Schon öfters hat sich Christian Jost sagen lassen müssen, seine Musik habe Filmmusikqualität. Jeder in der Branche, ob Musiker oder Kritiker, weiß, dass solch ein Lob immer noch Restgifte enthält von alten Avantgarde-Polemiken. Filmkomponisten sollen ja angeblich ihren Beruf vorwiegend zum Geldverdienen ausüben, im Unterschied zu anderen, die angeblich vorwiegend berufen sind zu Höherem.
Jost hat aber noch nie die Musik zu einem Film geschrieben. Er ist jetzt sechzig, erfolgreich und angekommen. Hat sich durchgesetzt und eine eigene, unverwechselbare Klangsprache erarbeitet. Man könnte sie undogmatisch-polystilistisch nennen: Er verwendet freie und alte Skalen neben tonaler Harmonik, er führt Jazzdrive mit kleinteiligen Minimalismen zusammen, schafft mit irisierend instrumentierten Klangflächen Raum und Atmosphäre, greift mit Gesanglichkeit und einprägsam starken Rhythmen direkt ins Sonnengeflecht. Jost schrieb etliche Solokonzerte, auch Symphonisches, Kammermusiken und zehn Bühnenstücke.
Meist handelt es sich dabei um sogenannte »Literatur«-Opern nach Romanvorlagen. Für seine jüngste abendfüllende Oper adaptierte Jost jetzt erstmals einen Filmstoff. Und das war nicht mal seine eigene Idee, vielmehr die des Auftragsgebers Aviel Cahn, dem Intendanten des Grand Théâtre de Genève. Als Cahn ihm vorschlug, Voyage vers l’Espoir zu veropern, einen politischen Film von Xavier Koller, der damit 1991 für die Schweiz einen Oscar gewonnen hatte, musste Jost sich diesen Film erst mal angucken. Er kannte ihn nicht.
Voyage vers l’Espoir – zu deutsch: Reise der Hoffnung – beruht auf einer wahren Begebenheit, die damals in der Zeitung stand. Es geht um eine kurdische Flüchtlingsfamilie aus Anatolien: Vater, Mutter, Kind. Sie verlassen ihre Heimat, um mit Umweg über Italien in der Schweiz bessere Lebensbedingungen zu suchen. Sie treffen unterwegs auf freundliche, gleichgültige und kriminelle Mitmenschen. Von Schleppern im Stich gelassen, scheitert ihr letzter Versuch, den Splügenpass zu bewältigen, im Schneesturm, mitten im Winter. Der kleine Ali, sieben Jahre alt, erfriert in 2.114 Meter Höhe. Kein Unfall. Ein Opfer. Sicher hat niemand diesen Tod gewollt, doch viele haben dazu beigetragen.

Unter ähnlichen Umständen sterben zur Zeit, Monat für Monat, Kinder im Mittelmeer. Sie ertrinken, ohne dass die Medien überhaupt noch groß Notiz von dieser Katastrophe nehmen. Nur private Seenot-Rettungsdienste wie Sea-Watch protestieren regelmäßig. Zuletzt kenterte am 26. März ein Flüchtlingsboot vor der tunesischen Küste, dabei starben neunundzwanzig Menschen, darunter fünf Kleinkinder. Es handelt sich um amtlich verordnete unterlassene Hilfeleistung. Dabei geht es um den Schutz reicher Länder vor Bewohnern der armen.
Kollers Film ist eine Legende in der Schweiz, schon über dreißig Jahre alt. Aber das aktuelle Thema der Flüchtlings-Kindsopfer ist deshalb nicht vom Tisch. Jost stellt es erneut zur Diskussion, mit Verweis auf die Antike und mit der Wucht musikalischer Empathie. Das knappe Libretto dazu hat Kata Wéber verfasst, die Partitur ist dramatisch, sinnlich, tonmalerisch und zugleich schnörkellos. Das Stück gliedert sich klar in drei Teile, mit markanten Tempo- und Klangfarbenwechseln und fließend verbunden durch Intermezzi. Dabei gibt es nur wenige Ensemble-Nummern im klassischen Sinn, sie leuchten wie emotionale Brennpunkte aus dem dicht gefügten Parlando hervor. Etwa: Das ergreifende Terzett mit der hilfsbereiten Notärztin und der Botschaft »Ça va passer« – »Alles wird gut«, als das Kind zum ersten Mal erschöpft zusammenbricht, auf dem Mailänder Bahnhof.

