Es gibt auf Youtube eine Aufnahme des Royal Concertgebouw Orchestra aus dem Jahr 1973: Beethovens drittes Klavierkonzert, mit Artur Rubinstein am Klavier und Bernard Haitink am Pult. Es macht großen Spaß, die Aufzeichnungen zu hören – mit dem jungen Haitink, dem 86-jährigen Rubinstein und dem unverwechselbaren Klang des Orchesters, der gerne als zugleich homogen und transparent beschrieben wird. Die Akustik des Concertgebouw zwingt die Musiker:innen dazu, einander noch genauer zuzuhören, als das in anderen Sälen der Fall ist. Selbst die größten Symphonien haben hier intime, kammermusikalische Qualitäten.
Aber nicht nur der Klang ist bei diesem Orchester von 1973 homogen: Der allergrößte Teil der 100 Musiker:innen auf der Bühne ist männlich, optisch sucht man Diversität hier, wie in so vielen anderen Orchestern in den 1970er Jahren, vergebens. Dabei befanden sich die Niederlande in den 1970er Jahren gerade in einem Transformationsprozess zum Einwanderungsland: Als Haitink zehn Jahre zuvor Chefdirigent des RCO wurde, waren jährlich knapp über 3.500 Menschen in das Land eingewandert. Als er 1988 aus dem Orchester ausschied, waren es fast 25.000 pro Jahr. 300 Jahre lang waren die Niederlande zuvor eher durch Auswanderung geprägt gewesen. Das hatte sich nun gewandelt.
50 Jahre später bildet das RCO die Vielfalt Amsterdams besser ab: Über 25 Nationalitäten sind vertreten. Von den 120 Musiker:innen, sind 50 Prozent weiblich.
Als das RCO 2010 vom Gramophone Magazine zum besten Orchester der Welt gekürt wurde, beschrieb der damalige Chefdirigent Mariss Jansons seine Rolle eher als symbiotisch denn als führend: »Es ist meine Aufgabe, die besonderen Qualitäten der Musiker:innen zu finden und sie zu bewahren. Wenn dann durch einen natürlichen Prozess meine eigene Individualität etwas zum Klang des Orchesters beiträgt – und ihre Individualität zu meinem – dann ist das in Ordnung.«
Im Idealfall besteht eine ähnlich symbiotische Beziehung auch zwischen einem Orchester und dessen Heimatstadt. Einerseits stiftet das Orchester lokale Identität, andererseits muss es versuchen, den real existierenden, vielfältigen Identitäten der Stadt gerecht zu werden. »Eine Aufgabe unseres Orchesters, aber auch allgemein der gesamten Branche, besteht darin, weiterhin nach Talenten zu suchen und über die eigenen Grenzen hinauszuschauen«, sagt Lili Schutte, die beim RCO für Vermittlung, Diversität und Inklusion zuständig ist. »Wir leben alle in unserer Blase, aber auch drumherum gibt es jede Menge Talente.« Es gehe dabei nicht nur um Herkunft und kulturellen Hintergrund, sondern beispielsweise auch um die wirtschaftliche Situation der Eltern, und, so Schutte, auch um Fragen wie: »Lebt man in einer Stadt mit guter Infrastruktur oder lebt man außerhalb, wo man jedes Mal eine Stunde fahren muss, um seinen Instrumentallehrer zu sehen?«
Zwischen 2016 und 2018 tourte das RCO durch alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Oft trat es mit örtlichen Jugendorchestern auf. Es fragte dabei immer wieder: Bei wem sehen wir großes musikalisches Talent, aber nicht ausreichend Möglichkeiten zur Entfaltung?
Auf Basis dieser Überlegungen wurde das Concertgebouworkest Young, eine jährlich im Sommer stattfindende Jugendorchesterakademie für Musiker:innen im Alter von 14 bis 17 Jahren, ins Leben gerufen. Das Anliegen, schon so junge Musiker:innen umfassend und bestmöglich auf die Profikarriere vorzubereiten, unterscheidet das Concertgebouworkest Young von Initiativen wie dem European Union Youth Orchestra oder dem Gustav Mahler Jugendorchester, bei dem man sich erst im Alter von 16 Jahren bewerben kann und praktisch schon auf Musikhochschulniveau spielen muss. Auch die überschaubare Anzahl von Concertgebouworkest Young-Konzerten macht die Teilnahme niedrigschwellig, man muss nicht gleich das ganze folgende Jahr für Auftritte und Tourneen blocken.
