Der Geiger Adam Woodward spielte im März 2023 im Finale des Berlin Prize for Young Artists – und wurde am Ende mit einem der beiden Preise ausgezeichnet. Sein sorgfältig kuratiertes und mit großer Intensität vorgetragenes Programm spannte einen Bogen von Liza Lim und John Cage zu Bahar Royaee und beschwor die Schönheit von kargen Landschaften und dem nächtlichen Sternenhimmel. Woodward, der jüngste von sechs Brüdern, wuchs als Mormone in Minneapolis, Minnesota, auf. Alle seine Geschwister spielen Musikinstrumente, einige als leidenschaftliche Amateure, Woodward ist der einzige Vollzeit-Profimusiker unter ihnen. Er studierte Violine an der Brigham Young University und der Rice University, bevor er nach Frankfurt zog, um Teil der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) zu werden. Woodward spielt heute beim vor kurzem gegründeten Fabrik Quartet, das sich zeitgenössischem Repertoire widmet, und baut sich auch darüber Hinaus eine Karriere als freischaffender Künstler auf. Ich treffe ihn morgens in einem Café in der Frankfurter Innenstadt.
VAN: Wann hast du angefangen, dich ernsthaft für klassische Musik zu interessieren?
Adam Woodward: In der Highschool habe ich viel Musik gehört. Das hat einen großen Teil des Weges für mich ausgemacht: so viele Aufnahmen klassischer Musik wie möglich zu finden. Ich habe diese Musik nicht aus dem Kopf bekommen, sie hat mich richtig angezogen.
Gibt es Stücke, die dabei für dich in der Rückschau einen ganz besonderen Platz einnehmen?
Meine Entwicklung kann man, was das Musikhören betrifft, ganz gut an dem ablesen, was ich nicht hören wollte. Bei Oper zum Beispiel habe ich früher nur gesagt: ›Auf keinen Fall!‹ Langsame Sätze wollte ich nicht hören, auch nicht von Solokonzerten, die fand ich nur langweilig. Vom langsamen ersten Satz von Bartóks erstem Violinkonzert wollte ich monatelang nichts wissen. Dann, irgendwann, hab ich ihn mir doch angehört, und dachte: ›Das ist echt gut!‹ Natürlich ist es das! Da war ich 14 oder so.
Was Neue Musik angeht, war das Violinkonzert von Ligeti ein Wendepunkt. Ich habe bei den Greater Twin City Youth Symphonies (GTCYS) gespielt, die hatten eine Kooperation mit dem St. Paul Chamber Orchestra. Irgendwann haben wir mal Karten für ein Konzert bekommen, in dem die das Ligeti-Konzert gespielt haben. Aber ich war damals Fan des Minnesota Orchestra, und am selben Abend hat dort James Ehnes das Brahms-Violinkonzert gespielt. Ich bin also da hingegangen. Aber einige Freundinnen und Freunde waren bei Ligeti und haben bei der nächsten GTCYS-Probe davon erzählt – ›Dieser Ligeti war großartig!‹ Es hat mich ziemlich überrascht, dass sie so angetan waren. Also habe ich ihn mir auch angehört und dachte: ›Oh. Das ist ab sofort eines meiner Lieblingsstücke, das möchte ich echt auch mal spielen.‹
War das auch der Moment, in dem du entschieden hast, dass du Geiger werden willst?
Ich habe in der Highschool viel Musik gemacht, aber ich habe auch sehr viel Fußball gespielt, bis ich ungefähr 16 war. Da war es immer eher ein kleiner Schritt nach dem anderen. Irgendwann musste ich dann aber entscheiden, ob ich bei einem Streichquartett einsteige oder weiter Fußball spiele. Ich habe damals gedacht: ›Jetzt gerade interessiert Musik mich mehr.‹ Ich konnte einfach nicht alles auf einmal machen.
Als es dann mit den Aufnahmeprüfungen losging, wusste ich schon, dass ich zur BYU wollte, weil das so ein Ding ist bei uns in der Familie. Meine Eltern sind da hingegangen und auch zwei meiner Brüder.
Was hat für dich noch für die BYU gesprochen, außer der Familientradition?
Die Studiengebühren zum Beispiel, die sind für Mormonen geringer. Wenn man nicht mormonisch ist, ist das Studium etwas teurer, aber immer noch unfassbar günstig. Die finanzielle Belastung ist also viel geringer, und trotzdem ist die BYU eine exzellente Uni. Im Musikbereich kann man echt viel machen. Mit meinem Lehrer habe ich mich sehr gut verstanden. Und man konnte sich für Stipendien bewerben.
Nach der BYU bin ich an die Rice University gegangen, da haben buchstäblich alle versucht, jeden Sommer auf ein Festival zu fahren. Und wenn man dafür zahlen musste, wurde das nicht finanziert, weil sie nicht allen, die zu einem Festival wollten, Geld geben konnten. An der BYU wollten viel weniger auf Festivals, für die war dann aber auch das Geld da.
