Unter der Herrschaft der Taliban wurden zwischen 1996 und 2001 instrumentale Musik und das öffentliche Musikleben in Afghanistan fast vollständig verboten. Musikinstrumente wurden, wenn sie von den »Sittenpolizisten« der Taliban entdeckt wurden, zerstört und manchmal zusammen mit beschlagnahmten Audio- und Videokassetten, Fernsehgeräten und Videorekordern öffentlich verbrannt oder »gehängt«. In Radio und Fernsehen war einzig das Singen bestimmter religiöser Lieder und unbegleiteter Lobgesänge auf die Taliban erlaubt. Viele Musiker:innen versteckten ihre Instrumente, zerstörten sie oder verließen das Land. Die, die blieben, litten unter heftigen Repressalien, wurden öffentlich gedemütigt oder festgenommen. 

In den letzten 20 Jahren erlebte das afghanische Musikleben eine zaghafte Wiederauferstehung. Einige bekannte Musiker:innen kehrten aus dem Exil zurück, Institutionen der musikalischen Bildung wurden neu geschaffen und öffneten ihre Angebote auch für Mädchen. Allerdings blieb die Musikausübung von Frauen auch nach den Taliban vielen ein Dorn im Auge. Erst im März 2021 verabschiedete das afghanische Bildungsministerium einen Beschluss, der Mädchen und jungen Frauen ab dem 12. Lebensjahr das Singen in der Öffentlichkeit untersagte.  

Wie geht es nun nach der Machtübernahme der Taliban weiter? »Wenn sie an der Macht sind, werden sie alle Kunst verbieten«, so die Filmemacherin und Präsidentin der staatlichen Organisation Afghan Film Sahraa Karimi, die sich am Sonntag in einem verzweifelten offenen Brief an die Welt gewandt hatte. Wir sprachen mit einem afghanischen Musiker, der die musikalische Entwicklung des Landes in den letzten 20 Jahren mitgestaltet hat, über die aktuelle Situation vor Ort, warum die Musik von den Taliban verboten wurde und was er sich für die Zukunft der Musik im Land erhofft.

Wie geht es Ihnen in diesen schwierigen Zeiten?

Gut, aber ich bin sehr sehr beschäftigt. Ich sitze hier vor zwei Telefonen, versuche, alles im Griff zu behalten. 

Vor zwei Wochen planten Sie noch Ihre Rückkehr nach Afghanistan. Müssen Sie die nun aufgrund der aktuellen Entwicklung verschieben?

Ja, als ich letzten Monat abgereist bin, habe ich nicht damit gerechnet, dass sich die Lage so schnell in diese Richtung entwickeln würde. Aktuell warte ich mit meinem Rückflug, um zu sehen, was in Kabul passiert, welche Politik die Taliban gegenüber Kunst und Kultur verfolgen. Ich warte ab und versuche, konstruktiv zu sein und nichts zu tun, was die Taliban gegen mich oder meine Freund:innen, Kolleg:innen und Bekannten vor Ort wenden könnten.

Kamen die Entwicklungen der letzten Wochen für Sie völlig unerwartet?

Ich habe auf den Beginn echter Friedensverhandlungen in Doha gewartet und auf politische Lösungen für ein Ende des Krieges in Afghanistan gehofft. Stattdessen gab es dort nur Zeitverschwendung. Gleichzeitig habe ich geglaubt, dass die afghanische Armee in der Lage wäre, für die Interessen ihres Volkes zu kämpfen. Wir hatten eine sehr starke Armee. Auch als die USA ihren uneingeschränkten Abzug aus Afghanistan angekündigt haben, hatte ich noch Hoffnung. Meine einzige Befürchtung war, dass die Regierung fallen könnte, weil Regierungsvertreter:innen Deals mit den Taliban machen. 1992 brach das Regime von Nadschibullāh zusammen und die Mitglieder seiner Partei und Armee haben sich verschiedenen Mujahideen-Parteien und bewaffneten Gruppierungen angeschlossen, was zum Bürgerkrieg geführt hat. Das gleiche erleben wir jetzt wieder. Auch jetzt fällt Provinz nach Provinz kampflos an die Taliban. Die Machtübernahme ist auch diesmal nicht durch einen militärischen Sieg erfolgt, sondern durch Verschwörung und Verrat durch afghanische Politiker.

