Ganz am nördlichen Zipfel von Texas – in Denton – wurde Julia Frances Smith am 25. Januar 1905 geboren. Beide Eltern waren musikalisch aktiv und förderten das Talent ihrer Tochter. In ihrer Jugend erhielt Julia Smith Musikunterricht am Institute of Musical Art in Dallas. Ab 1930 studierte sie schließlich am North Texas State Teachers College. Weiter ging es an der Juilliard Graduate School in New York, wo sie ihr Diplom machte. 1952 legte sie ihre Dissertation an der New York University vor. Zuvor war sie für zehn Jahre lang (1932–1942) als Pianistin des Orchestrette Classique of New York aktiv gewesen, einem reinen Frauenorchester, das auch regelmäßig Uraufführungen präsentierte.

Komposition hatte Smith bei dem Spätromantiker Rubin Goldmark (1872–1936) und dem (etwas moderneren) Frederick Jacobi (1891–1952) studiert. Zur 100-Jahr-Feier des Staates Texas steuerte Smith ihre Oper Cynthia Parker bei; ihre erste (und wohl erfolgreichste) von insgesamt sechs Opern. Später konzentrierte sich Smith eher auf ihre musikwissenschaftliche Karriere. Ihre künstlerische Gesamtkompetenz nutzte sie, um sich seit den 1950er Jahren selbstbewusst für die Musik von Komponistinnen stark zu machen. Ihr Engagement galt dabei beispielsweise dem Oeuvre von Marion Bauer (1882–1955). Bald wurde Smith Vorsitzende der Organisation American Women Composers – und gilt heute völlig zu Recht als Legende, als Pionierin in Sachen Komponistinnenförderung.

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Trotz ihrer vielfachen Tätigkeiten ließ Julia Smith das Komponieren nicht sein. So schrieb sie Mitte der 1960er Jahre ein Werk zur Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson. Ihr letztes Musiktheaterwerk Daisy (1973) dreht sich um das Leben von Juliette Gordon Low (1860–1927), der Gründerin der »Girl Scouts of the USA«. Eine Pfadfinderinnenoper: Wie gerne würde man ein derartiges Werk – an Toscas und Rusalkas statt – einmal auf der Bühne erleben? Komponiert von einer bedeutenden Gründerin, die ein Stück über eine andere bedeutende Gründerin schreibt.

Julia Frances Smith starb am 18. April 1989 in New York City im Alter von 84 Jahren.


Julia Smith (1905–1989)
Konzert für Klavier und Orchester e-Moll (1938/1971)

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Neben ihren Opern schrieb Julia Smith vor allem Werke, in denen ihr ureigenes Instrument – das Klavier – eine bedeutende Rolle spielte, darunter auch das Konzert für Klavier und Orchester e-Moll. 1938 ersterarbeitet, revidierte Smith das Stück 1971. Damit ähnelt das Werk in seiner Genese Sergei Rachmaninows 1927 entstandenem Konzert für Klavier und Orchester No. 4 g-Moll op. 40, das vom Komponisten 1927 und 1941 Revisionen unterzogen wurde.

Ganz verloren tastet sich das Klavier mit leise drohendem Orchesterhintergrund vor. Zwielichtige Streicher deuten eine Melodie an. Extrem verhangen und düster. Im Hintergrund scheinen tiefe Bläser einen Trauermarsch zu blasen; auf tonalem Grund, aber nach etwas mehr als einer Minute dissonant zulangend! Die folgenden Ausführungen verweisen anschließend aber tatsächlich auf den vollen Klaviersatz Rachmaninows. Doch wie ungehört, wankelmütig und modern wirkt dagegen das Klavierkonzert von Julia Smith! ¶

Arno Lücker

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.