Mit der mormonischen Community kenne ich mich nicht im Speziellen aus, aber in manchen christlichen Communities ist der Musikgeschmack recht konservativ. War das an der BYU auch so?
Ich würde sagen, dass das eine eher kleine Rolle gespielt hat. Mormonen lieben Musikmachen. Aber die Kultur ist trotzdem patriarchal, an traditionellen Geschlechterrollen orientiert. Als Mann, der Musik macht, hab ich auch immer wieder die Frage gehört: ›Warum willst du Musik machen, wenn du damit keine Familie ernähren kannst?‹ Das ist wichtig für Mormonen.
Ligeti ist mittlerweile auch sehr etabliert. Beim Berlin Prize hast du eher Musik aus der Avantgarde-Richtung gespielt. Wann hast du angefangen, diese Art von Repertoire zu entdecken?
An der BYU hab ich vor allem noch konservatives klassisches Repertoire gespielt. Ich hab ein paar Stücke von meinem Bruder aufgeführt und ein paar Sachen für Kompositionsstudierende. Ich hab viel gehört. Berio zum Beispiel – Berios Klassiker. Aber an der Hochschule habe ich sowas nicht unbedingt gelernt. Ich habe mit einem meiner Professoren über die Berio-Sequenza gesprochen und er meinte nur: ›Ich glaube nicht, dass jemand an dieser Hochschule weiß, was das für ein Stück ist.‹ Ich meinte: ›Ach was, das ist doch wie das Tschaikowsky-Konzert‹, woraufhin er wiederum meinte: ›Die Leute spielen das einfach nicht so oft.‹ Das war’s.
Ich habe Berio erst während meines Masters an der Rice gespielt. Da wollte ich eigentlich noch den klassischen Weg gehen, bis die Pandemie dazwischen kam und ich eine andere Richtung eingeschlagen habe. An der Rice muss man sich wirklich in diese Orchestersache reinknien, weil das alle machen. Ich hatte ein Probespiel für das New World Symphony Stipendienprogramm, drei Wochen bevor ich die Aufnahmen für meine Bewerbung bei der Internationale Ensemble Modern Academie machen musste. Ich habe diese Orchesterstellen geübt und dachte nur: ›Das will ich nicht.‹ [Er zieht eine Grimasse.] Ich war wirklich uninspiriert. Ich hatte Kolleginnen und Kollegen an der Rice, die das richtig gut konnten, bei denen diese Orchesterstellen einen wirklich umgehauen haben. Und ich habe mein Bestes gegeben, aber das Ergebnis war nur okay. Ich bin mit Orchestermusik aufgewachsen, ich liebe dieses Repertoire. Aber es hat einfach nicht funktioniert.
Dann habe ich beschlossen, mir deswegen keinen Stress zu machen. Natürlich war mein Probespiel für die New World furchtbar. Ich habe richtig schief gespielt, hatte Blackouts. Ich war nicht vorbereitet, was kein besonders schönes Gefühl war. Ich hatte natürlich geübt, aber eine Woche vor dem Probespiel hat es irgendwie klick gemacht – ich dachte: ›Ich gehe das hier etwas entspannter an und konzentriere mich auf das, was sich gut anfühlt.‹ Und das war meine IEMA-Bewerbung.
Da habe ich dann die Berio-Sequenza und den langsamen Satz der Bartók-Solosonate gespielt, den Berio auswendig, das fühlte sich richtig an. Und das hat großen Eindruck gemacht auf den Ensemble-Modern-Geiger Jagdish Mistry. Als ich ihn kennengelernt habe, war das erste, was er zu mir gesagt hat: ›Du hast den Berio auswendig gespielt. Das war cool. Und es war gut.‹ Er meinte, nachdem er das gesehen hatte, wollte er auch das Solostück von Isang Yun, das er gerade gespielt hat, auswendig lernen.

Du warst auf mormonischer Mission in Jekaterinburg und Perm, am russischen Ural. Wie hat das deine Karriere beeinflusst?
Das war eine wichtige, prägende Erfahrung für mich. Für die Mission habe ich zwei Jahre lang eine Auszeit von der BYU genommen. Die meisten an der BYU machen das, deshalb kann man einfach wieder zurückkommen und weiterstudieren. Man schiebt das nur ein bisschen auf, alle sind das gewohnt. Musiker:innen meinen stattdessen: ›Wenn du auf Mission gehst, ist das das Ende deiner Karriere. Du bist 19 oder 20, du musst üben.‹
Auch in der mormonischen Community gibt es Profimusiker:innen. Deine Technik kommt auf jeden Fall wieder. Man kommt wieder rein ins Geigespielen, auch wenn man zwei Jahre lang nicht gespielt hat. Ich habe ein bisschen gespielt, aber nicht viel. Für mich war das eine wirklich gute Gelegenheit, von der Geige wegzukommen, und ich habe mich dabei sehr wohl gefühlt.
