Am 5. Juni 1872 verabschiedete man den Dirigenten Hermann Levi (1839–1900) – 1882 Uraufführungs-Dirigent von Wagners Parsifal – als Leiter des Hoforchesters Karlsruhe. Johannes Brahms hatte zu diesem Anlass sein Triumphlied op. 55 komponiert, das an eben jenem Tag im Großherzlichen Hoftheater zu Karlsruhe zum ersten Mal gegeben wurde. 18 Tage später – am 22. Juni 1872 – wurde Clara Faisst in Karlsruhe geboren.
Clara Faissts Mutter stammte aus der französischen Schweiz. Faissts Vater arbeitete als Oberkirchenrat in Karlsruhe, starb aber ein Jahr nach der Geburt seiner Tochter. Clara Faisst hatte früh mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und musste, wie es heißt, der Schule immer wieder fernbleiben. Dennoch erhielt sie ab ihrem siebten Lebensjahr zunächst Harmonielehreunterweisungen bei dem damaligen Konzertmeister des besagten Hoforchesters. 1896 verließ Faisst ihre Heimatstadt, um in Berlin beim Clara-Schumann-Schüler Ernst Rudorff (1840–1916) Klavier und bei dem Stiefbruder Schumanns Woldemar Bargiel (1828–1897) Kontrapunkt und Komposition zu studieren. Max Bruch (1838–1920) unterrichtete Faisst ebenfalls in Komposition und noch über das Studium hinaus pflegte sie Kontakt zu Bruch, widmete ihm beispielsweise ihre Lieder op. 3 (1895).
ANZEIGE

Offenbar kehrte Faisst nach ihrem Studium an der Königlichen Hochschule für Musik Berlin nach Karlsruhe zurück und arbeitete dort als Pianistin, Komponistin und Klavierpädagogin. Zwar fanden Faissts Werke durchaus Beachtung, ihre Präsenz als Künstlerin blieb jedoch meist eher privaten Salons vorbehalten. Mit dem musikbegeisterten Arzt und Theologen Albert Schweitzer (1875–1965) war Faisst lange befreundet, wie Briefe belegen.
Zum Verhalten Faissts während der Jahre 1933 bis 1945 schreibt Autorin Martina Rebmann: »Über Clara Faissts Haltung zum Nationalsozialismus liegen keine Quellen vor. Aber während sie in der Zeit des Ersten Weltkrieges patriotische Lieder komponierte, sind solche Stücke aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs nicht bekannt. Aus persönlichen Zeugnissen dieser Jahre wird allerdings eine tiefreligiöse Grundhaltung deutlich. Weitere Briefe von Clara Faisst an Freunde zeichnen ein eindrückliches Bild der schwierigen Lebens- und Zeitumstände in Karlsruhe nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem Brief vom Dezember 1945 berichtete die Komponistin über die schlechte Ernährungslage und Probleme beim Heizen der Wohnungen in der zu einem Drittel zerstörten Stadt […].«
Ab 1946 häuften sich die Aufführungen von Faissts Werken wieder, dabei wurde die Komponistin immer wieder eingeschränkt durch ihre fragile Gesundheit. Faisst starb am 22. November 1948 im Alter von 76 Jahren in ihrer Geburtsstadt Karlsruhe.
Clara Faisst (1872–1948)
Präludium im gotischen Stil op. 28 (ca. 1928–1931)
Clara Faisst komponierte vor allem Lieder, nach Texten von Dichter:innen wie Anna Richter, Theodor Storm und Matthias Claudius. Faisst schrieb auch eigene Gedichte, die sie wiederum selbst vertonte. Damit ist sie eine von ganz wenigen Komponistinnen des 19. beziehungsweise 20. Jahrhunderts, die selbst verfasste Texte für selbst komponierte Lieder verwendeten.
Faissts Präludium im gotischen Stil op. 28 entstand wohl in den Jahren 1928 bis 1931. Der Umstand, dass dieses Werk gleichermaßen für Klavier wie für Orgel komponierte wurde, wird sogleich an dem Orgelpunkt zu Beginn deutlich. Darüber reihen sich »wuchtend und schwer«, so die Spielanweisung der Komponistin, kirchentonartlich gereihte Akkorde aneinander. Einzelne Töne spalten sich bald ab, Melodiepartikel bildend. Trotz der klavieristischen Vollgriffigkeit à la Brahms resultiert ein Gefühl der stilistischen »Zeitlosigkeit«. Faissts glühende Harmonik ist jedoch in ihrem teils überraschenden Nebeneinander klar im 20. Jahrhundert verortet – und mitunter von impressionistischer Klangsprache gefärbt.
Nach einigen Momenten kommt es zu einem »demütig« inszenierten Fugato, das bald wieder in die bekannten akkordischen Reihungen überführt wird. Ganz klar entsteht ein A-B-A-Formgefühl, denn die ehernen Akkorde des Anfangs kehren schlussendlich wieder. Merkwürdige Musik, die – trotz der vielfach im französischen Bereich verwendeten, von einigen Musikwissenschaftler:innen immer mal wieder belächelten »Gotik«-Anklänge – seltsam lange im Ohr bleibt. ¶