»WDR-Großauftrag für kleine Kompositionen«, übertitelte der WDR am 22. April 2021 die Einladung zu einem Pressegespräch zum neuen Auftragswerk-Zyklus Miniaturen der Zeit.
Großauftrag – das klingt nach unternehmerischem Risiko, nach strategischer Weichenstellung, nach Elektrobussen aus China oder Windturbinen für Spanien. Dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich mit einem Vokabular des privatwirtschaftlichen Wettbewerbs rühmt, ist kein Zufall. Der Subtext lautet: Wir sind mutig, wir gehen ins Risiko, wir positionieren uns neu, and it’s big!
Nur dass nicht Bank sondern Beitrag diesen Großauftrag finanziert, und der Rundfunkbeitrag auch damit legitimiert wird, dass die Öffentlich-Rechtlichen ein von den Marktmechanismen unabhängiges und vielfältiges Kulturangebot bereitstellen. Es ist gut, dass ein Rundfunkorchester neue Musik spielt und Komponist:innen in der Corona-bedingten Ebbe (hoffentlich gut bezahlte) Aufträge erhalten. Aber letztlich gibt der WDR damit nur den Auftrag weiter, der ihm vonseiten der Gesellschaft gegeben wurde.
Dieser Auftrag – Repertoire entdecken, neue Musik aufführen, Vielfalt jenseits des Mainstreams bewahren – wird von den rundfunkeigenen Klangkörpern mittlerweile jedoch eher schlecht als recht ausgeführt. Programmatisch haben sich die 12 Rundfunkorchester den 110 öffentlich finanzierten Konzertorchestern seit der Gründung immer mehr angenähert. Unterscheidungsmerkmale gibt es kaum noch. Trotzdem wird die Alleinstellung der eigenen Orchester von vielen Verantwortlichen der Rundfunkanstalten reflexartig weiter behauptet, so wie gerade wieder von WDR-Programmdirektorin Valerie Weber. Die Aufführungspraxis und das Konzertprogramm »von den Orchestern allgemein« sei oft sehr traditionell, so Weber in einem Interview im Haussender WDR 3. Bei zeitgenössischer Musik werde zudem immer auf Altbewährtes zurückgegriffen, »wie Rihm oder Arvo Pärt«. [Pärt? Echt?] Als öffentlich-rechtlicher Rundfunk habe sie den Anspruch, »was zu riskieren, mutig zu sein, neue Dinge zu überlegen.«
Dass diese Behauptung eher Floskel als Realität ist, beweist alleine schon der Blick auf die Konzertprogramme des WDR Sinfonieorchesters: Diese kommen wesentlich vorhersehbarer und uninspirierter daher als die des ebenfalls in Köln beheimateten städtischen Gürzenich-Orchesters. Und tatsächlich wäre wohl am ehesten noch Jörg Widmann der »altbewährte« Komponist, auf den deutsche Orchester zurückgreifen, wenn es »mal was Zeitgenössisches« sein soll. Der ist gerade für drei Spielzeiten Artist in Residence – bei Webers »eigenem« WDR Sinfonieorchester.
Noch skurriler ist, dass für Weber ausgerechnet Miniaturen der Zeit, jener anfangs erwähnte »Großauftrag«, Ausdruck der eigenen Risikobereitschaft sein soll: zwölf Auftragskompositionen zeitgenössischer Komponist:innen, die »aktuelles Zeitgeschehen reflektieren«, wie es in der WDR-Pressemitteilung heißt. Es gehe um »die Sehnsucht nach menschlicher Berührung, um die Erfahrung von Einsamkeit, um vom Aussterben bedrohte Bienen, den Klimawandel, aber auch um das überraschend neue Zeiterleben während der Pandemie.« Die maximal fünfminütigen Stücke werden jeweils live in der Sendung WDR 3 Tonart zwischen 15 und 16 Uhr uraufgeführt. Sie richteten sich auch an ein jüngeres Publikum, das bislang noch keine Berührung mit zeitgenössischer Musik hatte, so WDR-Intendant Tom Buhrow in einer Sitzung des Rundfunkrats am 6. Mai 2021. Die Idee sei laut Weber in einem Fischlokal entstanden. Sie habe wissen wollen: Wie mutig ist der neue Chefdirigent Cristian Măcelaru? Für den sei »eine Welt ohne zeitgenössische Klänge nicht nur ärmer, sondern schlichtweg unvorstellbar«, heißt es in der Pressemitteilung zum Miniaturen-Zyklus. In Köln dirigiert er allerdings auch in der nächsten Saison – mit Ausnahme eines Konzerts beim Acht Brücken-Festival mit Stücken von Liza Lim und Sofia Gubaidulina – weniger »zeitgenössische Klänge« als die altbekannten sinfonischen Schlachtrösser des 19. und 20. Jahrhunderts: Brahms, Tschaikowski, Mahler, Strauss, Strawinskys Sacre.
