Inszenierungen der Oper Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss gleichen oft der Frage: Wie kommt man aus der Nummer heraus? Aus diesem angeblich so unverständlichen Plot zweier Ehepaare (Kaiser/Kaiserin, Barak/Färberin), die eine Zerreißprobe ihrer Beziehung durchleben. Aus diesem mit seltsamen und schwer darstellbaren Symbolen – dem nicht vorhandenen Schatten der Kaiserin –  angereicherten Märchen aus Geisterreich und Menschentum. Aus dieser Feier des neuen Menschen durch die endlich erreichte Fähigkeit zur Mutterschaft. Schon der Librettist Hugo von Hofmannsthal wusste, dass es »ohne Einführung in die Dichtung« wohl nicht gehe, wie er dem Komponisten einmal schrieb. Gegen diese Dichtung zu opponieren, gehört längst zum guten Ton: ihr humanistisches Weltbild, das auf Goethes Maxime von der Selbstüberwindung fußt, ist auf dem Weg ins 21. Jahrhundert abhandengekommen, ihre Sprache ist zumindest gewöhnungsbedürftig und außerdem überraschend »unmusikalisch«, also nur schwer zu vertonen. Was Strauss aber daraus macht, das ist das eigentliche Märchen der Frau ohne Schatten. Erneut bestätigt hat sich dies jetzt bei den Osterfestspielen in Baden-Baden mit den Berliner Philharmonikern und ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko, der mit diesem Werk schon 2013 seinen Einstand an der Bayerischen Staatsoper gegeben hatte.

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Was das Publikum szenisch erwartet, bringt die Regisseurin Lydia Steier selbst in einem Interview auf den Punkt: »Ich bin Amerikanerin, ich glaube fest an Entertainment.« Dafür steht eine gigantische Bühnentechnik aus verschiebbaren Wänden, Türmen, komplizierter Verschachtelung der Spielebenen auf der Drehbühne, aus geräuschlos fahrbaren Elementen wie Show-Treppe, lebensgroßem Marienaltar oder kahnartigen Särgen (Bühnenbild: Paul Zoller). Von oben schwebt eine knallrote Trapezkünstlerin als Stellvertreterin des Falken (Susanne Kahl) in einen Nachtclub, von unten steigt der Kaiser aus dem dampfenden Lebenswasser. Dazu eine Heerschar an Statisten und Chören aus dem Off, außerdem aufwändigstes Lichtdesign (Elana Siberski), Video (Momme Hinrichs) und Choreographie, mal A Chorus Line, mal Disneyland mit Luftballons (Tabatha McFadyen).

Susanne Kahl und Vivien Hartert • Foto © Monika Rittershaus

Ständig ist High Life auf der Bühne, ein Gewusel und Gewese, oft nur als Textverdoppelung, wenn etwa im ersten Akt von den bald zu erwartenden Menschen die Rede ist und das Video prekäre Arbeitermassen herbeizoomt. Oder auch als Rückblende, wenn eine weiße Gazelle mit falschem Hirschgeweih (Emmanuelle Rizzo) den Kaiser umtänzelt bei seiner Erzählung, wie er seine Ehefrau, die Kaiserin, als Tierleib erbeutete, aus dem sich »ein Weib rankte«.

Emmanuelle Rizzo, Vivien Hartert und Clay Hilley • Foto © Martin Sigmund

Jetzt will er wieder zur Jagd – und verabschiedet sich dafür in Frack und Zylinder? Ach ja, bei Lydia Steier ist dieser Kaiser Fred Astaire, nur an Gewicht hat er über die Jahre zugelegt. Und die Kaiserin? Die Show-Treppe herabsteigend Ginger Rogers mit flauschig weißen Puffärmeln am eleganten Kleid (Kostüme: Katharina Schlipf). Als Sängerpaar aber erlangten Clay Hilley und Elza van den Heever im Verlauf der drei Akte imperiale Stimmherrschaft: Die aus Südafrika stammende Sopranistin wie eine Inkorporation der Idee von Hofmannsthal: »Immer geht ein geistiges Licht von ihr aus, und die Punkte auf ihrem Wege zum Menschentum sind wie mit leuchtenden Feuern bezeichnet.«

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Strauss überträgt diese Punkte in eine mörderische Gesangspartie aus extremen Intervallsprüngen, die so bruchlos zu meistern höchster Kunst bedürfen, zumal in dieser kristallinen Klarheit. Der amerikanische Tenor Hilley wurde von Akt zu Akt freier, sang sich buchstäblich aus seiner Versteinerung heraus in eine Männlichkeit jenseits der Jagd, in die Liebe (in dieser Oper ist sie auch Voraussetzung für die Vaterschaft).

