Der Komponist Karlheinz Essl wurde 1995 für ein Orchesterwerk beauftragt, das anlässlich eines Festaktes in der Säulenhalle des österreichischen Parlaments uraufgeführt werden sollte. Allerdings sei der Raum akustisch schwierig, warnte man ihn von Seite der Auftraggeber: Circa 12 Sekunden beträgt die Nachhallzeit in diesem marmornen Saal, wodurch jedes Klangereignis extrem lange im Raum nachklingt, jeder Punkt zur Fläche wird. Fasziniert von diesen raumakustischen Eigenschaften entschied sich Essl, nicht nur für, sondern mit dem Raum zu komponieren, alle musikalischen Entscheidungen also von der Eigenart der Schallverbreitung abhängig zu machen.
»Für 4 im Raum verteilte Orchestergruppen und Hallraum (oder Live-Elektronik)«, lautet die Besetzungsangabe von Essls Komposition Intervention, bei der er den Raum ausdrücklich als Instrument begreift. Die hier in Klammern gesetzte Alternative, den spezifischen und für die Komposition so elementaren Hallraum auch künstlich erzeugen zu können, geht zurück auf den Umstand der Uraufführung – denn es kam anders: Das österreichische Parlament wurde kurz zuvor aufgelöst, an einen Festakt in seinen Gemäuern war nicht mehr zu denken. Stattdessen wurde Essls ortsbezogene Raumkomposition kurzerhand im Wiener Konzerthaus realisiert. Der Komponist und zwei Tonmeister augmentierten dessen Akustik – mit einer Nachhallzeit von etwa 2 Sekunden – mithilfe eines Lautsprechersystems, um den akustischen Gegebenheiten des ursprünglichen Aufführungsortes möglichst nahe zu kommen. Diese künstliche und gleichsam künstlerische Verlängerung der natürlichen Nachhallzeit ist nur eine von denkbar vielen Einsatzmöglichkeiten von fest installierten Lautsprechersystemen und anderen technischen Raumklangverfahren im klassischen Konzertsaal. Aber: Konzepte wie dieses bleiben die Ausnahme. Worin liegt das Potenzial und woher rührt die Skepsis des Klassikbetriebs gegenüber solchen virtuellen Klangmodifikationen?
Konzertsäle sind optimierte Hör-Räume. Die Architektur – ganz gleich ob »Schuhschachtel« oder »Weinberg« – und die Materialbeschaffenheit eines Konzertsaals sollen in erster Linie als Verstärker dienen, den Schall von der Bühne möglichst ohne Lautstärkeverlust in alle Ränge verteilen. Hinzu kommen Halleigenschaften und Klangfarben, die aus den Proportionen des Raumes resultieren. »Und dann gibt es einen vierten Aspekt, den wir als ›fit‹ bezeichnen«, erklärt Stefan Weinzierl, Professor und Leiter des Fachgebiets Audiokommunikation der TU Berlin. »Es gibt Säle, die für die Sinfonik des späten 19. Jahrhunderts ganz hervorragend geeignet sind, wo aber ein Streichquartett von Mozart ganz verloren wäre. Insofern gibt es auch nicht den optimalen Konzertsaal für jede Art von Musik.« Weinzierl berät den Bauherren des neuen Münchner Konzerthauses in raumakustischen Belangen und diskutiert in diesem Zusammenhang auch stets die Frage, »inwiefern der Raum das, was das Stück und die Performance des Musikers möchten, transportiert – oder dem vielleicht sogar entgegenwirkt.«
