Im Laufe seiner langen Karriere hat Riccardo Muti (81) Spitzenorchester und große Opernhäuser geleitet; vor etwa zehn Jahren ging für kurze Zeit sogar das Gerücht um, er könne Italiens nächster Staatspräsident werden. Seit 2010 ist er Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra (CSO). 

Mutis grimmiger Blick ist so imposant wie inspirierend – er ist ein italienischer Dirigent wie aus dem Bilderbuch, nur mit vollerem Haar als Arturo Toscanini oder Victor de Sabata. Die schwarze Liszt’sche Mähne ist nach 55 Jahren im Dienst etwas ergraut (schon mit 26 wurde Muti Chefdirigent in Florenz), aber er bleibt sowohl am Pult als auch im persönlichen Gespräch eine beeindruckende Erscheinung (obwohl er seine Ernsthaftigkeit mit Humor würzt). Muti erzählt gerne Witze, hat dabei ein gutes Timing und unterstreicht sie mit einem breiten Grinsen und Lachen. Im Englischen verwendet er außerdem eine Kurzform für »etcetera, etcetera, etcetera«, die wie »chettera, chettera« klingt.

Für einen Künstler, den man gedanklich so sehr in Italien verortet, hat Muti viel Zeit in den Vereinigten Staaten verbracht – er ist einer der wenigen Dirigenten, die zwei der dortigen Big Five-Orchester geleitet haben. Opern hat er in den USA deutlich weniger dirigiert: lediglich sieben Aufführungen von Attila an der Metropolitan Opera. Mit einer Tournee verabschiedet Muti sich im Frühjahr als Chefdirigent des CSO – unter anderem mit Opernrepertoire.
Ich treffe ihn hinter der Bühne eines neuen Konzertsaals in Orlando, Florida, während eines Probentages. Am Abend dirigiert er Mussorgskys Bilder einer Ausstellung, das er mit dem CSO auch bei der Eröffnungsgala der Carnegie Hall im Oktober spielen wird.

VAN: Was ist der Unterschied zwischen Konzerten in den Metropolen und Auftritten auf Tournee in den USA? 

Riccardo Muti: Auch damals beim Philadelphia Orchestra [1980 bis 1992] fand ich die USA-Tourneen immer sehr interessant. Ich bin diese großen Säle gewöhnt: die Berliner Philharmonie, den Wiener Musikverein, aber in den kleineren Städten ist das Publikum noch mehr dabei – es gibt diese Dankbarkeit, nicht gegenüber dem Dirigenten, sondern dafür, ›dass Sie hergekommen sind‹. Das ist eine Facette Amerikas, des amerikanischen Publikums, die in der Welt bekannter sein sollte. 

Ich war – dank des Philadelphia und des Chicago Symphony Orchestra – in Wichita, Des Moines, Ames, Toledo… Für mich bedeutet Musikmachen nicht, dass ich in Salzburg dirigiere und dort versuche, mein Bestes zu geben. Denn immer, wenn man versucht, sein Bestes zu geben, wird es ein Desaster. Alles wird dann so maniriert, übertrieben, chettera, chettera. 

Und manchmal ist einem eigentlich gar nicht nach Dirigieren, und deswegen ist man eher in dieser Art passiven Zustand, und dann ist das Konzert nicht nur gut – es ist besser. Was für mich also keine Rolle spielt, ist das ›Wo‹: die große Stadt, der große Saal, der geschichtsträchtige Ort. Das habe ich alles schon oft genug gemacht. Aber wenn ich an diese Orte komme, dann treffe ich die echten Menschen. Und aus diesem Grund reise ich sehr gerne herum in Amerika.

In Europa ist das anders. Wenn man da in kleineren Städten spielt wie Karlsruhe oder Wuppertal, ist da immer die Art von anspruchsvollem Publikum, das einem zeigen will, dass man hier mehr weiß als in Wien, gerade weil die Stadt kleiner und unwichtiger ist. Das hat man hier nicht. Hier freut man sich einfach, dass wir da sind. 

