Ein Interview mit dem Komponisten Samir Odeh-Tamimi

Text · Titel-Foto © Thomas Kujawinski· Datum 9.3.2016

VAN: Was war deine erste prägende, klangliche Erfahrung?

Samir Odeh-Tamimi: Wow, eine schwierige Frage. An eine erste Erfahrung, die ich als solche ausmachen könnte, erinnere ich mich nicht. Ich weiß aber, dass meine Sinne schon immer auf Klang gerichtet waren, das ist bis heute so. Ich habe immer Interesse an Musik gehabt, auch schon als ganz junger Mensch, wenn jemand irgendwo Musik gespielt hat, wollte ich mitmachen. Ein Großvater von mir war Sufi-Sänger und Trommler, eine Art Sufi-Heiler; mit ihm habe ich die ersten indirekten Musikerfahrungen gemacht.

Und das erste Mal, dass du kompositorisch gedacht hast?

Als ich anfing Klavierunterricht zu bekommen, bei einem russischen Juden in Petach Tikwa (einer israelischen Großstadt östlich von Tel Aviv, d. Red.); als damals 11-jähriger kam er mir ungeheuer alt vor und er konnte kaum noch spielen. Er hat mir Übungen gegeben, aber ich habe nie geübt, sondern immer irgendetwas gespielt. Wenn ich dann zum Unterricht kam, sollte ich ihm zeigen, was ich gelernt hatte, und ich habe ihm gezeigt, was ich zu Hause erfunden hatte. Das waren meine ersten Kompositionen, manche Sachen hat er sich angehört, aber irgendwann sagte er, ›Junge, so geht das nicht, so wirst du nie Klavier lernen.‹ Dann hat er mich rausgeschmissen. Seitdem bedeutet Musizieren für mich Musik erfinden.

Hast du nie einen akademischen Weg in die Musik gesucht?

Doch, ich habe in Deutschland Komposition studiert. Ich hatte in Israel angefangen mit arabischen und jemenitischen Bands zu spielen, ich spielte auf Synthesizern mit Vierteltonschritten. Mit 19 bin ich nach Griechenland gegangen, um dort zu studieren, aber die griechische Kultur war mir zu nah an meiner eigenen. Also bin ich nach Deutschland, erst nach Kiel, um dort Musikwissenschaften zu studieren, und später nach Bremen, wo ich bei Younghi Pagh-Paan Komposition studierte. Keinen dieser Studiengänge habe ich jemals zu Ende gemacht. Mit ach und krach hatte ich mein Abitur gepackt. Viele Leute sagen, ohne Abschluss ist alles nur halbgar; für mich ging es nicht anders, ich habe beim Lernen und bei Prüfungen irgendwie eine Behinderung.

Bei der diesjährigen MaerzMusik bist du Teil des Projekts alif:::split in the wall, einer klanglichen Installation, die die alif-Geschichte zum Thema hat. Was hat es mit dieser Geschichte auf sich?

Alif ist eine mystische Geschichte, die es – wie die von Medea – in vielen unterschiedlichen Varianten gibt. Ein Sufi-Meister bringt seinen Schülern das arabische Alphabet bei, und einer nach dem anderen soll nach vorne kommen und den ersten Buchstaben – Alif – an die Tafel schreiben. Einer der Schüler sagt, es täte ihm leid, aber er sei noch nicht so weit. Am zweiten Tag lernen die anderen das Bā (den zweiten Buchstaben des arabischen Alphabets. d. Red.), und er ist immer noch nicht so weit. Alle Schüler kommen vorwärts, jeden Tag lernen sie einen neuen Buchstaben, aber dieser eine macht nicht mit. Eines Tages meldet er sich und sagt, ›es ist soweit, jetzt kann ich das Alif schreiben‹. Alle wundern sich, er geht nach vorne, schreibt das Alif, das ja aussieht wie eine eins, also ein Strich, und die Tafel zerspringt daran in zwei Teile. Das ist eine mystische Geschichte um die Begriffe Konzentration und Kraft, er muss diese Vorstellung in sich tausend Mal durchgegangen sein, diesen Kreis der Dinge, bis er irgendwann dachte, jetzt ist es soweit, und das mit so einer Kraft, dass diese Tafel auseinanderspringt. Diese Erfahrung versucht das Stück in den Blick zu nehmen und zu sezieren.

