, nach Hannover versetzt, »dann war Krieg und Krieg und Krieg und Krieg, und so bin ich kein Wunderkind geworden.« Sie komponierte auch. Als sie, frisch immatrikuliert, ihrem jungen Lehrer aus Hessen ein Stück mitbrachte und er Verbesserungsvorschläge machte, »hab ich die Noten genommen, die Tür zugeknallt und bin weggegangen«. Aber sie kam wieder. Und blieb.

Sie hat sämtliche Partituren des Mannes, den sie 1961 heiratete, mit Tinte ins Reine geschrieben. »Die Leute sagen: ›Du Ärmste!‹ Aber ich bin glücklich, dass ich das gemacht habe.« »Kannst du ein bisschen lauter sprechen?«, ruft er vom Sofa. »Das Schönste für mich war das Gutkennen deiner Musik«, sagt sie. »Es gibt Stellen in den Kaschnitzliedern, die kann ich nicht hören, ohne Tränen in die Augen zu kriegen, auch wenn ich Geschirr abtrockne.« Es sind Gedichte von der italienischen Küste, die er 1975 komponierte, mit Schauplätzen nahe dem zweiten Domizil der Koerppens im Latium, südlich von Rom. Marie Luise Kaschnitz schreibt von den ins Blaue ragenden Treppen des alten Ostia, vom »roten Wolkenlamm«, das bei der Torre San Lorenzo aus den Fluten trinkt.

Das alles ist für Bariton und Klavier ganz sparsam, karg fast und doch in einem Bogen komponiert, nur das Nötigste einerseits und doch weiten Raum schaffend, und für die Wogen gibt es die Wellenbewegung der Töne wie seit 400 Jahren. Tonale Verbindungen sind nebensächlich in dieser Harmonik herber Farben. Diese Lieder und die weiteren 70, die Koerppen von 1941 bis 2008 schrieb, zu Texten von Simon Dach bis Else Lasker-Schüler, sind Kostbarkeiten, seit 2013 gedruckt, aber nicht zu hören, es gibt nur private Mitschnitte. Das könnte sich ändern jetzt, da Liedgesang wieder mehr Hörer findet und längst nicht mehr jedes Kunstlied nach 1945 unter Regressionsverdacht steht.

Alfred Koerppen 1961 in Rom als Stipendiat der Villa Massimo • Foto © Barbara Koerppen

Auf Tantiemen aus Aufführungen war Alfred Koerppen nie angewiesen, so konnte er machen, was er wollte. 1960 Stipendiat der Villa Massimo zusammen mit Bernd Alois Zimmermann (»über Musik haben wir nicht gesprochen«) bekam er 1967 eine Professur für Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater, wo dann auch Barbara zur Violinprofessorin wurde. »Das Odium des Hochschulprofessors«, schrieb er mal, »ist dem kompositorischen Ondit nicht sehr bekömmlich«. Aber unterrichtet hat er gern. Wie, das erzählt seine Frau: »Er kann wahnsinnig gut zuhören. Er hört sich das Stück an, nochmal und nochmal. Dann fragt er etwas zu einer Stelle und bringt die Leute zum Reden. Der begießt die Pflanze.« »Die Kompositionsstudenten, die ich hatte…« Er denkt nach. »Es sind immerhin rund dreißig Leute, die ihr Brot verdienen, auch mit einem Komponieren, das nicht die letzten Hürden nehmen will, sondern einfach mal ein Stück zustande bringt.«

Im Idealfall ist ein Werk für ihn perfekt und haltbar »wie eine geschliffene Marmorkugel«. Koerppens abendländischer Werkbegriff ist klassischer als die Klassik, und das macht ihn fast schon zum Maverick seiner Generation, einer Art Einhorn aus fernen Wäldern. Er wusste das wohl beizeiten und spottete mal trotzig: »›Ich bin aber fortschrittlicher‹, sagte der Säbelzahntiger, bevor er die Maulsperre bekam und ausstarb.« Was er mit vielen deutschen Tonsetzern teilt, ist seine Liebe zu Italien. Er leuchtet auf, als ich ihn danach frage. »Mein Charakter ist ja ein bisschen verschlossen, und in Deutschland habe ich größere Scheu, mit Leuten zu reden. Da war Italien für mich ein Segen.«