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Sie selbst waren Opfer eines Selbstmordanschlags der Taliban. Diese Gruppe, die versucht hat, Sie umzubringen, ist nun wieder an der Macht. 

Diese wichtigen Dinge nehme ich nicht persönlich. Die Attacke richtete sich nicht gegen mich, sondern gegen Kunst und Kultur, gegen die positiven Veränderungen, die damals in Afghanistan stattfanden. Trotz allem, was gerade in Afghanistan passiert, versuche ich optimistisch und konstruktiv zu bleiben. Ich hoffe, dass die Taliban aus der Vergangenheit gelernt haben. Ich hoffe, dass sie gelernt haben, dass Musik und eine Nation nicht zum Schweigen gebracht werden können und man einem ganzen Land nicht das ganz grundlegende Menschenrecht auf Musik und den freien Ausdruck in Musik entziehen kann. Musik ist nicht nur Kunst und Unterhaltung, sie ist auch Menschenrecht: die Freiheit, sich in Musik auszudrücken genau wie musikalische Vielfalt und Gemeinschaft, der Zugang zu musikalischer Bildung und zum Üben, die Möglichkeit, sich mit Musik den Lebensunterhalt zu verdienen und die Schönheit von Kunst und Musik zu teilen. Ich hoffe, dass den Taliban auch klar geworden ist, dass Musik Teil der kulturellen Identität jeder Nation ist. Und dass eine Gemeinschaft, Gesellschaft oder Nation, die ihre Kultur nicht respektiert, nicht existieren kann. Eine Nation lebt, wenn in ihr Kunst und Kultur lebendig sind. Und Musik war, ist und wird ein wichtiges Element der afghanischen Kultur sein. 

Die Taliban geben sich jetzt gemäßigter und versuchen sich in ihrer Selbstdarstellung von den Taliban der Neunziger abzugrenzen. Glauben Sie ihnen das? Oder haben sie jetzt nur eine professionelle PR?  

Bis vor einer Woche hätte ich noch gesagt, dass die Taliban sich überhaupt nicht verändert haben. Aber in den letzten Tagen haben sie, als sie so wichtige Provinzen wie Herat oder Mazar eingenommen haben, versucht, sich gegenüber dem afghanischen Volk und der internationalen Gemeinschaft von einer zivilisierteren Seite zu zeigen. Das kann nur vorübergehend sein – oder ein echter Wandel. Am Ende des Tages haben sich vielleicht die Politik und die Führung der Taliban verändert, aber wer kann sichergehen, dass diese Veränderungen auch im Kopf des gewöhnlichen Taliban angekommen sind? Heute habe ich ein Video gesehen, aus dem ganz deutlich der mangelnde Respekt gegenüber religiöser Toleranz und für ethnische Unterschiede hervorgeht. An den Toren Kabuls haben sie nicht nur die afghanische Nationalflagge eingeholt, sondern auch die der afghanischen Schiit:innen, die normalerweise im heiligen Monat Muharram gehisst werden. Das zeigt, dass es zwar vielleicht einen Wandel in der Führung der Taliban gegeben hat, aber die Gefahr noch immer von ihren Soldaten ausgeht, von Menschen, über die die Führung vielleicht keine Kontrolle hat. Und das afghanische Volk wird für diese Intoleranz einen hohen Preis zahlen müssen. 

Wie hat sich die afghanische Musikszene in den letzten 20 Jahren entwickelt? 

Es gab viele positive Veränderungen: die Rückkehr der Musik nach jahrelangem Verbot, die Rückkehr von Mädchen und Frauen in die Musik. Afghanische Musiker:innen haben in der Carnegie Hall, im Kennedy Center, im British Museum, in der portugiesischen Gulbenkian Concert Hall, in den Berwaldhallen in Schweden und auf dem Weltwirtschaftsforum gespielt. In diesen 20 Jahren hat Afghanistan professionelle junge Dirigent:innen, Pianist:innen, Geiger:innen und junge afghanische Rubab-Spieler:innen hervorgebracht. Wir haben die musikalischen Traditionen Afghanistans mit Erfolg wiederbelebt. Die Musik hat sich in diesen 20 Jahren also sehr weit entwickelt. Und hoffentlich wird uns die Möglichkeit gegeben, diesen Weg weiterzugehen, um sicherzustellen, dass die Rechte des afghanischen Volkes auf Musik geachtet werden.

Versuchen viele Musiker:innen, das Land zu verlassen? 

