Die Menge der Musikjubiläen in diesem Jahr ist schier unfassbar, auch wenn man nur die bis 1924 nimmt und mit mindestens einer Null hinten dran. Und dann sollte man noch die Uraufführungsjubiläen weglassen, sonst würde neben Bach und Gershwin kein Gras mehr wachsen. Der Leipziger lieferte vor 300 Jahren 48 Kantaten ab, dazu noch die Johannes-Passion, der Mann aus Brooklyn brachte es 1924 auf rund 60 Songs, ganz zu schweigen von der Rhapsody in Blue… Bei den 150sten Geburtstagen drängeln sich die Fans von Arnold Schönberg, Reynaldo Hahn, Charles Ives und Gustav Holst, und bei den zweihundertsten kommt neben Bedřich Smetana der Mann in den Blick, für den ich diesen statistischen Einstieg überhaupt veranstalte, Anton Bruckner.

Und zwar nicht, weil Bruckner – am 4. September 1824 in Ansfelden, Oberösterreich, geboren – sonst nicht präsent genug wäre, sondern weil die Klischees so präsent sind, die sich ihm angelagert haben, für die er natürlich auch einiges geliefert hat und die auch den aufregendsten Interpretationen und Diskursen so getrotzt haben, dass sie mir sogar noch durch den Kopf gingen, als ich vor sieben Jahren anfing, seine Sinfonien mal genauer kennenzulernen. Neun Mal dieselbe Sinfonie, lautet ein Klischee (unabhängig davon, dass es elf Sinfonien gibt), beschreibbar wahlweise durch »Kathedrale« (weil er so katholisch war) oder durch »Alpengipfel«, außerdem alle »orgelmäßig« (weil er Organist war), als Mensch: tief gläubig, autoritätsfixiert, verklemmt.

Das alles wird beim Hören und Mitlesen schnell nebensächlich. Am meisten hat mich überrascht, dass der Mann ironisch sein kann. Wenn man das mit Zwinker-Emojis in den Partituren markieren wollte, könnte eins davon in den ersten Satz der Fünften Sinfonie gesetzt werden, Takt 262. In wenigen Sekunden geraten da Horn und Holzbläser von Ges-Dur nach D-Dur, auf so schwindelerregend elegante Weise, dass der Einsatz der Flöten danach wie ein Kichern klingt. Sicher kann man auch ganz seriös nur von Kontrapunktik und Motivabspaltung sprechen. Da schwingt dann aber nichts mit von dem, was da freigesetzt wird. Noch weniger, was Eleganz oder gar Ironie für einen bedeutet, der sich mit dieser Sinfonie aus einer bleischweren Depression herauskomponiert hat.

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Womit wir beim Biografischen wären. Die meisten seiner Sinfonien gehen über Bruckners unspektakuläres Leben so weit hinaus, dass zwischen beidem oft ein Gegensatz gesehen wird – das Komponieren als einer Art überirdischer Kompensationsleistung. Es ist aber ein besonderer Fall der Identität von Kunst und Leben. Die Sinfonien waren, seit Bruckner 40 Jahre alt war, seine eigentliche Welt, er lebte darin, darum wartete er nicht auf Aufträge und war zwar oft frustriert, aber nicht zu entmutigen. Er bewegte sich in einer sinfonischen Welt, die ihre eigene Biographie hat. Nicht nur, wenn in der Sechsten ein Thema aus der Fünften zitiert wird, das kein Zeitgenosse wiedererkennen konnte, weil die Fünfte erst sechzehn Jahre nach ihrer Vollendung uraufgeführt wurde.

Die Sechste… Als sie fällig wurde in der Folge meiner Essays für das Gürzenich-Orchester, hatte ich nacheinander die Achte, Dritte, Siebte, Erste, Neunte und Fünfte erkundet. Ich war davon so beeindruckt wie erschöpft und stellte mir zur Entspannung vor, »Bruckners Sechste« sei seine sechste Ehefrau, nämlich Josepha von Metternich-Wittgenstein, eine Millionenerbin, die jetzt 141-jährig in Beverly Hills lebt und großzügig schlecht verdienende Autoren und Physiotherapeutinnen unterstützt. Als ich dem Programmredakteur das schrieb, antwortete er: »Dass Bruckner sechsmal verheiratet war, ist doch ein alter Hut, mich wundert es ein wenig, dass Sie das offenbar vorher nicht wussten. Man hört das immerhin sehr deutlich in seiner Musik, auch die Tragik seines völlig entkräfteten Verlöschens am Lebensende liegt sicherlich darin begründet.«

Wir erdachten uns Details rund um diese offenbar nicht unanstrengende Josepha, während ich in der realen Sechsten Sinfonie (wieder mal) den Bruckner traf, zu dem ein wildes Leben mit sechs Frauen besser passte als das Dasein eines unberührt alternden Universitätsbeamten in Wien. Ein Typ, der um 1880 mit galaktischem Sound im ersten Satz die Star Wars überholt, mit Patterns arbeitet, Schnitten und Zooms, der im letzten Satz andauernd Anläufe abbricht (»haltloses Treiben«, findet selbst der kluge Peter Gülke) und das Material für sich stehen lässt, sehr modern und, ja, cool. Weit entfernt vom »armen Organisten aus Wien« (Cosima Wagner), der er schon 1873 nicht war, als er sich in Bayreuth vom bewunderten Richard Wagner mit Weihenstephan vom Fass abfüllen ließ und ihm anschließend die Dritte, die »Symfonie in Dmoll« widmete. Voll mit Wagnerzitaten, die in späteren Fassungen verschwanden.

Und von wegen »armer Organist«: Bei der Londoner Weltausstellung 1871 wurde Bruckner, der an der neuen Orgel der Royal Albert Hall gastierte, derart gefeiert, dass er auch Heiratsanträge bekam. So etwas überforderte ihn, aber dafür ist das Metropolenadrenalin voll in seine Zweite Sinfonie geschossen. Es gibt so endlos viel zu entdecken bei diesem Komponisten! Man muss sein Image zum Jubiläum ja nicht komplett umdrehen wie bei Franz Kafka, der jetzt, 100 Jahre nach seinem Tod, auf einmal wie ein Ausbund an Lebensfreude durch alle Medien hopst. Aber wenn man Bruckner mit Neugier in seine Musik folgt, entdeckt man das eigentliche Leben dieses Mannes. Und natürlich noch viel mehr, vom Licht bis zur Nacht der Welt. Und wie gehe ich nun damit um, dass François-Xavier Roth, dessen großem Bruckner-Projekt ich meine Abenteuer mit Anton verdanke, toll dirigiert, aber mies gewhatsappt hat? Puh. Die Frage bleibt erstmal so offen wie das zerbröselnde pianissimo-Ende des Kopfsatzes der Achten, nachdem der Komponist das ganze Triumphgetöse gestrichen hatte. ¶   

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.