Wir treffen uns auf der Aachener Straße in Köln, gehen in ein Café und sprechen als erstes über den Abend zuvor, über Ich habe genug. Letztes Jahr war es beim Kölner Fest für Alte Musik die Johannes-Passion, dieses Jahr die Bach-Kantate BWV 82 in der Trinitatiskirche: Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche fungieren als Veranstalter einer szenischen Produktion des Werks, dafür wurde das Ensemble ein wenig aus dem Blickfeld gerückt, eine lange Tafel auf einer Bühne mitten im Publikum aufgebaut, an der Senior/innen, Schüler/innen der inklusiven Offenen Schule Köln und ein Schauspieler Sätze und Handlungen wiedergeben, die sich aus der gemeinsamen Beschäftigung mit dem Thema Tod ergaben. Das funktioniert künstlerisch nur in wenigen guten Momenten. Neben Bach wurde auch Martin Bechlers flächig-cinematische Komposition Omega als Uraufführung gespielt, der die Fragmentierung deutlich besser bekam als der Kantate.
Xenia Löffler, die als musikalische Leiterin für die Interpretation der Musik Bachs und Martin Bechlers hinzugezogen wurde, ist zufrieden, gibt aber zu, dass es ihr in der Musikerinnenseele schmerzt, mitten in der Kopfarie abzubrechen, um ein paar Minuten später wieder von vorne anzufangen. Kommt hinzu, dass ihr diese Kantate sehr viel bedeutet, seit sie beim Kauf der ersten Stereoanlage um 1990 herum auf die Bach-Einspielungen von John Eliot Gardiner aufmerksam gemacht wurde, woraus ihre Liebe zur Barockoboe erwuchs. 10 Jahre nach dieser Initiation erhielt sie an einem Freitag Abend einen Anruf, mit der Bitte, Gardiner am folgenden Tag im Wiener Musikverein vorzuspielen. Danach spielte sie die Erste Oboe auf der von Gardiner initiierten, legendären Bach Cantata Pilgrimage (Link zu einem Artikel in der Welt) mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists zu Bachs 250. Geburtstag. Seit 2001 ist Löffler Solo-Oboistin der Akademie für Alte Musik Berlin (Akamus).
VAN: Ist da eine größere Kreativität am Werk, wenn man zeitgenössische Werke erarbeitet, sogar noch für eine Uraufführung?
Xenia Löffler: Also eigentlich merkt man gerade dabei oft, welchen Spielraum für Interpretation man in der Alten Musik hat, wo eben nicht alles ausnotiert ist. Aber Martin Bechler hat es schon sehr genossen, wie wir mit unserem barocken Zugang zum Material seiner Musik begegnet sind, Stimmungen aufgenommen, Pausen länger gemacht, Dynamik hinzugefügt und Akkorde länger gehalten haben als das bei ihm notiert ist.
Diese erweiterte musikalische Leitung, mit Zusammenstellen des Ensembles, Erarbeitung eines neuen Werkes, vielleicht auch Programmierung und solchen Dingen – werden Sie das in Zukunft öfter machen?
Darüber habe ich noch nicht wirklich nachgedacht. Aber mir macht so etwas großen Spaß! Ja, vielleicht ist das jetzt ein Anfang.
Es gibt diese Verteidigung des Wissens in der Alten Musik, das tritt im Interview mit Reinhard Goebel stark heraus: Philologisch muss es sauber sein, sonst ergibt es keinen Sinn. Andere Ansätze betonen, dass man eine emotionale Beziehung zur Musik aufbauen muss. Auf welcher Seite stehen Sie? Eher Lesen oder eher Gefühl?
Am Ende transportiert sich nicht das Wissen über die Musik. Wir müssen der Musik auch mit unserer Seele begegnen und die Aussage, die wir in der Musik erspüren, dem Zuhörer verständlich nahebringen. Klar, dazu gehört ein fundiertes Hintergrundwissen, nicht nur die Sekundärliteratur aus der Zeit, sondern für mich in erster Linie die Quellen selber, die Notentexte. Wir alle in der Alten Musik haben eine große Verantwortung, das fortzuführen, was die Pioniere mit Hingabe und Knochenarbeit begonnen haben. Meine Generation hat sich ja quasi ins gemachte Nest gesetzt. Da darf man es sich nicht zu bequem machen.
Immer mehr Repertoire und immer weniger Zeit, sich hinein zu vertiefen – ist das auch bei der Akademie für Alte Musik Berlin so?