Elza van den Heever, Clay Hilley und Vivien Hartert • Foto © Monika Rittershaus

Die visuelle Überflutung steht zugleich für ein gigantisches Missverständnis der Oper. Sie nur als hohes Lied auf Ehe und Gebären im patriarchalen Selbsterhaltungs-System zu deuten, griffe zu kurz. Hofmannsthal und Strauss geht es zuallererst um die Menschwerdung, also um die Voraussetzung zu Ehe, Nachwuchs und Schatten werfender Kreativität generell. Insofern ließe sich die Frau ohne Schatten auch feministisch auslegen. Schließlich ist es die Kaiserin, die das Werk der Menschwerdung vollbringt: Sie hat – wie Parsifal – das Mitleid fühlen gelernt und kann deshalb der Färberin ihren Schatten nicht mehr abkaufen und sie damit um ihre Mutterschaft bringen. Man muss schon sehr genau lesen: Frauen sind eben nicht nur Menschen, wenn sie Mütter werden, sie müssen vielmehr erst Menschen werden, bevor sie Mütter sein können. Das hätte genug Stoff für eine Inszenierung aus weiblicher Sicht geboten, aber Lydia Steier lässt sich darauf nicht ein. Sie findet die ganze Geschichte »unreflektiert« und erfindet stattdessen eine Rahmenhandlung, die das Stück noch unbegreiflicher macht und sich im dritten Akt auch dezidiert gegen dessen Intention stellt. Damit einher geht eine Verortung im Katholizismus, die den Goethe- und Nietzsche-Verehrer Strauss, der sich selbst einen griechischen Germanen nannte, sich vermutlich im Grabe umdrehen lässt. Ausgerechnet die Amme, ein weiblicher Mephisto aus der Geisterwelt und eine Menschenhasserin vor dem Herrn, wird zur Nonne und Nachtschwester in einem klösterlichen Mädchenheim.

Miina-Liisa Värelä und Kinderchor • Foto © Martin Sigmund

Michaela Schuster mit männlichem Kurzhaarschnitt über ihrer Kutte ist eine gewiefte Darstellerin, die ihre leichten Stimmprobleme teuflisch gut überspielt. Wir blicken in den Schlafsaal des Klosters, und mit den ersten martialischen Orchesterakkorden schreckt ein junges Mädchen aus ihrem Bett auf. Von nun an wird es die Bühne nicht mehr verlassen und dem Publikum suggerieren, es handele sich ausschließlich um seine eigene Geschichte. Zuerst denkt man, die Kleine leide an ihrer ersten Menstruation, später fürchtet man, sie könne innerhalb der nächsten zehn Minuten niederkommen. Im Programmbuch erfährt man, dass sie ihr Kind verloren hat. Der stummen Vivien Hartert gehört Steiers uneingeschränkte Aufmerksamkeit, ihre Unterleibsschmerzen bilden die Gefühlsbasis dieser Produktion und damit ein unangemessenes Ablenkungsmanöver.

Michaela Schuster und Vivien Hartert • Foto © Martin Sigmund

Auch lässt sich die Regisseurin manch wahrlich komische, wie aus dem Leben gegriffene Szene entgehen, etwa im zweiten Akt zwischen Barak und seiner Frau. Wolfgang Koch, in dieser Rolle seit Jahren verwurzelt, gestaltet ihn mit väterlicher Geduld, während Miina-Liisa Värelä, dramatisch-leuchtender Sopran im Putzkittel, vor Ungeduld fast platzt. Die Färberin will ihrem Mann ein paar Worte der Achtung abtrotzen. Und Barak? Hat Probleme mit seinem Mörser. Wie gut hätte man diese Szene in ein Kabinettstück ehelicher (Nicht)Kommunikation verwandeln können! Psychologisch absolut plausibel und mit Humor dazu. Nichts dergleichen bei Lydia Steier. Im dritten Akt verliert sie das Färberpaar völlig aus den Augen. Eigentlich sitzt es getrennt voneinander in zwei unterirdischen Kammern, kann sich weder hören noch sehen. Steier verfrachtet es kurzerhand in das zur Entbindungsstation umfunktionierte klösterliche Schlafzimmer, wo es dann unfreiwillig komisch wird, wenn die Färberin ihren Mann, als wäre er meilenweit entfernt, ansingt: »Oh, dass du mich hörtest!« Der Unwahrscheinlichkeiten ist kein Ende.