In den USA dirigieren Sie vor allem Konzerte, in Europa haben Sie sich auch als Opern-Dirigent einen Namen gemacht. Auf dem Programm Ihrer ›Abschiedstour‹ steht in erster Linie symphonisches Repertoire – aber die Zugabe kommt aus der Oper. Warum?

Oper ist sehr wichtig. Warum sind die Wiener Philharmoniker so ein besonderes Orchester? Weil sie täglich symphonische Musik spielen. Aber auch täglich Opernrepertoire. Wenn ein Orchester Oper spielt, muss es ganz natürlicher Weise singen.

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Die Zugabe, das Intermezzo aus Fedora, hat eine tolle Melodie. Aber das Werk ist eher eine leichte, man könnte fast sagen: triviale Oper. Sie haben Giordano fast wie Wagner klingen lassen – und mir ist aufgefallen, dass es das einzige Stück in der Probe war, bei dem Sie aufgestanden sind. 

So sollte italienische Oper immer klingen. Italienische Oper – das ist gute Musik, Fedora ist gute Musik. Giordano war aus derselben Gegend wie ich, aus Süditalien, und er wird viel zu oft zu Unrecht abgetan, was die Schuld von faulen Sängerinnen und Sängern und faulen Dirigentinnen und Dirigenten ist. Es ist mir immer sehr wichtig, dass man diese Komponisten, vor allem Verdi, so hört, wie sie gehört werden sollten.

Sie verfolgte lange der Ruf, ein strenger und unnachgiebiger Verdi-Dirigent zu sein. Aber wenn man Sie hier und in Chicago dirigieren sieht, scheinen Sie richtig Spaß zu haben?

Vielleicht war es mir damals wichtig, meinen Verdi zu zeigen und durchzusetzen. Und außerdem war ich da noch jünger. Deswegen hatte ich die Attitüde eines italienischen Maestros der Toscanini-Schule … Aber diese Haltung folgte keinem besonderen Plan. Das entsprach einfach meinem Gefühl zu der Zeit, als Reaktion auf Sachen, die ich gehört habe. Hier muss ich nichts mehr beweisen. Wie Otello sagt: ›Ecco la fine del mio cammin‹ – hier ist das Ende meiner Reise. Alles, was ich machen wollte, habe ich gemacht, nicht nur mit dem Orchester, auch mit mir selbst.

Zu diesen Musikerinnen und Musikern bin ich also wie ein Vater oder ein älterer Bruder. Mit Ausnahme des ersten Posaunisten, Jay Friedman. Er ist legendär, Fritz Reiner hat ihn eingestellt.

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Das CSO ist berühmt für seine Bläsersektion. Was macht sie so besonders?

Ich glaube, ich habe hier tatsächlich das Verhältnis – die Balance – von Blech, Holz und Streichern verändert. Vorher, als ich noch in Europa gearbeitet habe, war ich dieses ›Chicago Brass hier, Chicago Brass da‹ leid. Okay, sie sind außergewöhnlich, klar. Aber was ist mit den anderen? Auf eine Art hat da was nicht gestimmt, weil die Holzbläser gut waren, aber nicht großartig, außer ein paar – ein paar – einzelnen. Die Streicher klangen ein bisschen zu grell. Nur ein kleines bisschen. Jetzt singen sie. Und das liegt vor allem an den italienischen Opern, die wir gemacht haben: Otello, Aida

Wenn ich vom Blech verlange, so zu spielen wie in Tschaikowskys Manfred-Sinfonie, können sie das natürlich noch immer. Aber jetzt ist es im ganzen Orchester besser ausbalanciert: mit viel besseren Streichern, wirklich schön, und einer einzigartigen Gruppe von Holzbläsern. Die Choräle im Holz, wenn sie zusammen spielen wie eine Orgel, das ist wirklich eine Ausnahmeerscheinung.

