Im Juni besuchte ich den Pianisten und Musikwissenschaftler Robert Levin in seinem Haus in Cambridge, Massachusetts. Ausgaben der Gesamtwerke von Mozart, Schubert, Beethoven und vielen anderen Komponist:innen zieren sein Wohnzimmer. Levin besitzt die fast unheimliche Gabe, ein Werk in seine einzelnen Stilelemente zu zerlegen – ein bemerkenswerter Prozess der Destillation und Abstraktion, den Levin mit Leichtigkeit am Klavier demonstriert, indem er zwischen ähnlichen Passagen aus unterschiedlichsten Stücken – insbesondere von Mozart – hin- und herwechselt. 1991 beendete Levin seine Version des Mozart-Requiems, die von vielen Kritiker:innn bis heute als die überzeugendste angesehen wird (selbst im Vergleich mit der 1791 von Mozarts Assistenten Franz Xaver Süßmayr erstellten Version). Im Jahr 2005 vollendete Levin die Messe in c-Moll. Wir sprechen über diese abgeschlossenen aber trotzdem aktuellen, weil viel gespielten Projekte und wagen einen Blick in die Zukunft.
VAN: Vor 30 Jahren haben Sie Ihre Version des Mozart-Requiems vollendet. Würden Sie, wenn Sie sie heute hören, manchmal gerne die Zeit zurückdrehen und manches anders machen?
Robert Levin: Man will immer irgendwas anders machen. Wenn ich im Konzert sitze, denke ich ziemlich oft: ›Warum habe ich das nicht so gemacht? Ohje.‹ Auf dem Nachhauseweg grübele ich weiter, bis ich mir irgendwann sage: ›Es gibt einen Grund, warum ich das nicht so gemacht habe.‹ Es ist nicht so, dass ich nie in Betracht gezogen hätte, doch noch was zu ändern. Ich habe mir wirklich den Kopf zerbrochen, bin aber darüber hinweggekommen. Der Prozess war so anstrengend und demütigend, und ich habe so viele Stunden damit verbracht, mich selbst zu hinterfragen, sowohl beim Schreiben als auch in den verschiedenen Phasen der Veröffentlichung, wenn man alles immer und immer wieder überdenkt… Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass alle anderen Überarbeitungen, die ich hätte vornehmen können, am Ende gehupft wie gesprungen und keine Verbesserung gewesen wären.
Nicht selten werde ich von Kolleg:innen mit eigenen Versionen des Requiems angesprochen, die sich mit mir darüber unterhalten wollen. ›Warum hast du das gemacht?‹ Ich muss sagen, dass mich diese Gespräche meistens nicht sehr interessieren. Ich sage dann: ›Hör mal, ich habe großen Respekt vor dem, was du tust. Wenn ich feststellen würde, dass deine Version überzeugender ist als meine, wäre ich der Erste, der sagen würde: ›Spielt nicht meine Version, spielt die Version dieser Person.‹‹ Aber ich habe diese langen Nächte des Zweifelns hinter mir.
Ich will nicht der sein, der falsch liegt, aber ich will auch nicht der sein, der recht hat. Ich denke, das muss die Nachwelt entscheiden. Es würde mich sehr glücklich machen, wenn meine Version die Zeiten überdauert. Auf jeden Fall kann ich nicht viel dafür oder dagegen tun. Man wird in diesem Prozess sehr demütig. Man lernt so viel über die Natur des Genies Mozarts und über die eigene Fehlbarkeit.
Sie beschäftigen sich seit 1966, als Sie sich erstmals daran machten, für ein Konzert in Harvard die Amen-Fuge zu vervollständigen, mit dem Requiem. Wie sind Sie von diesem ersten Versuch in Jugendjahren zu dem Vorhaben gekommen, das ganze Werk zu vollenden?
Im Herbst 1987 rief mich die Internationale Bachakademie aus Stuttgart in Freiburg an, wo ich Klavierprofessor an der Hochschule für Musik war, und meinte, Helmuth Rilling wolle für seine Dirigierstudierenden ein Seminar über das Mozart-Requiem organisieren und ihnen Einblicke in die ganze Problematik des Werks geben. Also fuhr ich hin und sprach über die verschiedenen Versuche, das Requiem zu vollenden, und über die Fragen, die sich aus dem Studium und dem Vergleich dieser Versuche ergeben.
