Der Tenor Plácido Domingo soll jahrzehntelang Frauen sexuell belästigt haben, das ist das Ergebnis einer Recherche der Nachrichtenagentur Associated Press. Tiefer blicken als der Fall selbst lassen einige der Reaktionen: In eine Szene, die Übergriffe als Kavaliersdelikt bagatellisiert und sich trotzig weigert, sich selbst und ihre Helden kritisch zu befragen.

Feuchte Küsse auf den Mund, Griffe unter den Rock, penetrantes Nachstellen in Umkleidezimmern, nächtlicher Telefonterror, das sind einige der Vorwürfe, die neun Frauen gegenüber Domingo erheben, acht davon anonym, die Mezzo-Sopranistin Patricia Wulf unter Klarnamen. Die Vorfälle erstrecken sich über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren, beginnend Mitte der 1980er Jahre. Deutlich hervor tritt in den Anschuldigungen das Muster, dass Domingo seine Machtposition ausgenutzt haben soll, um mit Frauen Sex zu haben. So berichten mehrere Sängerinnen davon, dass Domingo den Wunsch, ihre Karriere zu fördern, vorgetäuscht habe, um intime Situationen zu schaffen, in denen er dann sexuell zudringlich geworden sei. Sieben Frauen geben an, ihre Karriere sei durch die Zurückweisung der Annäherungsversuche nachhaltig beschädigt worden.

Plácido Domingo erklärte in einer Stellungnahme, die Vorwürfe seien »zutiefst beunruhigend und, so wie sie dargestellt werden, nicht korrekt«. Es sei dennoch schmerzlich, zu hören, »dass ich möglicherweise Personen verärgert oder ihnen ein ungutes Gefühl vermittelt habe, ganz gleich, wie lange das her ist, und trotz meiner besten Absichten«. Er sei stets davon ausgegangen, dass seine Interaktionen und Beziehungen einvernehmlich gewesen seien. »Ich erkenne allerdings, dass die Regeln und Standards, an denen wir heute gemessen werden – und auch gemessen werden sollten – ganz andere sind als in der Vergangenheit.«

Die institutionellen Reaktionen auf die Recherchen zeigen, wie anders dies- und jenseits des Atlantik mit Vorwürfen des Machtmissbrauchs und sexueller Belästigung umgegangen wird. Das Philadelphia Orchestra und die San Francisco Opera kündigten im Zuge der Veröffentlichung Engagements mit Domingo, die Los Angeles Opera, deren Generaldirektor Domingo seit 2003 ist, leitete eine unabhängige Untersuchung ein, von deren Ergebnissen die New Yorker Metropolitan Opera wiederum die weitere Zusammenarbeit mit Domingo abhängig machen will.

In Europa hingegen halten bisher alle Institutionen an geplanten Auftritten mit Domingo fest. In die Begründungen mischen sich zwischen das »In dubio pro reo« als handlungsleitendes Motiv auch grundsätzliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Vorwürfe. »Ich kenne Plácido Domingo nun seit über 25 Jahren. Zu seiner künstlerischen Kompetenz hat mich von Anfang an sein wertschätzender Umgang mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Festspiele beeindruckt«, schreibt die Präsidentin der Salzburger Festspiele, Helga Rabl-Stadler, in einer Stellungnahme. Das spanische Teatro Real, wo Domingo nächstes Jahr in einer La Traviata-Produktion singen soll, bekräftigt »seine Bewunderung und Anerkennung« für die außergewöhnliche Karriere des Tenors und fordert gleichzeitig, dass »die Anschuldigungen gegenüber ihm begründet und nachgewiesen werden müssen«.

Wenn man berücksichtigt, wie schwer Klassikinstitutionen in anderen Fällen eine klare Positionierung fällt, dann kann man davon ausgehen, dass das zunächst etwas trotzig wirkende »Wir halten zu Dir« kein unbedachter Reflex ist. Vielmehr erfolgt es aus dem sicheren Gefühl heraus, dass die Rückendeckung für Domingo dem allgemeinen Stimmungsbild in der Branche entspricht und das Stammpublikum eher anspricht statt verschreckt. Die große Mehrheit der Leser*innenkommentare zum Fall Domingo sehen in dem Tenor das Opfer gekränkter Groupies oder gescheiterter Künstlerinnen, und in den ihm vorgeworfenen Handlungen Kavaliersdelikte. In die Kritik mischt sich auch Empörung darüber, dass Journalist*innen über einen verdienten »Startenor« so berichten, als wäre er ein normaler Mensch. Die spanische Tageszeitung El Pais wurde nach der Berichterstattung über den Fall mit einem derartigen Shitstorm aufgebrachter Domingo-Fans überrollt, dass sie ihre journalistischen Standards, insbesondere die Zitierung anonymer Quellen, in einem Kommentar erläuterte, mit einem Seitenhieb gegen die scheinbar doppelten Standards einiger Leser*innen: »Die Zeitung interessiert nur, ob das, was sie verbreitet, wahr ist oder nicht, sei es in Fällen von Korruption, angeblicher Umweltkriminalität oder Netzwerken mutmaßlicher Drogenhändler. Das sind übrigens Themen, bei denen es kaum Protest gibt, wenn die Anschuldigungen auch anonym sind.«