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Seit mehr als 50 Jahren sind Sie für Gastdirigate immer wieder in Wien, aber in Philadelphia waren Sie fast 20 Jahre lang nicht mehr. Und Sie waren die ganze Zeit in Chicago, also nur 1200 Kilometer entfernt. Warum sind Sie nicht mal nach Philadelphia gekommen? 

Ich komme nächstes Jahr, für Verdis Requiem

Gab es da kein böses Blut? Ihr Weggang aus Philadelphia kam ziemlich plötzlich, überraschend. 

Nein, es gibt keinen bestimmten Grund dafür, dass ich noch nicht wieder in Philadelphia war – außer meiner Loyalität zu dem Orchester hier. [Er zeigt auf die Tür, hinter der das CSO probt] Als ich beim Philadelphia Orchestra war, habe ich auch nur dieses Orchester dirigiert in den USA. So ist es jetzt auch hier, nur mit dem Chicago Symphony Orchestra. Wenn ich eine zusätzliche freie Woche kriege, warum sollte ich die mit wem anders verbringen? 

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Ihr letztes Verdi Requiem in den Staaten haben Sie 2002 mit dem New York Philharmonic gegeben. Die haben Sie Ihre eigene Auswahl an All-Star Sängern wählen lassen und wollten Sie gerne zum Chefdirigenten machen. Warum wollten Sie nicht Chef des New York Philharmonic werden? 

Natürlich wollte ich das. Ich habe das New York Philharmonic geliebt und sie haben mich geliebt. Und ich liebe sie noch und behalte die Konzerte, die wir zusammen gemacht haben, in bester Erinnerung. Aber nach 20 Jahren an der Scala, mit all den Problemen, die das mit sich bringt …  Auch die Beziehung zum Orchester dort war 20 Jahre lang großartig – aber die Politik in Italien ist … Naja, das ist ja nichts Neues. 

Deswegen fand ich: ›Das reicht. Basta. Ich möchte frei sein. Ich habe es geschafft, dieses Haus 20 Jahre lang zu führen, aber jetzt möchte ich frei sein, mal zurück nach Wien oder München, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks dirigieren und das Orchestre National de France …‹

Aber … aber … [er holt tief Luft] ich war kurz davor, den Vertrag zu unterzeichnen.

Wirklich? Mit New York? 

Ja, Zarin Mehta [Geschäftsführender Direktor des New York Philharmonic zwischen 2000 und 2012] ist mit dem Vertrag nach Paris gekommen. Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Verantwortung übernehmen sollte. Wissen Sie, Chefdirigent zu sein – das ist heute was anderes als damals. Heute ist man als Chefdirigent eher erster Gastdirigent, man dirigiert mehr Konzerte als die anderen, das ist der einzige Unterschied. Aber ein echter Chefdirigent muss sich wirklich einbringen, und zwar nicht nur musikalisch. Die Musiker müssen das Gefühl haben, dass sie an deine Tür klopfen und sagen können: ›Maestro, wir haben dieses und jenes Problem.‹ Und da geht’s eben nicht nur um Musik. Sowas macht ein Chefdirigent. Wenn man das nicht macht, was soll dann der Beruf? Nur zu sagen: ›Das ist zu hoch. Das ist zu tief. Obbligato?‹ Das ist Unsinn. Heute ändert sich das aber. Die Welt verändert sich. Und jetzt haben Dirigenten zwei Orchester und leiten ein Haus? Oder drei Häuser und ein Orchester? Das ist … Naja, ich will nicht sagen, dass das unmoralisch ist. Aber Kunst macht man so sicherlich nicht. In dieser Hinsicht bin ich ein Chefdirigent der Alten Schule.

Riccardo Muti auf seiner Abschiedstournee mit dem Chicago Symphony Orchestra • Foto © Chicago Symphony Orchestra

Ein Chefdirigent der Alten Schule – kann man das in den USA denn heute noch sein? Oder in Europa? Oder auch woanders? 

