Manchmal ist Krzysztof Meyers Musik wie sein Garten. Verwunschen und verschlungen, weder begradigt noch eingezäunt, vielmehr von einer lebendigen, natürlichen Freiheit. Hohe Bäume und dichtes Grün umgeben das Haus in Altenkirchen im Westerwald, fast könnte man meinen, dass man wie in der Zauberflöte ein paar Prüfungen ablegen müsste, um bis zur Haustür durchzukommen. Doch Krzysztof Meyer ist weder ein Sarastro noch ein Papageno, auch wenn er von beiden etwas hat, in seiner aufrichtigen, begeisterungsfreudigen Art. Inmitten seiner so interessierten Freundlichkeit vergisst man schnell, dass er einer der wichtigsten Komponisten unserer Tage ist. Am 11. August wird er 80 Jahre alt.

Auf dem Gang durch den Garten führt Meyer zielgerichtet in unerwartbare Ecken von wilder Schönheit, erzählt von Kräutern und seltenen Blüten, von Stürmen, Schnee und Knospen. Anekdoten aus einem musikalisch bewegten Leben mischen sich ein, wie jene über eine Busfahrerin aus Leningrad, die plötzlich lauthals das Violinkonzert von Aram Chatschaturjan zu singen begann und es für alle das Normalste der Welt war. Er erzählt von Bekanntschaften mit Darius Milhaud und Witold Lutosławski, und von den vielen Treffen mit Dmitri Schostakowitsch. Aus dieser Freundschaft ging in den 1990er Jahren die erste große Biographie über Schostakowitsch hervor, ein gleichermaßen Mammut- wie Standardwerk, das Meyer weit außerhalb der musikalischen Avantgarde bekannt machte. Die Auswüchse der europäischen Geschichte sind das Einzige, was ihm sein frohes Gemüt vermiesen kann, erst recht die problematische rechtspopulistische Regierung in seiner Heimat Polen und das katholische Dogma der PiS-Partei.

Über das Innere seiner Musik spricht er hingegen nicht allzu viel, sie spreche doch für sich selbst, sagt er, und lächelt wie so oft entwaffnend und ein bisschen schelmisch. Und diese Musik hat tatsächlich viel zu erzählen: Weit über einhundert Werke aus den unterschiedlichsten Gattungen, voller Anklänge und charismatischer Eigentümlichkeiten. Allein 9 Sinfonien (wie bei Beethoven) und 15 Streichquartette (wie bei Schostakowitsch) finden sich darunter. Überhaupt begleitet ihn ständig Musik, immer sind Klänge und Werke vor seinem inneren Ohr präsent, wie in Dauerschleife. Manchmal stupst ihn seine Frau, die Koryphäe der polnischen Musikwissenschaft Danuta Gwizdalanka, von der Seite an und fragt, was er gerade hört. Die Antwort kommt so schnell und selbstverständlich, als ob eine laufende Aufführung unterbrochen würde – Robert Schumanns Klavierquintett, zweiter Satz, ist es diesmal. Woher das kommt weiß er nicht, die Musik ist einfach immer da.

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Geboren wird Krzysztof Meyer 1943 in Krakau, in eine Familie voller Kammermusik. Schon als Elfjähriger wird er Privatschüler bei Stanisław Wiechowicz, bevor er mit 19 an der Krakauer Musikhochschule aufgenommen wird, unter anderem als einer der ersten Studenten in der neuen Kompositionsklasse von Krzysztof Penderecki. Auch der Ahnherr der polnischen Moderne Witold Lutosławski zählt zu seinen Lehrern und Mentoren. 1964 wird die 1. Sinfonie des damals 21-jährigen Meyer in Krakau uraufgeführt, nur ein Jahr später folgt mit seinem 1. Streichquartett sein Debüt beim Warschauer Herbst, als jüngster Komponist in der Geschichte des Festivals. Besonders prägend sind seine Aufenthalte in Paris in den 1960er Jahren, bei der legendären Nadia Boulanger, voller Inspiration und strengem Unterricht. Er berichtet davon, wie ein Kommilitone aus der Kompositionsklasse fliegt, weil er nicht spontan und auswendig das Vorspiel zum 2. Akt der Zauberflöte am Klavier spielen kann. Im Mai 1968 bricht in Paris die Revolution aus und die Stadt versinkt Wochen und Monate im Generalstreik. Krzysztof Meyer ist mittendrin und bezeichnet diese Zeit als die schönste seines Lebens, auch wenn er nun das Geld seines polnischen Stipendiums nicht mehr ausgezahlt bekommen kann, liegengebliebenes Gemüse von der Straße auflesen muss und immer wieder auf die Hilfe anderer angewiesen ist.