Zwar lässt sich die Raumakustik in den meisten Sälen mit ein paar analogen Maßnahmen in Abhängigkeit vom jeweiligen Bühnenprogramm regulieren: etwa mit Schallsegeln, Nachhallreservoirs, Vorhängen oder Bestuhlungsformen. Und auch die Auslastung spielt willkürlich in den Raumklang hinein, denn bei mehr Besucher:innen wird umso mehr Schall geschluckt. Eine weitaus größere, gar unendliche Variabilität der Raumakustik lässt sich hingegen durch die Anwendung live-elektronischer, digitaler Verfahren erzielen. Technisch betrachtet werden die Instrumente auf der Bühne mikrofoniert, diese Audiosignale werden in Klangbearbeitungsprogramme eingespeist, über die per Mausklick und Regler raumakustische Parameter – in Essls Fall die Verlängerung der Nachhallzeit von 2 auf 12 Sekunden – in Echtzeit modifiziert werden, sodass über eine große Anzahl an im Auditorium verteilten Lautsprechern eine künstliche raumakustische Situation hergestellt wird. »Mit dem heutigen Wissen und der heutigen Technik könnte man schon einen Raum bauen, der selbst keine Akustik hat, der aber jede Akustik annehmen kann mit einer aufwendigen Lautsprecherkonstruktion«, sagt Stefan Weinzierl. Er experimentiert in seinem Fachbereich mit 3D-Audioverfahren wie Wellenfeldsynthese, binauralen Aufnahme- und Wiedergabesystemen und Ambisonics und setzt diese Verfahren nicht nur zur Rekonstruktion der Raumakustik historischer Aufführungsräume ein, sondern entwickelt auch zukunftsweisende und innovative Konzepte für den Konzertsaal von morgen mit: »Ich warte immer noch auf die erste Umsetzung. Dafür braucht es entweder einen Sponsor oder einen Veranstalter, der mutig genug ist, das zu realisieren.«
Solche technischen Systeme werden aber bislang weder in die altehrwürdigen Konzertsäle integriert, noch bei prestigeträchtigen Neubauten für die großen Säle eingeplant. Nun sind Raumklangverfahren und 3D-Audio keine Neuheiten: Die Anfänge der Akusmatischen Musik, bei der Lautsprecher anstelle von Musiker:innen aus Fleisch und Blut auf der Bühne stehen, reichen bis in die 1950er Jahre zurück. Und doch dominieren Skepsis und Widerstand gegenüber der Technologie – zumindest, wenn es sich um den klassischen Konzertsaal handelt, beobachtet auch Weinzierl: »Beim Neubau von Konzertsälen ist die Bereitschaft zu experimentieren meistens nicht sehr groß. Da wäre jetzt mal zu untersuchen, ob das eher vom Publikum, von den Veranstaltern oder von den Künstlerinnen und Künstlern ausgeht. Man kommt immer schnell auf die gleichen Traditionen zurück, also den berühmten Schuhschachtel-Konzertsaal des 19. Jahrhunderts, der sich irgendwie am Wiener Musikverein orientiert.«
Der Begriff der »Manipulation«, der hier eigentlich positiv besetzt ins Feld geführt wird, verträgt sich schwer mit dem der »Authentizität«. Letzterer ist für den Klassikbetrieb essentiell: »Klassische Musik ist handgemacht«, zitiert Weinzierl eine idealisierte Grundannahme des stereotypen Klassikliebhabers, »da gibt es keine technischen Eingriffe, vollkommen authentisch!« Was höchst scheinheilig ist, wenn der Klassikliebhaber mit Verweis auf die historisch informierte Aufführungspraxis authentische Instrumente einfordert, sich aber nicht daran stört, diejenige Musik, die einst für Kirchen, Salons oder kleine Bürgersäle komponiert worden ist, in einem modernen 2.000-Personen-Saal anzuhören – und sich dann darüber empört, wenn mit technischen Mitteln die Raumakustik »manipuliert« werden soll.