Der Generalmusikdirektor in Deutschland oder Österreich, vor allem aber in Deutschland, hat mehr Einfluss. In Amerika haben Sie den Vorstand. Den Präsidenten. Den Vorsitzenden. Den Vizepräsidenten. Den dies. Den das. Chettera, chettera. Zu Toscaninis Zeiten hatte man Toscanini, fertig! Der hat immer gesagt: ›Ein richtiger Chefdirigent ist jemand, der morgens als erster da ist und abends als letzter geht.‹ Aber das gehört der Vergangenheit an.

Werden Sie nach Ihrer Zeit hier in Chicago nochmal irgendwo als Chefdirigent anfangen? 

Nein, aber bevor ich in Philadelphia dirigiere, will ich nach Sarajevo – das ist wichtig. 

Warum Sarajevo?

Ich mache seit langer Zeit jedes Jahr die Roads of Friendship-Konzerte. Das erste war vor vielen Jahren in Sarajevo. Wir sind mit dem Orchester der Scala in einem Militärflugzeug angereist, eine normale Maschine hätte nicht landen können, weil die Stadt zerbombt war. Das erste, was sie dort brauchten, war Musik. Der Krieg war wirklich grausam. Und sie haben dieses Stadion organisiert, in das 9.000 Menschen rein konnten, und ich habe Musiker aus Sarajevo eingeladen, mit denen der Scala zu spielen. Wir haben ihnen auch Instrumente gegeben, weil so viele den Bombenangriffen zum Opfer gefallen waren. In der zweiten Oktoberwoche werde ich jetzt zurückkehren nach Sarajevo. Das Orchester dort feiert sein hundertjähriges Bestehen. Zu diesem großen Jubiläum werde ich hinfahren und das Konzert dirigieren. 

Das ist mir wichtig. In meinem Alter muss ich nicht mehr Erfolge feiern. Aber auch als ich jünger war, war Musik für mich… Zu sagen, dass es eine Berufung ist, wäre zu arrogant. [Mit stolzgeschwellter Brust] ›Eine Berufung.‹ Nein, ich bin kein Missionar. Aber mein Glaube ist tief und in meinem Land habe ich jahrzehntelang mit Regierungen oder allen anderen gekämpft, die der Musik im Wege standen. Die Wichtigkeit der Musik liegt nicht darin, dass sie rhetorisch als Phrase funktioniert, sondern in der Musik an sich.

Musik ist wichtig, weil es in ihr keine Worte gibt. Darum kann sie auch keine politische Aussage transportieren. Aber sie kann für politische Zwecke genutzt werden. Wie Beethovens Fünfte in der Nazizeit. Anstatt sie im Stile Beethovens zu spielen – Dum-Dum-Dum, Dom…–, wurde sie zu Dum…… Dum…… Dum……… Dom … um die Menschen mit der eigenen Macht zu beeindrucken. Sie wurde benutzt, auf falsche Weise. Der arme Bruckner, der ein gläubiger Mann war, auch seine Musik wurde zu politischen Zwecken instrumentalisiert. Aber grundsätzlich hat Musik keine politische Aussage, eher eine spirituelle.

Kann Dirigieren sich wegbewegen vom Diktatorischen und mehr hin zu Inspiration? 

Ich hoffe es, aber ich werde es wahrscheinlich nicht erleben, denn, wie ich schon mit Otello sagte, ›hier ist das Ende meiner Reise‹. Vielleicht erlebe ich es also nicht mehr, aber ich glaube, dass sich eines Tages das Verhältnis zwischen Publikum, Dirigentin oder Dirigent und Orchester ändern wird und muss. Wir ziehen uns an wie Pinguine, und dann gehen wir raus und spielen. Eine Art von Wechselbeziehung vor dem Konzert, mehr Beteiligung, von Interpreten und Publikum, Erläuterungen – aber nicht wie ein Professor … Die Aufführung muss viel menschlicher sein. Ein Konzert, das bin nicht nur ich, eine Einbahnstraße. Nein, ein Konzert, das bedeutet: Wir sind zusammen. ¶