Gleichzeitig schreibt er an seiner Oper Cyberiada nach Stanisław Lem, ein überbordendes Werk voller Science-Fiction und Phantastik, über Roboter, die Märchen erfinden sollen, um die Melancholie einer Königin zu heilen, doch in diesen ironischen Reflexionen über die Menschheit siegen Weisheit und Wahrheit vor Technik und Fortschritt. 

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Ausschnitte und Interview über die Oper Cyberiada, Polnisches Institut Düsseldorf

Meyers Oper sprüht und glüht nur so vor Einfällen. Abends geht er auf die Pariser Barrikaden und läuft vor der Polizei davon, tagsüber schreibt er Libretto und Oper. Die Musik bleibt bei aller futuristischen Verschachtelung leicht, voller surrealem Witz. 1971 wird der 1. Akt vom polnischen Fernsehen produziert, doch die politischen Anspielungen des Werks sind unübersehbar, so dass die Zensur die weitere Produktion einstellt. 1986 gibt es in Wuppertal die erste vollständige Aufführung, in Polen sogar erst 2013, im Theater von Poznań. Meyers Liebe zu Frankreich ist geblieben, im Schwärmen nicht nur über die Revolution und die Musik zum Beispiel von Darius Milhaud und Olivier Messiaen, sondern auch über den Witz der Filme von Jean-Paul Belmondo.

Auf die kompositorische Karriere folgt die akademische. Meyer unterrichtet an seiner Alma Mater in Krakau und wird später auch Vizerektor seiner Musikhochschule. 1987 dann der Ruf an die Kölner Musikhochschule, wo er bis 2008 eine Meisterklasse für Komposition unterrichtet. Vor dem Mauerfall bekleidet er in Polen zwei der wichtigsten musikalischen Ämter seines Landes. Meyer ist Mitgestalter der Programme des Warschauer Herbstes, vierzehn Jahre lang. Als zumindest die künstlerischen Fesseln der Doktrin des sozialistischen Realismus gelockert werden, ist der Warschauer Herbst ein Fenster zur Welt, sagt Meyer, und zur neuen Avantgarde. Noch mehr gestalterisches Potential hat seine zweite Tätigkeit in dieser Ära: Von 1985 bis 1989 ist er Präsident des polnischen Komponistenverbandes, nachdem er schon fünfzehn Jahre dessen Vorstandsmitglied war. Auf die Frage nach Zensur und Restriktionen in dieser Zeit erklärt Meyer, dass gerade die zeitgenössische Instrumentalmusik, aber auch andere unkonkrete Künste wie die abstrakte Malerei überwiegend in Ruhe gelassen wurden – ganz im Gegensatz zu Oper und Theater. Das staatliche Subventionssystem zur Unterstützung von Komponistinnen und Komponisten funktionierte und ermöglichte eine institutionelle Förderung der Avantgarde und Neuen Musik, auch wenn die politischen Umstände des kalten Krieges und der sowjetischen Doktrin und Zensur an der Tagesordnung waren. Als die Jaruzelski-Regierung von 1981 bis 1983 das Kriegsrecht über Polen verhängt, um die Demokratiebestrebungen der Solidarność-Bewegung gewaltsam zu unterdrücken, reagiert Meyer kompositorisch 1982 mit seiner 6. Sinfonie darauf, der »Polnischen«. 