Wie inszeniert ihr diese vielerzählte Geschichte?

Ich weiß es nicht, ich hoffe die anderen wissen es (lacht). Nein, das stimmt nicht. Der Blockflötist Jeremias Schwarzer hat dieses Projekt initiiert und uns alle ins Boot geholt: Leute, denen er künstlerisch vertraut. Wir haben viel gemeinsam entwickelt, aber er bleibt der Hauptverantwortliche. Man soll einen Konzertabend erleben, der eher ungewöhnlich ist. Neue Musik-Abende laufen sonst immer nach einem bestimmten Schema ab: die Leute kommen rein, setzen sich, alle sind angespannt, die Musiker, das Publikum. Dann wird laute zehn Minuten lang ein neues Stück gespielt, der Komponist darf kurz auf die Bühne, und so geht das den Abend über weiter. MaerzMusik gibt die Gelegenheit, diese Routine mal zu brechen, das finde ich gut. Und dann ist da noch die Monster-Dauer von sechs Stunden. Man kann sich entscheiden, wie lange man da sein will, fünf Minuten oder die ganze Zeit. Man kann sitzen oder rumlaufen, kann die Dinge mehrfach erleben; bei einem ersten Durchlauf neulich haben wir gemerkt, dass man die Zeit kaum gespürt hat. Durch die Wiederholungen, die da drin sind, kommt man in ein Raster, in dem man die Zeit nicht mehr richtig wahrnimmt. Das Stück besteht aus vier Musikteilen, ab dem zweiten wusste ich nicht mehr, wo wir gerade sind, das war zeitloses Empfinden.

 Trailer zu Alif

Über deine Musik liest man, dass sie einen ›Redecharakter‹ hat; dass sie nicht vollends notierbar ist, sagen Musiker. Entsprechen solche Beschreibungen deinem musikalischen Selbstverständnis?

Wenn von ›Redecharakter‹ zu lesen ist, dann ist damit vermutlich das Rezitationsartige an meiner Musik gemeint, aber ich würde meine Musik nicht darauf reduzieren wollen, das ist nicht grundsätzlich der Charakter meiner Kompositionen.

Es sind Begriffe, die ich akzeptieren muss, aber es gibt auch Missverständnisse. Zu den Musikern und der Notierbarkeit: Hier im Westen sind alle mit Bach und Beethoven aufgewachsen, wenn sie Wolfgang Rihm spielen, dann ist das deutsche Musik und total klar, worum es geht. Oft fragen mich Musiker, ob ich ihnen als Vorbereitung Aufnahmen arabischer Musik schicken könnte. Das finde ich in den seltensten Fällen hilfreich. Wenn mich jemand beauftragt, ihm ein Solo-Stück für Cello zu schreiben und er dann anfängt, arabische Musik zu studieren, dann tut er mir damit keinen Gefallen. Sonst würde ich ja ein Cello-Solo für einen arabischen Musiker schreiben. Es steht ja alles da, und er soll das aus sich heraus interpretieren. Viele Musiker machen es sich oft zu einfach, indem sie den Komponisten fragen und gucken, was der dazu sagt; man unterschätzt ihn vielleicht sogar, als wüsste er nicht, für wen man schreibt. Warum verstehen sie nur, wenn ich ihnen was erzähle? Leute wie Jeremias Schwarzer oder Peter Rundel, die müssen mit mir nicht reden (lacht).

Hast du manchmal keine Lust, der arabisch-israelische Komponist zu sein? Wärst du manchmal gerne nur der Komponist?