Einige Wochen später wurde ich zurück in Freiburg wieder von der Bachakademie angerufen, die mir mitteilte, dass der Maestro mich in Stuttgart sprechen wolle. Ich fuhr wieder hin, und er gab mir den Auftrag, eine neue Version des Requiems zu machen. Er meinte, er habe meine Kritik an den anderen Versionen sehr ernst genommen und dass er nie eine von denen dirigieren würde, weil sie ihn nicht überzeugten. Meine Art, diese Versionen zu sezieren und die Kriterien, die ich verwendete, brachten ihn auf die Idee, dass ich vielleicht in der Lage wäre, das Requiem angemessen zu vollenden. Deswegen war er bereit, dieses Risiko einzugehen und schlug vor, mich für ein ebenso stattliches Honorar zu beauftragen, wie er es einem führenden Komponisten für ein neues Werk geben würde.
Haben Sie sich dafür bereit gefühlt?
Ich habe ihm für das Vertrauen gedankt, aber ich habe ihm auch gesagt: ›Wissen Sie, in den USA sagen wir: ›Ich kann vielleicht kein Ei legen, aber ich kann ein gutes Ei von einem schlechten unterscheiden.‹‹ Das Sprichwort stand in meinem Fall gewissermaßen Kopf. Dann meinte ich noch: ›Ich denke außerdem, dass ich vielleicht nicht die beste Wahl für dieses Unterfangen bin. Vor allem komme aus dem falschen Land. Mozart ist das kulturelle Erbe Deutschlands und Österreichs.‹ Ich habe das in erster Linie gesagt, weil ich den falschen Nachnamen habe. Ich wollte nicht, dass Rilling als mein Anwalt auftreten muss, falls es einen großen Aufruhr geben sollte.
Sie dachten, es könnte antisemitische Anfeindungen geben?
Ja, das hätte sein können. Es war nicht völlig abwegig. Vielleicht wären die Anfeindungen wie so oft nicht offen geäußert worden. Naja, Rilling hörte sich das alles an und zog, wie er es gerne tat, an seiner Zigarre. Er sagte: ›Wissen Sie, ich habe damit gerechnet, dass sie sowas sagen. Ich habe sogar darauf gehofft. Und jetzt, da Sie genau das gesagt haben, bin ich mehr denn je überzeugt, dass Sie der Richtige sind für diese Aufgabe.‹ Ich erwiderte: ›Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel mich Ihr Vertrauen bedeutet, aber die Antwort ist nein‹, stieg in mein Auto und fuhr davon. Er verfolgte mich zweieinhalb Jahre lang. Er schien immer zu wissen, wo ich war. Schließlich dachte ich, dass es einfacher ist, das Requiem zu vollenden, als Rilling wieder und wieder zu sagen, dass ich es nicht kann.
Ich dachte: ›Nagut, dann mache ich es eben‹, und machte mich an die Arbeit. Immer wieder habe ich ihm Teile geschickt. Mit den ganzen Details war ich drei Wochen vor der Premiere immer noch nicht fertig. Dann flog ich nach Stuttgart und in den Proben war es dann so, dass ich immer wieder sagte: ›Lasst uns hier die Bratschenstimme ändern, lasst uns dieses und jenes machen.‹
Eben wie ein Komponist.
Man hätte denken können, dass er an einem bestimmten Punkt gesagt hätte: ›Jetzt reicht’s.‹ Hat er aber nicht. Er saß im Orchester oder lief herum, um von überall zu hören und zeigte mir immer wieder Daumen hoch. Bis zum heutigen Tag gehört diese Zustimmung von ihm zu den außergewöhnlichsten Momenten meines Lebens.
Als ich im Hegel-Saal der Liederhalle in Stuttgart die Aufführung hörte … Wenn Sie jemals einer Aufführung geistlicher Chormusik in Deutschland gelauscht haben, wissen Sie, dass am Ende immer lange Stille herrscht. Es gibt immer dieses Gefühl der tiefen Frömmigkeit, bevor die Wertschätzung gegenüber dem Werk zum Ausdruck gebracht wird. Die Integrität der Musik wird vor die Virtuosität der Darbietung gestellt, was, wie ich finde, etwas über die Deutschen aussagt.