Wer sich in der Szene bewegt, weiß, dass die Unterstützer*innen Domingos nicht etwa eine lautstarke Minderheit sind, während die andersdenkende Mehrheit schweigt. Tatsächlich ist unter Musiker*innen wie im Klassik-Management die Meinung weit verbreitet, #metoo, und die Berichterstattung darüber, seien nicht mehr als eine lästige, hysterische Zeitgeisterscheinung. Neben freundschaftlichem Schulterklopfen begleiten die kollegialen Solidaritätsbekundungen mit Domingo daher auch öfters eine Diskreditierung der anklagenden Frauen und eine diffuse Aversion gegenüber der öffentlichen Debatte an sich. »I support You with all my heart and I hope that this terrible absurd will soon be over. Thank You for everything You’ve given to our World!!! You are GREAT!!! #standbyplacidodomingo #isupportplacidodomingo«, schreibt die Sopranistin Asmik Grigorian auf Facebook. Offen bleibt, ob sie mit der »schrecklichen Absurdität« die Frauen meint, die öffentlich über Belästigungserfahrungen sprechen, oder die Tatsache, dass darüber berichtet wird, oder beides.

Die meisten Akteur*innen des Klassik-Business haben die #metoo-Bewegung von Beginn an nicht als Chance, sondern als Gefahr gesehen, die es zu überstehen gilt. Tat man erst so, als ginge sie einen nichts an, bricht sich das Ressentiment jetzt offener Bahn. Auffallend ist dabei eine krasse Verkürzung dessen, worum es eigentlich geht, oder gehen könnte – zum Beispiel eine grundsätzliche Befragung von Männlichkeitsbildern, Machtmissbrauch in hierarchisch geprägten Strukturen, Ursachen sexualisierter Gewalt. So forderte die Radiojournalistin Maria Ossowski in einem SWR-Kommentar zum Fall Domingo, #metoo solle sich lieber beschränken auf die Fälle, in denen Frauen »beschnitten, gefoltert, geschlagen und vergewaltigt werden, in die Prostitution und die Pornoindustrie gezwungen, entrechtet und ermordet werden.« »Unziemliche Küsse auf den Mund«, wie im Falle Domingos, gehörten hingegen nunmal zum verführerischen Spiel der Oper, »das auch in der Realität belebt«. Diese Auffassung scheinen große Teile der Szene zu teilen, zumindest wurde Ossowskis Facebook-Post zum Beitrag geradezu euphorisch bejubelt. Die Tatsache, dass vielleicht nicht alle Frauen unerwünschte feuchte Küsse auf den Mund als verführerisches Opernplot-Reenactment empfinden, scheint dabei die wenigsten zu stören.

Ossowskis Kommentar und die Reaktionen darauf erzeugen den Eindruck, Domingo sei das Opfer einer mächtigen Verschwörung geworden, der man sich mutig entgegenstellen müsse. Die Selbststilisierung als Widerstandskämpfer*innen gegen den vermeintlichen Meinungs-Mainstream (»Den Shitstorm werde ich aushalten müssen…«, schreibt Ossowski, und zielt auf das »endlich sagt es mal eine« ab, das dann auch bereitwillig folgt), die Rede vom vermeintlichen Gesinnungsterror (»moralinsaure Erotikpolizei«), die Täter*innen-Opfer-, David-vs.-Goliath-Umkehrung, die Rotation falscher Fakten (»hier machen wir einen weltbekannten Tenor verantwortlich für angebliche Verführungsversuche vor 30 Jahren«, dabei liegen einige Vorfälle weniger als 15 Jahre zurück), die Diskreditierung von Journalist*innen als ideologisch motivierte »Schmutzfinken«, der verschwörungstheoretische Verdacht einer Kampagne – es ist eine populistische Rhetorik, die man im digitalen Raum sonst eher in anderen Bereichen als der so genannten »Hochkultur« gewöhnt ist.

Dazu gehört auch die sprachliche Unschärfe. »Der Verdacht wird zum Urteil. Die Vermutung zum Verbrechen«, schreibt Ossowski, obwohl tatsächlich bislang niemand von »Verbrechen« spricht oder fordert, Domingo gehöre ins Gefängnis. Dass die Diskussion dadurch auf das Niveau von Fanlager-Gesängen im Fußballstadion sinkt (»Steht auf, wenn ihr für Domingo seid«; »Hey, hey, wer nicht hüpft der ist #metoo«), und so eine Auseinandersetzung mit den konkreten Vorwürfen und den Fragen, die sie aufwerfen, nicht stattfindet, scheint eher Absicht denn Kollateralschaden. Tatsächlich bekommt man den Eindruck, die wenigsten haben sich die Mühe gemacht, die umfangreiche Recherche der Associated Press zu lesen.