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Ein gigantisches und beklemmendes Werk, voller Klagegesänge und zerstörerischer Ausbrüche. In den drängenden Rhythmen und unerwarteten Schlagzeugeinwürfen des zweiten Satzes erinnert es zudem immer wieder auch an Schostakowitschs 11. Sinfonie aus dem Jahr 1956. Vordergründig hatte Schostakowitsch eine Sinfonie über den Beginn der russischen Revolution geschrieben, als der Zar 1905 auf sein eigenes Volk hatte schießen lassen, doch gleichzeitig thematisierte Schostakowitsch den ungarischen Volksaufstand von 1956 gegen die Sowjetunion, indem er ein Geflecht aus Revolutionsliedern collagenhaft einbaute und mit drastischen Mitteln jenen Schießbefehl des Zaren musikalisch illustrierte. Schostakowitschs Sinfonie schließt mit alles übertönenden, mahnenden Glockenschlägen, ähnliche Glocken als musikalisches Mittel des Nachhalls und der Erinnerung finden sich auch in Meyers Polnischer Sinfonie.

Auch als Präsident des Komponistenverbandes muss sich Meyer mit diesem Thema befassen: Nach der Aufhebung des Kriegsrechts soll es eine kulturelle Annäherung zwischen der Sowjetunion und Polen geben. Meyer wird dreimal nach Moskau zitiert, um einen Kulturaustausch zu organisieren, gemeinsam mit dem Komponistenverbandschef der Sowjetunion, dem gefürchtet einflussreichen Tichon Chrennikow, der unter Stalin die Formalisten-Jagd auf Schostakowitsch und Prokofiev eröffnet hatte. Die Verhandlungen gestalten sich wie erwartet schwierig, da die Musik für eine politische Annäherung instrumentalisiert werden soll. Zudem knüpft Chrennikow an diesen Austausch die Bedingung, dass er als Komponist ein ausgedehntes Komponistenportrait in Warschau bekommen müsse. Im Gegenzug würde Meyer natürlich auch eins bekommen, in einer noch nicht näher zu bestimmenden sowjetischen Stadt. Meyer lehnt rigoros ab. 

Foto © Mariusz Forecki

Der musikalische Widerhall all dieser Stationen und Einflüsse ist ein weit gefächerter und ein genuin freiheitlicher. Auch wenn manche von Meyers Werken konkrete politische Bezüge aufweisen, so wie die genannte Polnische Sinfonie oder auch die 8. Sinfonie aus dem Jahr 2009, die auf einen Text von Adam Zagajewski Antisemitismus reflektiert, so ist Krzysztof Meyers Musik vor allem Musik, und er wird nicht müde dies zu betonen. Die Avantgarde des Warschauer Herbstes sei zwar die Musik seiner Jugend, sagt er, doch später hätte er tiefer nach seiner eigenen musikalischen Sprache graben müssen. Und diese Musik ist durchweg von Klanglichkeit getragen. Meyer setzt zwar nicht konkret auf traditionelle Formen, aber auf deren Ideen von Proportionen und Zusammenklängen, die er für sich weiterentwickelt. »Die Zusammenklänge in meiner Musik existieren nicht für sich selbst, sondern bilden eher eine Erzählung als einen Strom von willkürlichen akustischen Reizen«, sagte er Anfang des Jahres im Interview mit dem Sikorski-Musikverlag. »Meine Musik ist weder tonal noch seriell, noch basiert sie auf anderen zeitgenössischen Techniken, sondern ist eine durch Klänge erzählte ›Geschichte‹.« Bei aller Vielfalt seiner Musik finden sich in ihr immer Expressivität und Deutlichkeit, sowie musikalischer Austausch im Sinne einer Reaktion der jeweiligen Klänge und Stimmen aufeinander. Zudem merkt man gerade in Harmonik und Rhythmik, dass es ausgerechnet Johann Sebastian Bach und Béla Bartók sind, die ihm als Komponisten nahe sind. Die Idee der Hommage oder der Stil-Komposition findet sich ebenso als Besonderheit seines Schaffens, so schreibt Meyer bereits 1977 eine D-Dur Sinfonie im Stile Mozarts.