Wie bei zweiten Akt Parsifal, nach dem in Bayreuth traditionell nicht geklatscht wird.
Exakt. Da war also diese riesige Stille. Ich saß da, das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt folgen würde. Tatsächlich war es ein Höllenlärm, unglaubliche Ovationen mit Bravo-Rufen und so weiter.
Wie lange dauert es, sich derart in Mozarts Kopf hineinzudenken, dass man die Vollendung des Requiems in Angriff nehmen kann? Für mich klingt das wie eine Lebensaufgabe, für die man nie ganz bereit sein kann.
Den ersten Versuch machte ich ja mit der Amen-Fuge aus dem Requiem. Ich hatte das außerordentliche Glück, fünf Sommer lang bei Nadia Boulanger studieren zu können. Sie führte ein strenges Regiment. Bei ihr lernte man vierstimmigen Satz, mehrstimmigen Kontrapunkt und Fuge. Sie unterwies mich in den klassischen Disziplinen und vermittelte mir die Kunst der Stimmführung, all das geht also nicht auf mein Konto. Ich war einfach ein fleißiger Student, der jung genug war, um nicht zu … eingeschüchtert zu sein. Einige der Studierenden nahmen Beruhigungsmittel vor dem Einzelunterricht mit ihr. Sie war krass. Sie legte Strawinsky-Partituren auf das Klavier, und wenn ich sie nicht perfekt las, bekam ich einen Stoß in die Rippen – von dieser Frau, die meine Großmutter hätte sein können. Nadia Boulanger vermittelte mir die Disziplin und den stilistische Durchblick, um so etwas wie die Amen-Fuge in Angriff zu nehmen. In ihr vereinten sich spirituelles und technisches Verständnis. Sie sagte, die Kunst von Mentor:innen bestehe darin, junge Musiker:innen zu ermutigen, Fantasie und Vorstellungskraft zu nutzen und Risiken einzugehen, um die eigene Stimme zu finden, und darüber hinaus in Fragen der Disziplin absolut keine Kompromisse zu machen. Boulanger stand wirklich für Begeisterung und Disziplin.
Nach der Amen-Fuge interessierte ich mich sehr für die anderen unvollendeten Stücke Mozarts. Verblüfft stellte ich fest, dass es über 140 große Fragmente von Mozart gibt, die nicht etwa wegen mangelnder Qualität nicht zu Ende geschrieben wurden. Im Gegenteil: Diese Anfänge sind kühner, faszinierender, zukunftsweisender als die vollendeten Stücke. Wenn Mozart nur 40 Jahre alt geworden wäre, was hätte er dann alles geschrieben? Die Antwort findet sich in diesen Fragmenten.
Ist die Vollendung bei den zukunftsweisenden Stücken noch schwieriger?
Das ist in ästhetischer Hinsicht eine der wirklich großen Hürden. Wenn man versucht, ein Stück eines früheren Meisters zu vollenden, destilliert man die Gewohnheiten dieses Meisters, sein rhythmisches, harmonisches und melodisches Vokabular. Im Grunde genommen lebt man in einer Welt, die durch die gut 800 anderen Stücke, die Mozart begonnen und vollendet hat, abgesteckt ist. Mozart selbst hingegen war durch nichts davon eingeschränkt. Und von Mozarts Stil zu sprechen, ist ein bisschen irreführend, man muss von seinen Stilen im Plural sprechen.
Im Vorwort zu Ihrer Ausgabe des Requiems schreiben Sie über gewisse Überraschungen in Mozarts Musik. Welche Überraschungen können Sie als Vervollständiger seiner Werke verantworten?
Man sieht diese Dialektik in anderen Stücken. Wenn in der Musik irgendwas ein einziges Mal passiert, denkt man: ›Na ja, das ist ein Einzelfall, und kommt nicht wieder.‹ Aber Mozart wandelt oft auf unerwarteten Pfaden. Wenn man sieht, wie Mozart das in vollständigen und unvollständigen Werken macht, hilft das sehr, weil man dann eine Vorstellung davon bekommt, wie man erkennen kann, was so etwas auslöst. Ich meine: Man kann sehen, wie er um eine bestimmte Ecke biegt und dann in eine bestimmte Richtung geht. Aber für mich ist es wichtig, die Ästhetik dieser Momente der Kühnheit oder der Verfremdung zu verstehen, und zu begreifen, dass sie einmalig sein müssen. Weil sie einmalig sein müssen, muss man sie verändern, und das ist riskant.