Ich wäre auch gerne manchmal gar kein Komponist (lacht). Was mich oft ärgert und verunsichert ist, dass man daraus immer wieder ein Thema macht, auf mehreren Ebenen. Ich habe zum Beispiel Freunde, die mich immer wieder fragen, ›wieso schreibst du palästinensisch-israelisch, du bist nur israelisch‹; aber was heißt denn das?! Als ich nach Deutschland kam, war mir nicht klar, dass sich diese Fragen irgendwann einmal stellen würden; ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass man mich irgendwann mal fragen würde, was ich denn bloß mit dem Islam zu tun hätte. Auf einmal sollte ich für eine bestimmte Nation, eine bestimmte Religion und eine bestimmte Haltung stehen. Dagegen kämpfe ich, seitdem ich hier bin. Ja, ich komme aus Israel, aber ich bin Atheist, komme sogar aus einer kommunistischen Familie. In Israel gibt es alles, und hier in Deutschland bin ich auf einmal nur noch der Araber, der Moslem, der Palästinenser … Neulich war ich beim Trödler nebenan, um mir eine Lampe zu kaufen, und jeder zweite fragte mich, wie teuer ist das, wie teuer ist das? Das sind festgefahrene Annahmen, der Türke ist Tomatenverkäufer und so weiter. Dass arabisch aussehende Leute auch Künstlerin, Arzt oder Komponistin sein können, geht nicht so leicht rein in die Köpfe der Leute.

In Stücken wie Hálatt-Hissár oder Mansúr widmest du dich aus unterschiedlicher Perspektiven explizit arabischen Themen…

Ja, aber ich möchte als Person nicht darauf reduziert werden. Wenn ich ein arabisches Thema anfassen möchte, sagen die Leute sofort, dass sie das interessiert; aber wenn ich die Hamletmaschine mache, würden sie fragen, was hat der denn damit zu tun? Die Leute denken, sie tun mir einen Gefallen, wenn sie mich in dieser Richtung unterstützen; die können sich gar nicht vorstellen, dass ich mich dagegen wehre. Das ist nicht notwendigerweise rassistisch, aber viele Leute glauben halt, der tanzt auf diesen Rhythmus und kann nicht auf einen anderen Rhythmus tanzen. Aber hey, wir leben in einer verdammten globalisierten Welt, ich bin mit westlichen Denkweisen vertraut – die übrigens im Ursprung tief orientalisch sind. Die Griechen sind ja nicht nach Berlin gekommen, sondern Alexander der Große ist nach Persien gegangen – das ist alles total komplex, umso komischer ist es, dass die Leute nach wie vor diese völlig vorgefertigten Muster haben.

Letzte Woche hat in der Philharmonie das große Willkommens-Konzert für Flüchtlinge und ihre Helfer stattgefunden, andernorts werden Opernproduktionen mit Flüchtlingen inszeniert …

… die armen Flüchtlinge, die werden für jegliche Vorstellung von uns benutzt. Jetzt bekommt man Kulturförderungsanträge durch! In diesem Denken sind die Deutschen wirklich Weltmeister. Ich erinnere mich an den 100. Geburtstag von John Cage, da gab es eine regelrechte Orgie: ich kenne keinen Musiker in Deutschland, der nicht diesen Geburtstag spielend mitgefeiert hat, es gab Kulturförderung dafür und man hat sich richtig satt gefressen. Was gerade passiert ist eine ähnliche Geschichte. Ich bekomme so viele Einladungen: ›wir haben hier syrische Musiker, wollen sie nicht kommen?‹ Das sind oft einfach Laienmusiker, und um die geht es auch gar nicht, es geht vielmehr um die Leute, die sich kümmern. Das ist auf der einen Seite sehr ehrenwert, andererseits hat es aber auch oft etwas paternalistisches. ¶

Samir Odeh-Tamimi bei der MaerzMusik der Berliner Festspiele: 18./19.03 Berlin, Radialsystem

Dieser Text ist entstanden im Rahmen der Medienpartnerschaft mit den Berliner Festspielen