Wohl 1566 – also im Geburtsjahr des süditalienischen Komponisten und Mörders Carlo Gesualdo – kam Lucia Quinciani zur Welt; als eine einer ganzen Reihe von Renaissance-Komponistinnen, deren Existenz mehr oder weniger nur durch erhaltene, nicht pseudonymisierte, sondern mit dem jeweils realen Namen versehene Notendrucke beglaubigt wird.

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Quinciani ließ sich von dem Sänger und Komponisten Marcantonio Negri musikalisch ausbilden, der an der Seite des Opern-»Erfinders« Claudio Monteverdi (1567–1643) an San Marco in Venedig arbeitete. Negri selbst – er starb irgendwann 1624 – stammte aus Verona; und so lässt sich annehmen, dass Quinciani in der Nähe, zumindest im erweiterten Bannkreis der in den damaligen Jahrzehnten schwer von der Pest gebeutelten Region aufgewachsen und später künstlerisch in Venedig und/oder Verona künstlerisch tätig gewesen war.

Negri ist es zu verdanken, dass zumindest eine einzige Komposition seiner Schülerin (deren Sterbejahr nicht bekannt ist) überliefert wurde. Denn Negri übernahm Quincianis Udite, lagrimosi spirti (auf einen Text aus Giovanni Battista Guarinis legendärer, 1590 veröffentlichter Schäferdichtungstragikomödie Il pastor fido) in den zweiten Band seiner 1611 publizierten Vokalkompositionssammlung Affetti amorosi.


Lucia Quinciani (geboren ca. 1566)
Udite, lagrimosi spirti (veröff. 1611)

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Udite, lagrimosi spirti ist die erste waschechte Monodie einer Komponistin, also das erste Partitur gewordene Beispiel einer damals, um 1600, hochaktuellen (von den alten Griechen abstrakt abgeschauten) Spielart extrem emotionalen Komponierens: mit nur einer einzigen Stimme im Fokus der Aufmerksamkeit, eher schlicht begleitet von einem (mehr oder weniger frei wählbaren) Harmonieinstrument. Die sicher auch durch Negris Tätigkeit am Markusdom bedingte musikästhetische Nähe zu Monteverdi ermöglichte Quinciani, in der Seconda-pratica-Monodie zur Meisterin zu werden.

Textlich werden wir in eine absolut randständige Liebesklage-Situation hereingezogen. Ein existenzieller Theater-Moment, von dessen amouröser Thanatos-Expressivität auch Luca Marenzio (1553/54–1599) und Salamone Rossi (ca. 1570–1630) nicht ihr Händchen lassen konnten. Wir begegnen dem grenzenlosen Liebesleid Mirtillos, der sich anschickt, sich das Leben zu nehmen. Doch bevor er das tut, möchte er einerseits den angeblichen Geliebten (Amarilli) seiner Angebeteten (Corisca) ermorden, um Corisca andererseits selbst in die ewigen Jagdgründe zu schicken; denn Mirtillo geht davon aus, dass Corisca beim Anblick des toten Amarilli vor Schmerzen sterben werde.

Mirtillo beschwört die (selbst tränenreichen) Geister der Unterwelt (»Udite, lagrimosi spirti d’Averno, udite, nova sorte di pena, e di tormento«). Die Geliebte wird dabei als »grausamer als die Hölle« (»La mia donna crudel più de l’inferno«) beschrieben – und überhaupt sei jeder Tag im Grunde nur ein neuer »Möglichkeitsraum« (R. Habeck) des Schreckens, das Leben ohnehin lediglich ein »ewiger Tod« – und die »Pflicht zu leben« tausendfach tödlich, ja, »der Tag: das Gefäß von tausend Toden«. Quinciani nutzt herrlich alle neuen Möglichkeiten der damaligen Avantgarde. Wie einst der gleichaltrige – die Musik noch zwischen polyphon-verschlungen und akkordisch-plastisch ansiedelnde – Gesualdo arbeitet die Komponistin mit harmonisch wahrhaftigen »Herausleuchtungen«, mit eher unerwarteten Harmonien, die fast fremd und ungemein farbig tönen; mit kleinen Inseln des Herausgehoben-Seins. Quinciani lässt die Harmonik gleich auf dem gesungenen Wort »lagrimosi« aus der Nacht zum Licht wandern. Das schrittweise Abgehen der Basslinie beim Erklingen des Schlagwortes »lagrimosi« bebildert (dem berühmten, 1608 komponierten Lamento di Arianna Monteverdis verschwistert) sozusagen auf ausdrucksvollste, feinste Weise das, was mit dem Vergießen von Tränen einhergeht: die Kulmination größten Seelenschmerzes, die Katharsis des Weinens, die uns ein Stück weit erlöst, trostvoll in den Schlaf geleitet. Musiktheoretisch formuliert: Zunächst bildet das in der Gesangsstimme gehaltene »b« den B-Dur-Grundton (sprich: »b« liegt ganz unten im Bass), dann die reibende kleine Sexte von d-Moll (bei gleichzeitigem Erklingen der Quinte im d-Moll-Bass) und plötzlich – als aufgelöstes/erlösendes »h« – die gen Himmel weinende/sehnende Dur-Terz. Ein Stück Licht, ein besonderer Moment – in dieser großartigen Komposition von Lucia Quinciani. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.