Das klingt wirklich riskant.
[Levin demonstriert am Klavier einen »Verfremdungseffekt« aus dem Streichquintett Nr. 3 in C-Dur und zeigt, wie er einen ähnlichen Effekt bei der Vollendung des Klarinettenquintetts in B-Dur einsetzte.]
Man könnte hier fragen: ›Was gab Ihnen den Mut, sowas zu machen?‹ Und meine Antwort lautet: ›Das C-Dur-Quintett‹. Natürlich werden Sie, sobald ich diese speziellen Tricks ein paar Mal benutzt habe, sagen: ›Ach ja, natürlich.‹ Manche dieser Dinge sind aber letztlich unergründlich. Wenn man erst einmal vieles analysiert hat, wenn man sich eingegraben hat in die Werke und die Philosophie versteht, die den Entscheidungen zugrunde liegt, dann sieht man den Unterschied zwischen der Skyline und dem Boden, was meiner Meinung nach das Wichtigste ist, wenn man versucht, etwas zu schaffen, das mehr ist als eine bloße Stilimitation. Es gibt andere Versionen, die, wenn man nur 30 oder 40 Sekunden daraus hört, gut klingen. Aber nach etwa zwei Minuten hat man das komische Gefühl, dass man nicht weiterkommt.
Das passiert auch, wenn man versucht, Computer dazu zu bringen, Musik zu komponieren. Die Computer arbeiten mit Algorithmen. Man kann dem Computer ein Motiv geben, und er entwickelt es bis zu einem gewissen Grad weiter. Aber werden Sie nach vier Minuten spüren, dass Sie das vorangebracht hat? Werden die Motive wärmer oder kälter?
Meinen Sie, dass Computer irgendwann in der Lage sein werden, Mozarts Musik zu vollenden?
Unmöglich ist das nicht. Es gibt bei Computern so eine Sache: GIGO, Garbage In, Garbage Out [etwa: Tust du Müll rein, kommt Müll raus]. Die Computer sind hier nicht das Problem. Es hängt an den Daten, mit denen sie gefüttert werden.
Und wenn man da einfach Mozarts Gesamtwerk einspeist?
Das wäre nicht unbedingt eine gute Idee, denn bei einer Klaviersonate sind die Schichten andere als bei einem sakralen Werk.
Als Pianist treten Sie auch mit zeitgenössischen Werken zum Beispiel von Bernard Rands oder John Harbison auf. Gibt es zwischen den lebenden Komponist:innen, die Sie interessieren, ein verbindendes Element?
Ich suche immer nach Stücken, die direkt die Emotionen ansprechen, unseren Herzschlag verändern, eine Katharsis hervorrufen, erschüttern, einen expliziten emotionalen Inhalt haben. Ich habe beide Bände der Structures von Boulez gespielt, weil ich wissen wollte, ob ich das kann, aber nachdem ich es geschafft hatte, wollte ich das nicht unbedingt nochmal machen, weil ein Computer das genauso gut könnte. Es ist ein Stück für Kontrollfreaks. Daran ist nichts auszusetzen, es kann intellektuell faszinierend sein, aber es nährt weder ein Gefühl der Hoffnung noch der Angst. Für mich ist das wesentlich, und deshalb fühle ich mich zu Komponist:innen hingezogen, deren Musik mir eine eindeutige Botschaft vermittelt, von der ich glaube, dass ich sie auch an ein Publikum weitergeben kann.
Wenn ich für Absolvent:innen Reden auf Abschlussfeiern halte, sage ich manchmal: ›Ihre Aufgabe ist es, die Leute nachts wach zu halten. Sie sollen um 2:30 Uhr morgens aufwachen und sich plötzlich mit Schrecken an einen Moment in Ihrer Aufführung eines Stücks erinnern – egal ob es ein modernes Stück oder eines von Beethoven ist, das das Leben verändert.‹ ¶