Das Magazin Le Canard enchaîné, in Frankreich berühmt für seine Investigativrecherchen, wirft dem Dirigenten François-Xavier Roth in einem heute veröffentlichten Artikel sexuelle Belästigung vor.  

Roth, geboren 1971 in Neuilly-sur-Seine, ist seit 2015 Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor der Stadt Köln. 2003 gründete er das Orchester Les Siècles, 2017 ehrte ihn der französische Staatspräsident mit dem Verdienstorden Chevalier de la Légion d’Honneur. Im selben Jahr wurde Roth zudem Erster Gastdirigent beim London Symphony Orchestra. Bei allen renommierten europäischen Symphonieorchestern ist er regelmäßig zu Gast – wie gerade erst am Wochenende bei den Berliner Philharmonikern. Zur Spielzeit 2025/26 wird »FXR« Chefdirigent und Künstlerischer Leiter beim SWR Symphonieorchester und damit Nachfolger von Teodor Currentzis. 

Im Zuge der Recherchen für Le Canard enchaîné sprachen die Journalist:innen Emmanuel Savoye und Fanny Ruz-Guindos mit sieben Musiker:innen über ›unerwünschte Nachrichten‹, die Roth ihnen im Laufe ihrer Zusammenarbeit angeblich geschickt haben soll. Textnachrichten und Fotos, die diese Schilderungen stützen, liegen Le Canard enchaîné vor. Außerdem zitiert das Magazin einen Brief eines Mitglieds des Gürzenich-Orchesters an dessen Geschäftsführenden Direktor Stefan Englert, in dem Roth sexuell übergriffiges Verhalten gegenüber Orchestermusikerinnen vorgeworfen wird. Dieser Brief liegt VAN vor. Auf VAN-Nachfrage teilte Englert am 8. Mai mit, in seiner Amtszeit sei keine AGG-Beschwerde über Diskriminierung (die sexuelle Belästigung einschließt) durch François-Xavier Roths eingereicht worden. [VAN war von Le Canard enchaîné im Vorfeld über die Veröffentlichung informiert worden.]

Die #MeToo-Debatte entwickelt in Frankreich mit ein paar Jahren Verspätung gerade erst wirkliches Momentum, auch das derzeit stattfindende 77. Filmfestival in Cannes wurde davon erfasst. »Das Ausmaß und die Intensität der aktuellen Welle von Anschuldigungen übersteigt alles, was das Land bisher erlebt hat«, berichtet Variety. Und obwohl sich die Vorwürfe zunächst auf wichtige Persönlichkeiten der französischen Filmindustrie konzentrierten, scheint man in Frankreich grundsätzlich sensibler zu werden für Vorwürfe der sexuellen Belästigung im beruflichen Kontext. Die aktuelle Recherche von Le Canard enchaîné ist Teil dieser Entwicklung. 

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Die Schlagzeile auf der Titelseite der Le Canard enchaîné-Ausgabe vom 15. Mai lautete, mit Blick auf #MeToo in Cannes: »Die Botschaft der Opfer an die Beschuldigten: Schämt ihr euch nicht?« Das Magazin, dessen Name übersetzt »Die angekettete Ente« bedeutet, deckt seit seiner Gründung im Jahr 1915 Skandale in den höchsten Ebenen von Politik und Verwaltung auf. Finanziert wird das Magazin durch hohe Rücklagen, die unabhängiges Arbeiten ohne Anzeigengeschäft ermöglichen. So hat sich Le Canard enchaîné einen Ruf für knallharten Investigativjournalismus in Kombination mit einem humorvollen, ironischen Ton erworben. Jetzt nimmt Le Canard enchaîné Vorwürfe der sexuellen Belästigung in der Welt der klassischen Musik in den Blick.

Laut den in Le Canard enchainé geäußerten Anschuldigungen folgte Roth in den geschilderten Fällen einem Muster. Dieses habe angeblich mit einer spätabendlichen, schmeichelhaften SMS begonnen. Habe er darauf eine Antwort erhalten, seien weitere Nachrichten gefolgt, mit einer steigenden Zahl von Kuss- und Herz-Emojis, heißt es dort.

Manchmal, so lauten die Vorwürfe, ging es auch auch wesentlich schneller: »Ein hübsches Kompliment, und zack, schon folgte das Dickpic«, so fasst Le Canard enchaîné dem Magazin gegenüber geäußerte Anschuldigungen zusammen. Die Geigerin Marie-Annick Nicolas, die in den 1980er Jahren Konzertmeisterin beim Orchestre Philharmonique de Radio France war, wirft Roth vor, er habe sie eines Abends, als er sich in seinem Hotelzimmer langweilte, zu einer »virtuellen Dusche« eingeladen. Der ehemalige Intendant der Philharmonie de Paris, Laurent Bayle, bestätigte zudem gegenüber Le Canard, dass er im Rahmen der Chefdirigentenwahl für das Orchestre de Paris von der Stadt Paris 2019 über die Vorwürfe gegen Roth informiert worden sei. (Roth war einer der Kandidaten, am Ende machte Klaus Mäkelä das Rennen.) 

Unter den Empfänger:innen von Roths Nachrichten sollen sowohl Frauen als auch Männer gewesen sein. Zwischen 2005 und 2010 seien angeblich junge Musiker:innen davor gewarnt worden, auf Roths Nachrichten zu reagieren. Andere hätten laut Le Canard enchaîné die Nachrichten eher als einen Initiationsritus heruntergespielt, den man hinzunehmen hätte.

Roth selbst erklärte gegenüber Le Canard enchaîné, es sei vorgekommen, dass er per Telefon »intime Nachrichten« ausgetauscht habe. »Wenn ich zu weit gegangen bin, möchte ich mich bei denjenigen entschuldigen, die ich verletzt haben könnte«, schreibt er. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com