Wir haben da einen im besten Sinne intuitiven Zugang. Das hat auch mit der Geschichte des Ensembles zu tun. Als das Orchester in den 1980er Jahren in der DDR gegründet wurde, waren da die absoluten Freaks am Werk. Das war ja ein Skandal, dass die sich das überhaupt erlaubt haben, zu diesen komischen historischen Instrumenten zu greifen und dann teilweise ihre großen, etablierten Sinfonieorchester zu verlassen, weil sie sich da ganz in dieses Abenteuer stürzen wollten. Diese unglaubliche Leidenschaft prägt die Akademie nach wie vor. Manchmal ist es mir ein bisschen zu intuitiv.
Ich bin aber dankbar dafür, dass jegliches Mittelmaß im Affekt vermieden wird … Am Ende ist es vermutlich genau dieses gelebte musikalische Risiko, das das Publikum packt.

Kracht es bei den Proben manchmal?
Nein, zum Glück nicht. Diese Phasen gab es wohl vor meiner Zeit, bis man knapp vor dem Auseinanderbrechen des Orchesters stand – ich weiß allerdings nicht im Detail, worum es da ging. Wir haben daraus gelernt – wissen aber auch, dass die musikalischen Ergebnisse dieser Demokratie keine Kompromisse sein dürfen.
Was hat sich verändert in den 15 Jahren, seit Sie dabei sind?
Musikalisch ist sich Akamus sehr treu geblieben, den Klang finde ich nach wie vor unverwechselbar in seinen vielen Facetten. Dafür ist auch entscheidend, dass wir seit vielen Jahren nun auch eine stabile und sehr gute Besetzung in den Bläsern haben. Das ist absolut wichtig bei unserer Arbeit, die meisten Programme spielen wir ja ohne Dirigent und funktionieren da wie ein großes Kammerensemble. Jeder ist sich seiner Verantwortung bewusst. Und so ist jetzt eben auch eine 6. Sinfonie von Beethoven ohne Dirigent möglich.
Eine reine Äußerlichkeit vielleicht noch, aber das fand ich damals ganz süß: Als ich im Jahr 2001 angefangen habe, haben sich alle immer mit Handschlag begrüßt. Das war eine nette, freundliche Geste. Man kam aus der Mittagspause zurück und wurde nochmal mit Handschlag begrüßt, sehr höflich. Heute liegen sich immer alle in den Armen und scheinen es zu genießen …
Aber nach der Mittagspause umarmt man sich heute nicht mehr, oder? Dann schaut man aufs Handy.
Es gibt immer noch Kollegen, die keines haben!
Erleben Sie die letzten 10 Jahre nochmals verstärkt als Boom der Alten Musik und der historischen Aufführungspraxis?
Ja, was sicherlich auch darauf zurückzuführen ist, dass es zahlreiche Alte Musik-Ensembles gibt, die inzwischen zu den weltweit führenden Kammerorchestern zählen. Das Instrumentarium ist gut erforscht, man ist mit ihm vertraut und das spielerische Niveau ist enorm hoch. Es ist nun auch möglich, Produktionen zu machen, die vor 20 Jahren in diesen Konstellationen noch nicht möglich waren, zum Beispiel Dido and Aeneas von Purcell, das wir mit Sasha Waltz seit mehreren Jahren spielen. Es gibt viele etablierte Musiker/innen aus der modernen Szene, die ein großes Interesse haben, mit den Alte-Musik-Ensembles zu arbeiten. Für uns eröffnet das Möglichkeiten, in Sälen und bei Festivals aufzutreten, die mit einem gewöhnlichen Telemann-Orchesterprogramm eventuell nicht möglich gewesen wären.
Johannes Moser hat uns im Interview berichtet, wie er einmal mit dem Versuch, das Barockcello zu spielen, gescheitert ist. Besteht die Gefahr, dass diese Kooperationen auch manchmal etwas zu leichtsinnig eingegangen werden?
Nein, das möchte ich niemandem unterstellen. Ich glaube, moderne Instrumentalisten kommen auf uns zu, weil die Art des Musizierens eine andere ist als die, die man aus modernen Orchestern kennt. Die Energie, die von jedem einzelnen Pult kommt, das gemeinschaftliche Arbeiten, die verflixte Demokratie in so einem Ensemble, diese Unmittelbarkeit untereinander, dieses Integriert werden – ich kann mir vorstellen, dass das für Musiker, die sonst viel als Solisten unterwegs sind, neu und interessant ist.