Die erste Ausschreibung für das Projekt erfolgte im Herbst 2018: »Wir suchen junge, talentierte Musiker:innen, die zusätzliche Unterstützung benötigen und vorzugsweise die Vielfalt der tatsächlichen europäischen Gesellschaft widerspiegeln«, hieß es dort. 323 Bewerbungen gingen ein, 73 Musiker:innen wurden aufgenommen. »Wenn wir uns zum Beispiel zwischen zwei Musikerinnen entscheiden mussten, von denen eine schon viele Preise gewonnen und die besten Lehrer und viele Möglichkeiten hat, sich weiterzuentwickeln und die andere nicht, dann haben wir uns für die entschieden, die all das nicht hat«, erklärt Schutte den Auswahlprozess.
Als eine Art Vorbild nennt Schutte das NYO2 der Carnegie Hall – ein Orchester, das sich an Musiker:innen im High-School-Alter richtet, die aus Kontexten kommen, in denen klassische Musik wenig präsent ist. »Sie wollen sich auf die Vielfalt der jungen Musiker:innen konzentrieren und diese fördern. Wir haben uns daran ein Beispiel genommen, für ein ähnliches Projekt in Europa.« Wichtig ist dabei auch, dass sich nicht nur Jugendliche aus EU-Mitgliedstaaten bewerben können, sondern aus allen Ländern des Kontinents, von Albanien bis zum Vereinigten Königreich. Die Kosten für Anreise, Unterkunft und Verpflegung werden für die Jugendlichen übernommen, auch Bewerbungs- oder Studiengebühren müssen die Teilnehmenden nicht zahlen.
Die Musiker:innen verbringen den Großteil des Augusts in einer Art Sommercamp. Zwei Wochen lang wird auf einem Campus für darstellende Künste in der Stadt Ede (eine Stunde östlich von Amsterdam) geprobt, flankiert von Workshops, die die Jugendlichen individuell unterstützen sollen. Es folgen zwei Aufführungen: eine im Concertgebouw, eine in einer weiteren Stadt. 2019 trat Concertgebouworkest Young unter der Leitung von Pablo Heras-Casado in der Brüsseler Flagey-Halle auf. In diesem Jahr wird das Orchester, nach einem Auftritt im Concertgebouw am 23. August, am 25. August im Berliner Konzerthaus spielen.
Die in Lissabon aufgewachsene Bratschistin Teresa Caleiro besuchte in ihrer Heimatstadt bereits ein Musikgymnasium und spielte in einigen lokalen Jugendorchestern. Dennoch, sagt sie, ging in den Orchestern oft etwas schief, die Logistik war immer ein Problem. Eine ihrer Klassenkameradinnen spielte beim ersten Jahrgang von Concertgebouworkest Young mit, also bewarb Caleiro sich im Herbst für die zweite Runde. »Es war eine dieser Gelegenheiten, bei denen man sich einfach bewirbt und sich dann um nichts weiter kümmern muss, was Flüge und Geld angeht, das hilft einem als Musikerin wirklich sehr«, erzählt sie. Die Zulassung erreichte sie im März 2020, in der zweiten Woche des Lockdowns.
Im Sommer 2020 trafen sich Musiker:innen und Mentor:innen virtuell. Mitglieder des RCO gaben Meisterkurse per Videokonferenz. Caleiro arbeitete als Bratschisten nicht nur am Orchesterrepetoire, sondern auch an Brahms’ Sonate in f-Moll, unterstützt vom Concertgebouw-Musiker Guus Jeukendrup. Jeukendrup gab Caleiro zusätzliche Tipps für Repertoire und Übungen, mit denen sie für ihre Aufnahmeprüfung am Konservatorium arbeiten konnte. Heute studiert Caleiro am Konservatorium von Amsterdam.