Ist das jetzt einfach nur ein weiterer bizarrer Ausschlag der Aufmerksamkeitsökonomie »im Internet«? Oder geht es um mehr? Mit Domingo, wie vor ihm schon bei Levine, Dutoit, Mauser oder Kuhn, stehen die Regeln und Codes einer Kultur auf dem Spiel, die sich um Star- und Geniekult, »Maestros«, pfadabhängige Hierarchien und nepotistische Strukturen dreht, in der sich mächtige Männer lange einfach das nehmen wollten, und oft genug konnten, was sie brauchten (zum Beispiel, in Domingos Fall, »Sex vor jedem Auftritt, um besser singen zu können«), in der sich Grenzüberschreitungen elegant hinter dem hochkulturellen Schleier verstecken lassen (das vielbeschworene »offene Geheimnis« macht jetzt auch bei Domingo wieder die Runde). Für Außenstehende mag die Szene bisweilen wirken wie Gangsta-Rap: ein letztes Refugium von Verhaltensweisen, die anderswo schon lange nicht mehr gehen, oder mindestens »extrem uncool« sind. Blackfacing, Victimblaming, Macho- und Mackertum, ein chauvinistisches Balzverhalten und steinzeitliches Rollenverständnis. Die Heftigkeit der Abwehrreaktionen auf den Fall Plácido Domingo zeigt, dass dies alles für einige erhaltenswert ist. Vor allem scheint die Aura des strahlenden, gleichzeitig schutzbedürftigen alternden Superhelden eine ähnliche Kaskade von Emotionen hervorzurufen, wie einst nur Teenagern bei der Auflösung »ihrer« Boyband.

Einige mögen es als letzten reaktionären Backlash einer aussterbenden Generation belächeln. Dabei verläuft der Graben nicht zwischen jung und alt, sondern zwischen Macht und Ohnmacht. Das Interesse, den Status quo zu wahren, ist selbstverständlich bei denen am größten, die davon profitieren. Nicht alle, die an den Schalthebeln des Business sitzen, glorifizieren das Alte, aber richtig was verändern wollen die wenigsten. Der Weg der Wahl liegt dann im Aussitzen, Abwiegeln, Beschwichtigen, Durchlavieren. Kaum eine Klassik-Führungskraft, die oder der sich ernsthaft auf die Fahnen geschrieben hätte, auf gesellschaftliche Themen, sei es Klimaschutz, Diversität oder eben #metoo, nicht nur defensiv, sondern proaktiv gestaltend zu reagieren. Man rühmt sich legitimatorisch der eigenen gesellschaftlichen Relevanz, lehnt es aber ab, von der Gesellschaft angetragene Themen in Eigenregie angemessen zu diskutieren.

Der Gegenentwurf zu all dem ist weniger scharf umrissen. Das liegt auch an den Abhängigkeitsverhältnissen der Branche. Jene, die widersprechen, sind selbst von den Machtstrukturen abhängig, die sie kritisieren. Die Klassik ist ein Business, in dem eine junge Musikerin ihr Probejahr schon deswegen nicht besteht, weil sie nicht oft genug »Guten Tag« gesagt haben soll. Einen Superstar und einflussreichen Strippenzieher mit internationaler Fanbase wie Domingo zu kritisieren, erscheint da vielen zu riskant. Widerspruch regt sich daher oft nur unter Gleichgesinnten und im kleinen Kreis. Im Falle Domingo scheint die Peer-Group-Pressure so groß, dass bisher kaum jemand wie der US-amerikanische Tenor Paul Appleby aufgestanden ist, um dem Schwarz-Weiß-Denken eine differenzierte Meinung entgegenzusetzen. Überhaupt ist Veränderung ein mühsames Geschäft. Statt sich dauerhaft dem genervten Augenrollen, dem »jetzt ist aber mal gut« und der abschätzigen Rollenzuschreibung des »Moralapostels« auszusetzen, ist es naheliegender, sich einfach achselzuckend auf das Musikmachen zu konzentrieren.

»Die Diskussion sinkt auf das Niveau von Fanlager-Gesängen im Fußballstadion: ›Steht auf, wenn ihr für Domingo seid!‹« Ein Kommentar von Hartmut Welscher in @vanmusik.

Die große Zahl derer, die in der Klassikwelt Opfer von sexueller Belästigung oder Machtmissbrauch geworden sind, wird die jetzige Diskussion nicht ermutigen, öffentlich und namentlich darüber zu sprechen. Im Gegenteil. Warum sich einer Öffentlichkeit aussetzen, die ihre Stars reflexhaft schützt und die mutmaßlichen Opfer reflexhaft diffamiert? Auch die, die einen grundsätzlichen Kulturwandel wollen, realisieren spätestens jetzt: Es wird lange dauern. In der Zwischenzeit müssen sie sich fragen, ob und wo sie im Status quo noch ihren Platz finden. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com