Vom 1. Februar bis zum 30. Oktober 1864 kämpften Preußen und Österreich gegen Dänemark. Auf preußisch-österreichischer Seite verzeichnete man Verluste von etwa 2.200 Soldaten, auf dänischer Seite waren es circa 5.600. Streitpunkt waren die Herzogtümer Schleswig und Holstein – und insbesondere die nationale Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig. Preußen gewann diesen Krieg – mit politisch weitreichenden Folgen … Bereits 1814 hatte Dänemark Norwegen an Schweden abtreten müssen. Somit war auch Schweden 1864 gewissermaßen involviert.

In genau jene Zeit des Deutsch-Dänischen Krieges fällt die Geburt von Alice Charlotta Sandström, die am 12. März 1864 als Tochter von Sofie Brobeck und ihrem Ehemann (dem Kapitän Martin Eduard Sandström) zur Welt kam. Alice Sandströms Vater war ein musikalischer Mann; doch die meiste Zeit war er auf See, wohin er seine Familie immer mal wieder mitnahm. Schon als Kind habe Alice – Geschichtchen zufolge – am Klavier in der Kajüte ihres Vaters improvisiert. Ab dem sechsten Lebensjahr bekam sie Klavierunterricht.

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Im Alter von 15 Jahren verlor Alice Sandström ihren Vater, der – nur 49 Jahre alt – bei einem Schiffsuntergang starb. Da sich nun die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie verschlechterten, musste Alice Sandström zunächst auf eine Musikerinnenlaufbahn verzichten und begann 1880 eine dreijährige Lehrerinnenausbildung in Stockholm. In dieser Zeit am Königlichen Lehrerinnenseminar in der Riddargatan 5 lernte sie Kommilitoninnen wie die Feministin Gurli Lindner (1865–1947) oder Selma Lagerlöf (1858–1940) kennen. Lagerlöfs Kinderroman Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (1906) ist bis heute unvergessen. Gurli Lindner, die später zu einer bedeutenden Feministin avancierte, heiratete den Schwedisch-Lehrer ihres Seminars, ließ sich aber nach einer Affäre mit dem Polarforscher August Andrée (1854-1897) scheiden. (Andrée starb bei der »Polarexpedition von 1897«, bei der auch ein Gasballon zum Einsatz kam, unter nicht ganz genau geklärten Umständen.) Lindner ging »als erste Kinderbuchkritikerin Schwedens in die Annalen« ein, so Holger Wolandt in seiner Selma-Lagerlöf-Biographie.  

Alice Sandström hatte also Lagerlöf und Lindner als Freundinnen und Kolleginnen gewonnen. In gewisser Weise lag es »nahe«, als musikalisch gut ausgebildete Lehrerin Kinderlieder zu schreiben. Nach ihrer pädagogischen Ausbildung allerdings arbeitete Sandström zunächst als Gouvernante in Finnland. Nach ihrer Rückkehr verliebte sich die 20-Jährige 1864 in den vierzehn Jahre älteren Juristen James Tegnér (1851–1926), den sie 1885 heiratete. Bald kamen zwei Söhne zur Welt – und 1891 zog man nach Djursholm, nördlich von Stockholm gelegen. Ab 1892 gab Tegnér ihre ersten Kinderliedsammlungen heraus.

1914 erhielt Tegnér die königlich-schwedische Auszeichnung »Litteris et Artibus« – und 1926 (ihr Mann war gerade gestorben) wurde sie Mitglied der Königlichen Musikakademie von Stockholm.

Mit 78 Jahren starb Alice Tegnér am 26. Mai 1943.


Alice Tegnér (1864–1943)
Sonate für Violine und Klavier a-Moll (1901)

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Fast immer wird Alice Tegnér als »Kinderliedkomponistin« bezeichnet. Das wird ihrem Schaffen nicht gerecht, schrieb sie doch darüber hinaus auch zahlreiche weltliche und geistliche Vokalwerke (»für Erwachsene«). Auch Kammermusikwerke entstanden, darunter die Sonate für Violine und Klavier a-Moll (1901).

Mit einer nachdenklich chromatischen Schleife, die schon früh (angenehm, weil leidenschaftlich und seriös zugleich) an Brahms gemahnt, beginnt die Violine kurz ganz allein. Dann streckt die Geige synkopiert ihre Möglichkeitsraumfühler aus. Dazu begleitet das Klavier mit unterstützenden Achtel-Akkorden. Insgesamt: eine Klage, gewiss! Doch – wie immer bei guter Musik – differenziert sich dieses eine Gefühl früh aus. Und tatsächlich: Diese stille Klage Tegnérs kennt fast ungeahnte Facetten; äußerst leidenschaftliche, fast wütende. Jedenfalls ist von einer großen Liebe die »Rede«! Die Akkorde des Klaviers werden plötzlich voller; derweil differenzieren sich die vielen verschiedenen Notenwerte der Violine weiter aus. Und schon kommt es zu kleinen Imitationsspielchen zwischen beiden Instrumenten.

Nach etwa einer Minute greift das Klavier noch weiter hinaus. Wieder erinnert man sich an die Klavierentfaltungen von Brahms, wenngleich Tegnérs a-Moll-Sonate doch mehr »im Inneren« verharrt; auch im Sinne einer kühlen (nordischen) Bescheidenheit, die sich aber dort ihre Gefühlwallungen erlaubt, wo wir offen dafür sind. Letztlich klingt das Ganze auch schlanker – und doch spürt man, dass die Überraschungspotentiale dieser Musik weiter entwickelt sind als bei Brahms und seinen Sonaten für Klavier und Violine Nr. 1 G-Dur op. 78 (1878–1879), Nr. 2 A-Dur op. 100 (1886) und Nr. 3 d-Moll op. 108 (1886–1888). Von der Entschlackung des Satzes und der »exerzierten Innerlichkeit« her ist auch Debussys Violinsonate von 1917 vielleicht nicht ganz fern. In jedem Fall: Ein Werk, das neben der Violin-Klavier-Kammermusik von Brahms, Franck, Ravel, Debussy, Schumann und Beethoven ins Repertoire gehört! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.