Hast du in Russland auch Musik gemacht?
Ich habe mir in einem Laden eine 100-Dollar-Geige gekauft. Einmal im Monat habe ich im Gottesdienst gespielt. Aber geübt habe ich zwei Jahre lang nicht.
Jekaterinburg hat ein wirklich schönes Opernhaus. Satyagraha von Philip Glass haben sie da gegeben, das war life-changing. Tschaikowskys Pique Dame habe ich auch gesehen.
Ich habe einem Professor des Konservatoriums in Jekaterinburg vorgespielt, obwohl ich nicht geübt habe. Ich habe gefragt, ob ich vorspielen könnte, aber auch gesagt: ›Ich habe keine Noten dabei. Ich habe seit zwei Jahren nicht mehr geübt.‹ Ich habe das Schostakowitsch-Konzert gespielt, und da gibt es eine vierminütige Kadenz, die ich noch auswendig konnte. Der Professor meinte: ›Wenn du dich hier bewirbst, würdest du hier wahrscheinlich einen Platz bekommen.‹ Ich hab geantwortet: ›Das ist schön zu wissen, aber das hier ist keine Geige. Das ist eher ein Spielzeug.‹ [Lacht.]
Du bist jetzt fertig mit der IEMA, wie geht’s weiter bei dir?
Im Moment rechne ich damit, in Frankfurt zu bleiben. Wir spielen viel mit dem Fabrik Quartet, versuchen, Projekte zu machen. Ich würde sagen, im Moment konzentrieren wir uns darauf, uns als Quartett zu etablieren, vor allem in der Neue Musik Szene. Wir wollen wirklich ein Teil dieser Szene sein. Ich spiele also hauptsächlich Quartett, aber versuche auch, andere Sachen zu machen, meine eigenen Projekte. Es ist immer ein Schritt nach dem anderen, aber es fühlt sich gut an.
Hörst du jetzt, wo du Profimusiker bist, noch so viel Musik wie damals in der Highschool?
Als ich jünger war, war das so wichtig für mich, weil ich mehr an der Musik interessiert war als an der Geige. Auf die Geige habe ich mich nur fokussiert, weil sie ein Werkzeug war, um die Musik lebendig werden zu lassen. Sie war nur ein Teil davon.
Mir geht es um die Musik. Vorgestern bin ich über ein Stück für Cello solo gestolpert, und dachte: ›Das will ich spielen. Aber es geht halt nicht.‹ Ich kann eben nicht Cello spielen, genau wie ganz viel Klavierstücke, aber es ist ja auch schön, limitiert zu sein. Man hört ein Orchester, und sowas kann man alleine eben nicht schaffen. Ab einem gewissen Punkt muss man die Musik so wahrnehmen. Man kann nicht immer in der Musik sein.
Das ist interessant, weil ich definitiv auch Musikerinnen und Musiker kenne, die gerne ihre Instrumente spielen, aber nicht viel klassische Musik hören.
Ich hatte auch viele Freund:innen, die bei einem Solokonzert nur den Satz kannten, den sie gerade geübt haben, und das macht einfach keinen Sinn. Ich hab mal einen Cellisten getroffen, der den ersten Satz vom Elgar-Konzert gespielt hat und ich habe gesagt: ›Oh, das ist ein großartiges Werk. Ich liebe den vierten Satz.‹ Und er meinte: ›Den kenn ich nicht.‹ Und ich war nur so: ›Wie bitte?!‹ [Lacht.]
Diese Einstellung ergibt für mich keinen Sinn. Aber je mehr man auftritt, desto voller wird der Terminkalender und desto schwieriger wird es, Musik wirklich wahrzunehmen – man ist einfach gesättigt mit Musik. Es gibt Tage, an denen ich nicht noch auf ein Konzert gehen kann. Das ist mal so, mal so, aber nach der IEMA, bei der wir ein ganzes Jahr lang ununterbrochen gearbeitet haben, habe ich ein bisschen mehr Verständnis dafür. Es gab einen Monat, in dem ich gemerkt habe, dass ich gar nicht so viel Musik gehört habe. Das war ein bisschen traurig für mich, ehrlich gesagt.
Ich liebe das. Es kommt und geht, aber was für mich keinen Sinn ergibt: Wenn man keine Freude an klassischer Musik hat… Ich denke mal, es gibt Leute, die einfach nur gerne ihr Instrument spielen und denen es egal ist, was sie spielen. Das ist auch irgendwie schön, aber das ist nichts für mich. Ich muss wirklich verbunden sein mit dem, was ich tue. ¶