Miina-Liisa Värelä und Wolfgang Koch • Foto © Martin Sigmund

Die Färberwerkstatt dient der Regisseurin als Verkaufsstelle konfektionierter Babys. In rosa ausgekachelten Kabinen werden sie manuell gefertigt und in rosafarbenen Schaukästen ausgestellt, so dass sich die vorbeikommenden glücklichen Paare jeweils ihr passendes Puppenkind aussuchen und in Plastik verpackt nach Hause mitnehmen können. Noch misslicher wird es im Finale des dritten Akts, wenn Steier ein verbreitetes Deutungsmuster wiederholt: die Oper, 1919 in Wien uraufgeführt, diene nur dem Zweck, die Produktion neuer Menschen für den Krieg zu rechtfertigen. Abgesehen davon, dass die Arbeit an dieser Oper vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann, verabscheute Strauss auch den Hurra-Patriotismus jener Zeit. Steier aber setzt der orchestralen Verklärung in C-Dur im Graben Tod und Verwesung auf der Bühne entgegen. Schwarze Gestalten, die Schatten der Unterwelt, ziehen Leichensäcke herum. Die Ehepaare, musikalisch ein Quartett, stehen in größtem Abstand voneinander rechts und links am Bühnenrand. Über die verbrannte Erde geht ein Ascheregen nieder. Und das Mädchen aus dem Kloster wühlt wie ein tollwütiger Hund im Sand – ein Fall für die Psychiatrie. Das hatte Strauss in der Elektra ja schon abgehandelt.

Vivien Hartert • Foto © Martin Sigmund

Der Elektra-Sound aber bringt das Baden-Badener Festspielhaus immer wieder ins Zittern, am apokalyptischen Ende des zweiten oder bei der Verdammnis der Amme im dritten Akt, wo sich die Berliner Philharmoniker als Zertrümmer-Maschine formieren. Das Märchenhafte der Frau ohne Schatten aber liegt zwischen diesen Klang-Eskalationen, wobei die Philharmoniker selbst zu Färbern ihres Instruments werden: im Piano des süffig-weichen Blechs, im Solo-Cello als Leitinstrument des Kaisers, mit zeichnerischen Höhungen in Oboe und Klarinette. Kaum zu fassen, wie Strauss nach den Katastrophen weitermacht – mit einer Glasharfe, nachdem die Versteinerung des Kaisers in einer orchestralen Geröllhalde zerbricht. Mit Parsifal-Anklängen und einer seligen Sologeige nach dem Fall der Amme. Ist von »Geheimnis« die Rede, das die Kaiserin nicht versteht, malt es ihr das Orchester aus, ja, sogar in ein Fragezeichen scheinen sich die Philharmoniker zu verwandeln, wenn die Färberin der Mutterschaft abschwört. Und wie Petrenko all diese Farben zu einem glitzernden Kolossalgemälde mischt, wie er größte Diskretion und Rücksichtnahme auf das Gesangsensemble mit orchestralen Höllenfahrten verbindet, wie er die Zeit beim Falkenruf erst anhält und bei den Worten, »der Kaiser muss versteinen« außer Kraft setzt, wie er die Harfe aufwallen und die Holzbläser sich umschlingen lässt und noch den  Nachtwächtern im Chor des Nationalen Musikforums Wroclaw einen Wagner-Hymnus entlockt – das macht diesen Abend festspielwürdig. ¶

… stammt aus einem Musikerhaus in Baden-Baden, studierte in Freiburg und Berlin Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Romanistik. Zehn Jahre hatte sie ihren Lebensmittelpunkt in Frankfurt a.M., bevor sie als Redakteurin, Produzentin und Konzertveranstalterin an den SWR nach Baden-Baden zurückkehrte. Daneben leitete sie die Bachwoche in Ansbach und die Badenweiler Musiktage. Sie ist journalistisch für verschiedene Medien tätig und ist Mitglied in der Jury des Preises der Deutschen Schallplattenkritik.