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1983 folgt eine Hommage à Johannes Brahms und schließlich die Vervollständigung von Schostakowitschs Oper Die Spieler, für die Meyer mit Behutsamkeit und großem Wissen einen 2. und einen 3. Akt schreibt, und dabei wie etwa im Vorspiel zum 3. Akt den sarkastisch rotierenden Tonfall Schostakowitschs trifft, ohne sich selbst zu verleugnen.

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Orchesterwerke, Sonaten, sechs davon für Klavier sowie 24 Präludien, Stücke für Chor und Orchester, reine Vokalwerke und allein sechzehn Solokonzerte auch für seltenere Kombinationen wie das Doppelkonzert für Harfe und Cello oder die Musica festiva für zwei Orgeln und Orchester finden sich in seinem umfangreichen Gesamtwerk. So auch eine berührende Messe für gemischten Chor und Orchester, komponiert 1996, die mit Trost und Erhabenheit den klassischen Messetexten nachspürt. Im klanglichen Zentrum steht das Sanctus, das aber wie eine neue Welt in diese Messe hineinfährt.

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Es ist nicht jene strahlende Pracht, wie sie in vielen anderen Messen und Requiems die Herrlichkeit Gottes vorführt, dieses Sanctus erinnert vielmehr an die aufwühlende Gottesfurcht Franz Schuberts, wie im zerreißenden Sanctus von Schuberts Es-Dur-Messe, kombiniert mit Anleihen aus Carl Nielsens 4. Sinfonie, die den Titel »Das Unauslöschliche« trägt.

Und dann die besagten 15 Streichquartette: Viele von ihnen spielen mit den Kombinationsmöglichkeiten der vier beteiligten Instrumente, so wird das 5. Streichquartett etwa eine Art von fünfsätziger Sinfonia Concertante für Streicher und Solo-Cello, wobei es im Austausch zwischen den Instrumenten von einer großen Zärtlichkeit getragen ist.

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Oder das 12. Streichquartett: Seine neun immer wieder auch solistischen Sätze erzählen von einem Ringen mit der Welt und der Einsamkeit in ihr. Dieses Quartett rüttelt harmonisch und rhythmisch an seinen Grenzen, ohne hier verloren zu gehen, es kehrt sich nach innen und richtet den Blick auf den Nachhall dieser Eindrücke, stets mit Trost und harmonischer Basis. Der letzte, mit »Appassionato« überschriebene Satz nimmt uns mit seinen Trillern aus der Zeit heraus, er löst die Grenzen zwischen innerer und äußerer Welt auf.

Das 15. und letzte Streichquartett bietet einen ähnlichen Ansatz mit einem Wechselspiel aus langsamen, innigen Folgen und eruptiven Ausbrüchen, mit dem letzten Satz,  estatico, als Quintessenz. Ein grandioser dissonanter Choral erhebt sich wie ein Epilog auf diese Gattung, der an Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan erinnert: »Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.« Meyers Musik verschwindet nach diesem Choral mit einer leisen Kadenz im Nichts. Es ist ein Abschied mit einem Lächeln, so als ob die Musik »danke für Ihre Aufmerksamkeit« sagen würde.

Eine neue Oper wird diesem Katalog noch hinzukommen, an der Krzysztof Meyer gerade arbeitet. Am 13. Oktober wird sie in Warschau uraufgeführt werden, drei Akte habe sie, doch vielmehr verrät er hierüber nicht, sagt er, mal wieder, und lächelt. Als wir uns in Altenkirchen verabschieden, winkt er noch kurz strahlend an der offenen Tür, dann verschwindet er summend im Haus. Wahrscheinlich ist es wieder Schumann. ¶

... studierte Musikwissenschaft, Germanistik und französische Romanistik in Köln und Paris. Er ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Musik und Musikwissenschaft der TU Dortmund, sowie Lehrbeauftragter im Arbeitsbereich der Phänomenologie der Musik an der Universität Witten/Herdecke. Einige seiner aktuellen Schwerpunkte sind die Interpretations- und Dirigent:innenforschung, die Erinnerungskultur, sowie die auswärtige Kulturpolitik.