Ja, die gesamte musikalische Gemeinschaft Afghanistans lebt in Angst, Panik. All diese Leute haben Angst wegen ihrer Popularität – dass sie bestraft werden, wenn die Taliban sie sehen. Aber ich hoffe, dass die Taliban diesen Weg nicht gehen, denn der wird ihnen keinen Ruhm bringen. 

In Kandahar haben die Taliban angeblich den Radiosender der Stadt übernommen und die Übertragung von Musik komplett eingestellt. 

Das bereitet mir große Sorgen, und ich versuche, herauszufinden, ob das Teil der Politik der Taliban war, ob es von ihnen durchgesetzt wurde, oder ob es eine Initiative war, um die Taliban gütlich zu stimmen und überhaupt weiter senden zu können. Bislang liegt mir kein offizieller Erlass oder eine Anweisung der Taliban vor, wonach Fernsehsender keine Musik ausstrahlen dürfen.

Woher rührt der Hass der Taliban auf viele Formen von Musik, insbesondere auf Musikinstrumente, und wie wird er begründet?

Das ist kein neues Phänomen im Islam. Diese Haltung wurzelt im 10. Jahrhundert, als die islamischen Gelehrten begannen, den heiligen Koran sowie die Aussprüche des Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, zu interpretieren. Es handelt sich hierbei um eine enge, aber auch eine irreführende Auslegung. In den letzten zwanzig Jahren wurde sie stärker befürwortet. Es gab sie schon immer und ich bin sicher, dass es sie auch weiterhin geben wird, aber in Wahrheit steht nichts gegen Musik im Heiligen Koran. Überhaupt nichts. Und aus Sicht des Islam ist der Koran die wichtigste Richtschnur für uns Muslim:innen. Wenn also im Koran nichts gegen Musik steht, kann auch unser Prophet, Friede sei mit ihm, nichts gegen Musik haben. Der Hass auf die Musik beruht auf einer falschen Auslegung und einer engen Interpretation der islamischen Lehre.

In den letzten Jahren hat es insbesondere im Bereich der Bildung und dem Recht auf Bildung für Frauen Fortschritte gegeben. Gibt es jetzt die Befürchtung, dass das alles umsonst war?

Ich würde nicht sagen, dass das alles umsonst war. Zunächst mal hat sich das Bildungssystem in den letzten 20 Jahren sehr weit entwickelt. 2001 hatten wir ein paar hunderttausend Schüler in den Schulen Afghanistans, damals gab es noch keine Mädchenschule. Heute – oder bis gestern – sind 40 Prozent der Schüler:innen Mädchen. Anstelle von ein paar hunderttausend Schülern sind jetzt Millionen von Jungen und Mädchen in den Schulen Afghanistans eingeschrieben, und es gibt Tausende von privaten und öffentlichen Schulen im Land. Es wurden viele neue private Universitäten gegründet, viele Studierende wurden außerhalb Afghanistans ausgebildet und kehren mit Master-Abschlüssen und Doktortiteln zurück. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Die Veränderungen, die in den letzten 20 Jahren stattgefunden haben, werden nicht über Nacht verschwinden. Ja, es könnte einige Beschränkungen geben, aber die werden die Menschen in ihrem Geist nicht ändern. Man kann die Fähigkeit der Menschen frei zu denken nicht beschneiden. Man kann dem Gehirn eines Mannes oder einer Frau nicht vorschreiben, wie es zu denken hat. Auch die Werte, die Aufgeschlossenheit der Afghan:innen und ihr Zugang zu den Sozialen Medien, all das spielte eine wichtige Rolle bei der Veränderung der Mentalität und des Geistes der afghanischen Bevölkerung. Bildung spielt eine wichtige Rolle, die Verbindung mit dem Rest der Welt hinterlässt einen großen Eindruck. Der Wunsch der Menschen nach Freiheit wird viel stärker sein als 1996, als die Taliban an die Macht kamen. Die Menschen in Afghanistan sind sich ihrer Rechte jetzt sehr bewusst. Und sie sind nicht bereit, ihre Rechte aufzugeben. Ja, heute herrscht in Afghanistan ein großes Durcheinander. Aber dieses große Durcheinander wird sich in ein, zwei oder drei Wochen beruhigen. Und dann wird die Zeit kommen, in der wir sehen, wie sich die Veränderungen der letzten 20 Jahre auf das Denken und Handeln des afghanischen Volkes ausgewirkt haben. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com