Warum das große Interesse beim Publikum?
Der Zugang zu Barockmusik ist vielleicht unmittelbarer, die Musik scheint leichter verständlich, sie kommt einem schnell nahe, man fühlt sich wohl … und findet sich mit seinen Emotionen auf irgendeine Art da drin wieder. Dazu kommt die für das Publikum unmittelbar erlebbare Kommunikation der Musiker auf der Bühne.
Ihr Instrument hat hier ja eine zentrale Position, ist fast so etwas wie das Symbol für diese Bewegung.
Für mich persönlich ist es eine Befreiung, die ganzen Klappen und anderen Konstruktionen der modernen Oboe nicht zu haben, sondern einfach mit meiner Luftführung, mit einer vokalen Idee dem Instrument zu begegnen und diese Unmittelbarkeit zu genießen. Ja, und das Instrument besetzt eine zentrale Funktion in einem Barockorchester. Vor diesem Hintergrund liegt in der Ausbildung von Studenten für historische Oboe allerdings noch einiges im Argen.
Was meinen Sie?
Ich wundere mich darüber, dass es in Deutschland derzeit keine Barockoboenprofessur gibt! Die zahlreichen Blockflöten- oder Cembaloprofessuren an deutschen Hochschulen, das kommt noch aus einer Tradition der 1960er, 70er Jahren, weil das damals die beiden Alte-Musik-Instrumente schlechthin waren. Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber weil ich selber Blockflöte studiert habe, darf ich das vielleicht sagen: dieses Überangebot geht einfach am Bedarf unseres Konzertbetriebs vorbei.
Wenn man einem modernen Geiger eine Barockgeige und einen Barockbogen in die Hand gibt, dann kann der damit erst mal den Notentext darstellen, der da steht. Dann ist noch ganz viel Arbeit am Klang erforderlich, an der Artikulation, an Bogengeschwindigkeiten, aber die können trotzdem erst mal spielen. Wenn man modernen Oboisten eine Barockoboe in die Hand gibt, dann kriegen die zwar auch einen Ton raus, aber bis sie mal eine saubere Tonleiter in einer einfachen Tonart spielen können, ist es schon ein ziemlich weiter Weg.
Sie unterrichten selbst …
Ja, aber unter Bedingungen, die mit Lehraufträgen einher gehen, ist das nicht zufriedenstellend zu machen. Die Arbeit mit meinen Studenten ist mir sehr wichtig, und ich liebe das Unterrichten. Wir brauchen aber eine Top-Ausbildung für ein im Barockorchester so wichtiges Instrument wie die Oboe. Man kann keinem meiner Lehrbeauftragten-Kollegen abverlangen, dass sie dem Unterrichten einen höheren Stellenwert in ihrer beruflichen Prioritätenliste einräumen, so lange die Konditionen, zu denen wir uns an den Hochschulen engagieren, so unsicher und unterbezahlt sind.
Und dazu kommt: An den allermeisten Musikschulen, die überhaupt solche Lehraufträge vergeben, ist es nicht möglich, ein Bachelorstudium zu beginnen. Das heißt: Junge Oboisten, die sich von vornherein auf dieses Instrument spezialisieren wollen, haben dazu kaum Möglichkeiten. Und dann hat man nur zwei Jahre Zeit, das den Leuten beizubringen – und zwar nicht nur die Barockoboe, sondern auch Oboe d’amore und Oboe da caccia, klassische und romantische Oboe … und wenn man dann technisch mal eine Idee von diesen Instrumenten hat, dann hat man noch kaum über das Repertoire und Repertoire-Recherchen gesprochen, oder den Studenten etwas darüber erzählt, wie man Programme zusammenstellt und so weiter – ganz zu schweigen von musikgeschichtlichen Zusammenhängen, denn dann wird das Ganze ja erst spannend.
Die Frage zum Schluss: Welche Momente fallen Ihnen eine, die dem, was Sie als Musikerin anstreben, am allernächsten kommen?
Schwierig. Glücklich machen mich Projekte mit Repertoire, das mir am Herzen liegt, und das dann mit Musikern aufzuführen, die diese Begeisterung teilen. Es gibt immer wieder mal magische Momente in Konzerten. Das ist schwer in Worte zu fassen … Konzerte, die mich wahnsinnig glücklich machen. Und tatsächlich läuft mir oft ein Schauer über den Rücken, wenn ich ein Werk von Bach in der Probe zum ersten Mal spielen darf. ¶