Beste Kräfte waren am Werk bei der coronabedingt verspäteten Uraufführung in Genf. Sie fand zwei Tage nach dem erwähnten Bootsunfall statt, am 28. März. Gabriel Feltz dirigierte das auch solistisch perfekt agierende, mit Schlagzeug und Vibraphon angereicherte Orchestre de la Suisse Romande. Die beiden Hauptrollen – die widerstrebende Mutter, der aktive Vater – in ihrem Konflikt, ihrer Sorge, ihrer ohnmächtigen Verzweiflung, wurden beeindruckend interpretiert von Rihab Chaieb (Mezzosopran) und Kartal Karagedik (Bariton). Auch das Kind, bei der Premiere verkörpert von Knabensopran Ulysse Liechti, sang brillant und intonationssicher. Eine hell leuchtende Engelsstimme, die Gänsehaut macht. Kurz vor Schluss hat das Kind ein kurzes Solo. Wie es sich zurückwünscht nach Hause und fantasiert vom unerreichbaren »Paradies«, allein hoch oben auf dem Gipfel des werbefilmdekorativen Pappmaché-Bergmassivs, während Schnee aus dem Schnürboden rieselt und zärtlich gestopfte Trompetenklänge aus dem Graben aufsteigen: Das ist so surreal und so wahr, so schlimm und schön, wie das wohl nur momentweise und nur im Gesamtkunstwerk Oper möglich ist.
Die Regie war dem ungarischen Filmemacher Kornél Mundruczó anvertraut worden. Er arbeitet doppelt und dreifach mit filmischen Mitteln: mit Zitaten einerseits, mit vorproduzierten, aber auch live aufgenommenen Videos andererseits. Gleich im ersten Bild, in dem Ali mit seinen Geschwistern daheim im Maisfeld spielt, am Rande der Bahngleise, wo er eine Mutprobe besteht, wird eine seit Stummfilmzeiten beliebte Einstellung variiert, die auch bei Koller vorkommt: Ein Zug, Ikone des Fortschritts, rast aufs Publikum zu und rollt über uns (und über Ali) hinweg. Die raffiniert rhythmisierte, in Zweiunddreißigsteln vom Orchester gehämmerte Maschinenmusik aus dem Graben wird degradiert zu einem Mickeymousing-Effekt. Merke: Viel hilft nicht immer viel. Endlose Flüchtlingsströme laufen über die mehrfach geteilte Kinoleinwand im Bühnenhintergrund, daneben vertrocknen Landschaften, stauen sich Autos, peitscht der Regen. Auf der Spielfläche davor wird die Bilderflut ergänzt vom Rampenspiel der Figuren und den spektakulär Jetztzeit suggerierenden Requisiten (Monika Pormale). Ein echter LKW kurvt auf der Drehbühne im Kreis. Ein netter Schäferhund trottet an der Leine hinter den Grenzpolizisten her. Und immer wieder laufen Kameraleute über die Bühne.

Sie filmen Mienen und Münder der Sänger ab, die dann simultan auf der Leinwand erscheinen, in Vergrößerung. Wozu soll das gut sein? Das wissen nicht mal die Videofilmer selbst zu sagen, obgleich inzwischen jede zweite Operninszenierung dieses der Filmkunst entliehene Regie-Tool anwendet. So alltäglich ist die Filmerei auf der Bühne mittlerweile geworden, dass man die schwarzen Kameramännlein kaum mehr beachtet. Sicher, das Publikum braucht heutzutage keinen Operngucker mehr. Aber dafür wird es bevormundet und mit Bilderfluten zugedröhnt.

An dieser Stelle ist ein kurzer Rückblick fällig. Gerard Mortier, der vor gut dreißig Jahren federführend mit dabei war, als die Mode der Literaturoper durch die Mode der Filmoper ersetzt wurde, hatte schon früh bemerkt, dass das Kino die Oper killt. Oper und Film seien, schrieb er, zwei sehr unterschiedliche Kunstformen – »und bleiben es, auch wenn das Kino sich der Funktionen bemächtigt hat, die zuvor von der Oper erfüllt worden sind«. Das betrifft zum Beispiel den Umgang mit »Tempo und Rhythmus«, die »Imitation der Wirklichkeit«, die »Domäne des Spektakulären« und das unmittelbare »Wechselspiel mit dem Publikum, das es im Kino nicht gibt«. Mortier hielt viel von dem, was er eine »Dramaturgie der Leidenschaft« nannte. Er liebte die Poesie der vierstündigen Videoinstallation, die Bill Viola schuf für die von Peter Sellars besorgte Pariser Inszenierung von Tristan und Isolde. Er hielt wenig vom Spekulieren auf Prominenz und Glamour, und war skeptisch in Bezug auf die Vermutung, man könne mit Videos den Zuwachs eines jungen Publikums anlocken, das mit den Augen hört.
Eine der ersten Opern, die flächendeckend filmische Mittel einsetzte, war Louis Andriessens Rosa – eine Pferdeoper (1994), inszeniert von Peter Greenaway. Seither breitet sich das so selbstverständlich aus wie Gartenmelde. Teils sind es gestandene Filmregisseure, die Opern aufmöbeln. Teils werden neue Opern geschrieben nach Filmstoffen. In Genf kam diesmal beides zusammen. Zugespitzt muss man sagen: Die allzu videoverliebte Lesart Mundruczós verwandelte das Flüchtlingsdrama in eine Soap-Opera und surfte an der Musik von Jost vorbei. Was die kann, wird man sehen, in Folgeinszenierungen.
Nur: Das kann dauern. Fünf Aufführungen hat Christian Josts Reise der Hoffnung am Genfer Opernhaus bislang erlebt, bei voller Auslastung also knapp 8.000 Menschen erreicht. Möglich, dass es dabei bleibt, und dass diese Produktion beim ursprünglich eingeplanten Koproduktionspartner, dem Badischen Staatstheater in Karlsruhe, vorerst nicht ankommen wird. Kurz vor der Premiere hatte Filmregisseur Koller nämlich einen Rechtsstreit vom Zaun gebrochen. Er wünscht sich Änderungen und macht diesbezüglich noch einmal neu Urheberrechte an Stoff und Titel geltend. Zwar hatte er besagte fünf Aufführungen genehmigt, aber keine davon gehört oder gesehen. Der Genfer Intendant Cahn sagt: Noch ist nicht geklärt, wie der Streit ausgeht. ¶