Seit den 1960ern reisten die beiden jeden Sommer ins selbst entworfene große kubische Haus in Sezze, in den Monte Leppini südlich der Ewigen Stadt, wurden heimisch, fanden Freunde. »Wir haben da auf Hochzeiten und Beerdigungen hundert Mal das Ave Maria gespielt, mit Geige und Klavier«, sagt Barbara. »Die Frau vom Schmied war meine Freundin.« Sogar Ehrenbürger wurde der Komponist, weil er die lokale Hymne Venite a Sezze für den Mädchenchor Hannover bearbeitete, der das Stück dann in aller Welt sang.

Alfred Koerppen in den 1970ern in Sezze, Italien • Foto © Barbara Koerppen

Doch das ganze Licht des Südens, in dem auch eine große, tiefe Melancholie offenbar wird, hört man in den Vier italienischen Madrigalen, die Koerppen 1978 zu Gedichten von Giuseppe Ungaretti schrieb. »L´uva e matura«, so beginnt Quiete, »die Traube ist reif, das Feld gepflügt. / Der Berg trennt sich von den Wolke, / Mit den Schwalben / Zieht die letzte Mühe.« In zwei Akkorden wird die Traube prall, A-Dur, G-Dur, die ins 16. Jahrhundert führen, die Zeit der Madrigale mit ihren Mitteln, die der Komponist alle nutzt. Also wird »Si stacca«, »trennt sich«, mit getrennten Silben gesungen, es gibt eine Polyphonie der Imitationen, Ruhe und Bewegung. Aber dazu ein Ineinanderfließen, etwas einzigartig Körperhaftes der Stimmen, das die Worte in der Natur aufgehen lässt, der sie gelten. Unbeschreibliche, clusternahe Schichtungen für die »letzte Mühe« – es geht nicht nur um den Herbst, auch um das Endenmüssen.

Quiete aus den Vier Italienischen Madrigalen, gesungen vom Kammerchor der Hochschule für Musik und Theater Hannover, Leitung: Heinz Henning

Und es gibt ja noch so viel, vom Violinsolo bis zur Kammeroper, von der Klaviersonate bis zur Sinfonie, es gibt frühe, auch reichlich lange Oratorien und einen rhythmisch griffigen Spätstil, so ab Mitte 60, den man in einer kurzweiligen Sonata breve für Klavier ebenso findet wie im Chorwerk Georgica nach Versen von Vergil. »Man kann über sowas eigentlich nur sprechen«, sagt Koerppen, »wenn man ein Stück vor sich hat, am Klavier mit dem Komponisten sitzt, der spielt: Dann sag halt, warum so, warum fis und nicht f…« Aber Klavier spielt er nicht mehr, und das gemeinsame Anhören von Stücken gestaltet sich schwierig, weil er es irrsinnig laut braucht. Ja, noch ein Besuch wäre gut.

Aber als ich am 6. Juli, Mittwoch kurz nach 18 Uhr, anrufe, ist es zu spät. Am Abend zuvor ist er im Krankhaus gestorben, nach einem Schlaganfall, mit Barbara an seiner Seite. Es muss ein guter Abschied gewesen sein. »Er sah so schön aus«, sagt sie am Telefon, traurig, aber gefasst, »so jung. Gar keine Falten im Gesicht, er war ja dünn geworden, und lange schwarze Wimpern…« Sie erzählt noch von Bachs Wohltemperiertem Klavier, das sie zuletzt beide begeistert rauf und runter hörten, mit Gould, von der »erlesenen Genauigkeit«, mit er sie früher am Klavier begleitete, vom Haus in Italien, das nun eine Stätte für Stipendiaten werden soll. »Er hat keine Torsi hinterlassen«, sagt sie stolz, »nur ein Zwölftonstück und ein anderes. Der Doppelstrich war ihm wichtig.« ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.