Die Arbeitsphasen beim Concertgebouworkest Young beginnen, wenn nicht gerade Lockdown ist, immer trubelig: ankommen, Zimmer beziehen, orientieren. Gleich am ersten Abend wird trotzdem bereits geprobt. »Wenn man sich die Unterschiede zwischen diesem ersten Ausprobieren, dem ersten Konzert und dann dem zweiten Konzert ansieht – das sind riesige, riesige Schritte«, so Schutte. Dabei geht es nicht nur um Technik und Gestaltung, sondern auch um wachsendes Selbstvertrauen der Musiker:innen und einen immer größeren Zusammenhalt zwischen ihnen. »Eigentlich ist es ein bisschen wie ein Schnellkochtopf«, so RCO-Tubist Perry Hoogendijk, der bei Concertgebouworkest Young unterrichtet. »Sie sind alle etwa gleich alt und bereits außergewöhnlich gute Musiker:innen. Plötzlich kommt aber alles auf Hochtouren und das Niveau steigt rasant. Das Komische ist, dass sie das gar nicht bemerken, weil alles sehr lässig und entspannt ist.«

Diese Atmosphäre sei für junge Musiker:innen besonders wichtig, so Schutte, weil gerade für sie der Druck ansonsten allgegenwärtig sei – im Studium, bei Probespielen oder in der Anfangszeit im Orchester. Darum bietet Concertgebouworkest Young auch Workshops an, in denen es nicht im Kern ums Musizieren geht, sondern um persönliche Schwächen und Stärken, den Umgang mit Leistungsdruck und Lampenfieber, um mentales Training.
Beim Musizieren steht auch beim Concertgebouworkest Young die Symbiose im Zentrum. Bratschistin Caleiro erinnert sich mit Blick auf ihre erste Probe mit dem Orchester und Brahms’ zweiter Symphonie vor allem daran, dass sie »viel zugehört« habe. »Diese Liebe zum Spiel im Orchester und mit einer Gruppe von Menschen hatte ich vor Young nicht«, meint die Geigerin Ulilan Szymańska Pereira, die wie Caleiro in der Ausgabe 2020/21 mitspielte, aus Portugal stammt und jetzt am Konservatorium in Amsterdam studiert. Das Programm habe ihr außerdem geholfen, Kontakte in Amsterdam zu knüpfen, die Stadt kennenzulernen und sich dort heute zuhause fühlen zu können.
Beide Musikerinnen sind auch als Botschafterinnen der klassischen Musik aktiv. An alle Concertgebouworkest Young-Alumni ergeht der Auftrag, sich weiterhin für Vielfalt einzusetzen – in den Orchestern wie im Publikum. Als Caleiro und Pereira für ihr Studium nach Amsterdam zurückkehrten, nahmen sie Kontakt zu Schutte auf, die ehemalige Concertgebouworkest Young-Musiker:innen an Schulen in Amsterdam und den Vororten der Stadt vermittelt, um dort aufzutreten und zu unterrichten. Caleiro arbeitet außerdem, unterstützt durch Schutte, an einer eigenen Konzertreihe in Altersheimen. Für Pereira sind die Schulkonzerte etwas ganz Besonderes, denn auch sie entdeckte einst bei einem solchen Konzert die Geige für sich. Schutte wünscht sich, dass aus Concertgebouworkest Young in Zukunft auch ein Programm für Alumni entsteht, in dem diese Gleichaltrigen klassische Musik zeigen. »Wenn wir als Erwachsene und als 130 Jahre alte Institutionen sagen, dass klassische Musik sehr wichtig und sehr schön ist und dass man Brahms, Beethoven und Bach kennen muss … Den jüngeren Leuten ist das egal. Sie müssen ihre eigenen Geschichten finden.«
Diese Geschichten können sich zum Teil auch aus der Erfahrung speisen, dass der Rahmen, in dem klassische Musik meist erklingt, selbst ein künstlicher ist. Eine Haltung zu den Barrieren des Klassikbetriebs zu entwickeln – seien es hohe Eintrittspreise oder schockierte Reaktionen auf das Klatschen zwischen zwei Sätzen – kann beflügeln. »In Portugal haben Leute, die in klassische Konzerte gehen, oft die Haltung, dass sie besser sind als die, die nicht hingehen«, so Bratschistin Caleiro. Diese Einstellung zu hinterfragen, werde sie auf ihrem Berufsweg begleiten. »Young hat mir gezeigt, dass die Welt viel größer ist, als ich dachte.«¶