»Was die Wahrnehmung des Publikums angeht, ist es auf jeden Fall so, dass das irgendwie wie Fake wirkt, wie Betrug. Ein Gedanke, der ja eigentlich absurd ist«, findet der Tonmeister und Klangregisseur Sebastian Schottke. Er hält die live-elektronische Modifizierung, Verfremdung, Simulation oder Verschachtelung unterschiedlicher Raumakustiken nicht nur für den Bereich der experimentellen Musik für ein künstlerisch adäquates Mittel: »Es geht ja letztendlich um ein Konzerterlebnis. In den meisten Sälen hat man nicht die optimalen akustischen Bedingungen für ein spezifisches Werk. Manche Werke funktionieren in dem Raum gut, andere dann gar nicht. Und ich denke schon, dass alle Mittel erlaubt sind. Es muss einfach stimmig sein am Ende.«
Technik stehe dem haptischen, organischen Körper oppositionell gegenüber, könnten Skeptiker argumentieren. Man wolle doch Musik hören, die von leibhaftigen Musiker:innen produziert wird, und die physisch-motorischen Anstrengungen und Körperbewegungen der Performenden, die den Klang immer mitformen, beobachten. Diese Körperlichkeit, die den Liveness-Charakter ausmacht, impliziert auch immer die potenzielle Gefahr des Scheiterns – was die meisterhafte Kür der Interpret:innen schließlich umso bravouröser macht. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch technische Systeme wie beispielsweise eine raumumspannende Lautsprecheranlage mit hochwertigen Effekten höchst fehleranfällig sind. Nur ist der Wackelkontakt weniger emotional, performativ und ereignishaft als der Fehlgriff des Pianisten oder die gerissene Saite der Sologeigerin. Dieses unmittelbare Erleben von Live-Musik kann auch durch die problematische Entkopplung von Quellsignal und Lautsprechersignal beeinträchtigt werden: Die (Orchester-)Musiker:innen agieren auf der Bühne, ihr mikrofoniertes Instrumentalspiel ertönt aber (auch) aus den Lautsprechern im Auditorium, also auch von hinten und von der Seite. Aus der Perspektive der Interpret:innen stellt sich daher die Frage, inwiefern sie in ihrer Performance auf die Saalakustik reagieren können, wenn ein technisches System – und mit ihm die Figur des künstlerisch autark agierenden Klangregisseurs – dazwischengeschaltet ist. Das künstlerisch-dramaturgische Spiel mit virtuellen akustischen Realitäten im Konzertraum zu akzeptieren, stellt Anforderungen an das Klassikpublikum: Es wird ein gewisses Technik-Wissen, eine digitale Bildung sowie eine erlernte Kultur des 3D-Hörens vorausgesetzt.
Es gibt sie, diese Experimentierräume mit einer Vielzahl von integrierten Lautsprechern, die vielfältig ansteuerbar sind. Zum Beispiel der 2006 im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe eröffnete Klangdom mit seiner aus 47 Lautsprechern bestehenden Kuppel, in dem die Raumakustik selbst »modellierbar« ist.

Es ist die Hauptwirkungsstätte von Sebastian Schottke. »Das ist ja die Normalität: Man kommt in einen Raum, nimmt den Raum wahr und akzeptiert, dass das jetzt der Raum ist«, wundert er sich. »Die Raumakustik ist aber eine Sache, mit der man spielen und umgehen, die man verändern kann.« Das tat Schottke jüngst im Zuge der Komposition Moving Picture – 946-3 von Rebecca Saunders. Ähnlich wie bei Karlheinz Essl war ein akustisch außergewöhnlicher Ort der künstlerische Ausgangspunkt: das Vigeland-Mausoleum in Olso, ein kathedralenartiger, fensterloser Raum mit einer Nachhallzeit von 14 Sekunden.