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Tatsächlich führt die Miniaturen-Reihe eine Rezeption von zeitgenössischer Musik fort, die auf Klischees und gängigen Hörer:innen-Stereotypen basiert: Weil »das Neue« schwere Kost ist, muss man sie möglichst an den Anfang eines Konzertprogramms stellen, damit sie dann im Anschluss bei vertrauter musikalischer Kulinarik gut verdaut werden kann. Und weil sich »das normale Abonnement-Publikum, das eigentlich Mozart gebucht hat« laut Weber »eine ganze Stunde neue Musik nicht zutraut«, müsse es »mit einer Miniatur an die Klänge unserer Zeit herangeführt werden«. »Es sind fünf Minuten, es wird nichts sein, was unsere Hörer besonders abschrecken wird«, so WDR 3-Wellenchef Matthias Kremin. Das ist nicht Risiko, sondern seit Jahrzehnten vertraute, konservative Programmkuration, die das Zeitgenössische nur als Alibi behandelt. Es gehört schon viel Chuzpe dazu, dies als mutigen Schritt zu verkaufen.
Vollends nebulös ist dann Webers Aussage, dass es »wenn wir mutig sein wollen, aber auch wirklich Musik dieser Gegenwart sein sollte, nicht Musik aus den 70ern, sondern Musik von heute«. Ist es mutiger, wenn das WDR Sinfonieorchester, wie letztes Jahr, James MacMillans Larghetto for Orchestra (2017) spielt statt, zum Beispiel, Berios Coro, eine Auftragskomposition des WDR aus den 1970ern (und eine Stunde lang)? Als ob der Zeitpunkt einer Komposition etwas über dessen Welthaltigkeit, Gegenwartsbezug oder Sprache aussagt.
»Ganz normal in der Musik unserer Zeit ist, dass sie sich hin und wieder auf aktuelle Themen bezieht, auf Phänomene unserer Zeit«, heißt es in einer Anmoderation zur Miniaturen-Reihe. Das war freilich auch bei der Musik vergangener Zeiten »hin und wieder« der Fall. Aber vielleicht muss man die Aktualität als Verkaufsargument konstruieren, wenn man der Hörerfahrung von Musik alleine nicht über den Weg traut, wenn man »Relevanz« mit »Aktualität« gleichsetzt, wenn man denkt, die »Rätselhaftigkeit« neuer Musik über eine Anschlussfähigkeit an »das aktuelle Zeitgeschehen« auflösen zu müssen. »Ich sehe ab und an einen fröhlichen Tropfen, der aber doch in sehr beschwerter Stimmung dahinschmilzt«, so Weber über Charlotte Brays Where Icebergs Dance Away, das Ende Mai uraufgeführt wurde. »Die Neue Musik ist rätselhaft genug, ich denke, die meisten Menschen würden sogar meinen, sie ist unlösbar«, sagt der Schriftsteller Ilija Trojanow diese Woche in einem FAZ-Interview. »Ein Weg, der mir persönlich hilft, entfernt sich von dem Konzept des Rätsels. ›Was ist damit gemeint?‹ ist für mich weniger interessant, als ›wohin entführt es mich, wie provoziert es mich?‹« Oder, wie Max Goldt schreibt: »Das Warum tanzt nicht gerne mit dem Weil«.
Die Behauptungen von Mut und Risiko, mit denen die Miniaturen der Zeit geframet werden, sind also eine ziemliche Mogelpackung. Da ist es besser, Fragen aus dem Weg zu gehen und sich lieber im eigenen Sender selbst zu vermarkten. [Bei zwei Interviewanfragen zu den Themen Rundfunkorchester und Programmreform verwies Weber jeweils auf ihre Abteilungsleiter.] Erst recht, wenn man berücksichtigt, was im Kulturradio WDR 3 sonst gerade noch so los ist: Da werden zum Zwecke der »Quote« ganze Genres aus dem Programm gekippt und Moderator:innen angehalten, »ein Grundgefühl von Leichtigkeit« und »Musik als Emotion pur« auszustrahlen, um die Wechselhörer:innen nicht zu überfordern. Einige WDR 3-Mitarbeiter:innen verdächtigen Valerie Weber, die 2014 vom Privatsender Antenne Bayern kam, weder mit den WDR-Klangkörpern noch mit dem Programm von WDR 3 besonders viel anfangen zu können. Das Kernprofil von WDR 3 sei für sie ein Affront an sich, so eine Mitarbeiterin: »Unter Generalverdacht steht bei ihr alles, was nach klassischer Kulturdisziplin aussieht.« Wenn das stimmt, dann wären die Miniaturen der Zeit und vor allem ihre Vermarktung das Feigenblatt, das die Nacktheit nur noch sichtbarer macht. ¶