Saunders Musik für Trompete, die explizit mit diesem halligen Raum arbeitet, wurde in einem Holztempel in Tokio, in einem Berliner Kinosaal und in der Abtei im saarländischen Tholey aufgeführt. Drei Orte mit gänzlich unterschiedlichen akustischen Eigenschaften, in denen Schottke mithilfe von Lautsprechersystemen jeweils die Klangwelt des Vigeland-Mausoleums simuliert hat. »Das ist eine Herausforderung. Ein wichtiger Punkt ist, dieses Gefühl zu vermeiden, dass etwas aus einem Lautsprecher kommt.« Das Publikum wurde nicht direkt beschallt, stattdessen neigte Schottke die Lautsprecher zur Decke oder zur Wand, die dann als Reflektionsflächen genutzt wurden, wodurch sich »ein organisches Klangbild« einstellte. Wird wie hier die Akustik eines fremden Raumes in einen anderen Raum, der ja selbst schon eine spezifische Akustik besitzt, implementiert, so sind dramaturgische Überlegungen notwendig. Die Nachhallzeiten des Mausoleums und der Abtei in Tholey sind weniger widersprüchlich als die trockene Akustik eines Kinosaals, in dem sich plötzlich ein Kathedralenklang entfaltet. Es geht Schottke genau um »diese Diskrepanz von der Erwartungshaltung der Hörenden und dem, was dann tatsächlich passiert.«
Denkt man das mal weiter: Wir könnten uns jeden Abend auf unseren Abonnement-Platz in ein- und denselben Konzertsaal setzen und uns heute mit Bachkantaten in die Leipziger Thomaskirche, morgen mit Aida in die Freiluft-Arena von Verona und übermorgen ins Bayreuther Festspielhaus entführen lassen. Technisch wäre das machbar. Dadurch eröffnet sich ein Raum zum Geschichtenerzählen. Woody Allen bringt das, worum es hier geht, in seinem Episodenfilm To Rome With Love persiflierend auf den Punkt: Die Figur Jerry, ein avantgardistischer Opernregisseur, glaubt im schüchternen Giancarlo ein Gesangstalent entdeckt zu haben, als er ihn unter der Dusche eine Opernarie aus Puccinis Tosca singen hört. Bei einem konventionellen Vorsingen versagt Giancarlo jedoch, weil er seine begnadete Stimme nur unter der Dusche entfalten kann – dort klingt die Stimme aufgrund der besonderen Raum- und Materialkonstellation bekanntermaßen besonders voluminös. Der Opernregisseur zieht die logische Konsequenz und stellt den Sänger mitsamt Duschkabine auf die Konzertbühne, was zum bejubelten Markenzeichen des Tenors wird.
Zugleich stellt die variable Gestalt der Raumakustik systemische Konventionen in Frage: Wie ließe sich unter diesen Gesichtspunkten nochmal neu über historische Aufführungspraxis nachdenken? Welcher Paradigmenwechsel könnte sich in der sich stets selbst reproduzierenden Programmgestaltung vollziehen, wenn sie stärker am Parameter Raum festgemacht würde? Und was würde das für die Praxis der Konzerttourneen bedeuten, wenn wir in München sitzen und unsere Lieblingsmusik in der gerühmten Akustik der Elbphilharmonie (deren großer Saal übrigens auch nicht über solch ein modernes Beschallungssystem verfügt) erleben könnten? Die Umwelt würde es danken.
Zumindest der Kleine Saal im zukünftigen Münchner Konzerthaus soll technisch modern ausgestattet werden und in Berlin soll ein neuer Aufführungsort in Planung sein, der sich anschickt, mit einem innovativen Beschallungssystem den State of the Art neu zu definieren. Immerhin – aber häufig sind das die kleineren Kammermusik- oder die sogenannten Studiobühnen, auf denen abseits der Main Stage Experimentelles stattfinden darf. So wie im Karlsruher Klangdom, im Mumuth in Graz oder im Espace de projection im IRCAM Paris, wo die prismatischen Wandelemente mechanisch rotiert werden können, je nachdem ob reflektierende oder absorbierende Oberflächen gewünscht sind. Aber Lautsprecher-Setups und Surroundsound-Anlagen gehören auch in die großen, prestigeträchtigen Säle, weil die heutige Technik ein so großes Potenzial an erzählerischen und dramaturgischen Möglichkeiten bietet – auch und gerade im Umgang mit dem sinfonischen Repertoire. Und falls sie irgendwo schon vorhanden sein sollten, aber aus besagten Gründen noch zögerlich thematisiert werden, ist es wünschenswert, sie würden künftig mit inhaltlicher Konsequenz als künstlerisch legitimes Mittel eingesetzt. Es mag zutreffen, dass der klare Klang, den die holzbeschalten Wände eines architektonisch ausgefeilten Konzertsaals erzeugen, nicht unbedingt gleichwertig durch technische Beschallungssysteme ersetzt werden kann. Die Lautsprecher dürften an manchen Tagen ja auch stumm bleiben. Und es könnte der Transparenz halber ja ein kleines Lämpchen im Saal leuchten, wenn der Klangregisseur von seinem Pult aus mitgestaltet. ¶