Ein Festvertrag an einem deutschen Opernhaus – für viele Sängerinnen und Sänger nicht nur in Deutschland das Karriereziel schlechthin. Doch diese »Sicherheit« hat einen hohen Preis. Rein arbeitsrechtlich gesehen ist der sogenannte NV-Bühne ein Vertrag, der vieles darf und wenig muss: »Der NV ist der einzige Arbeitsvertrag in diesem Land, in dem die Arbeitszeit nicht geregelt ist. Theoretisch könnten die Darsteller dem Theater 24 Stunden zur Verfügung stehen«, erklärt Hans-Werner Meyer vom Bundesverband Schauspiel gegenüber VAN. Die Proben, die in der Regel zwischen 10 und 14 sowie 18 und 22 Uhr stattfinden, richten sich nach einem Tagesplan, der oft erst am Vortag veröffentlicht wird, nach geltendem Recht ist es außerdem möglich, dass Beschäftigte elf aufeinanderfolgende Tage ohne freien Tag arbeiten.

Für die Menschen auf und hinter der Bühne ist unter diesen Rahmenbedingungen die vorausschauende Planung von privaten Terminen, Arztbesuchen oder der Betreuung von Kindern und Angehörigen kaum möglich. Der Bundesverband Schauspiel (BFFS), die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) und die Vereinigung deutscher Opern- und Tanzensembles (VdO) wollen den NV-Bühne deshalb von Grund auf reformieren. Nachdem die Verhandlungen zur Regelung der Arbeitszeit mit dem deutschen Bühnenverein im März letzten Jahres gescheitert sind, unternehmen die drei Schwestergewerkschaften 2024 einen neuen Anlauf. Den Auftakt dazu gab vom 14. bis 18. Februar eine Aktionswoche unter dem Schlagwort #StopNVFlatrate. Lisa Jopt, Präsidentin der GDBA, erläutert in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur die Wahl eines Begriffs, der bisher vor allem mit günstigen Handyverträgen oder All-you-can-eat-Buffets in Verbindung gebracht wird: »Es fühlt sich an wie eine Arbeitszeit-Flatrate. Die Schlagzahl der Produktionen hat in den letzten Jahren immer mehr zugenommen und die Zahl der Beschäftigten gleichzeitig abgenommen. Das heißt, dass ein erhöhtes Arbeitszeitpensum auf immer weniger Schultern verteilt wurde.«

Foto © Deutsches Theater Berlin

Mit signal-gelben Flyern und Postern bewaffnet protestierten Gewerkschaftsmitglieder jüngst an bundesweit über 30 Theatern gegen diese Arbeitszeitverdichtung. In Ansprachen ans Publikum und an Informationsständen präsentierten sie ihre Forderungen: Anstelle eines Tagesplans soll ein Wochenplan treten, es sollen pro Woche möglichst zwei aufeinanderfolgende Tage freigegeben werden, die Pflicht ständiger Erreichbarkeit (die derzeit auch an freien Tagen gilt) soll abgeschafft werden und Vor-und Nachbereitung sollen ab sofort als Arbeitszeit anerkannt werden: »Dabei geht es um Stimmpflege, eigenständiges Partienstudium, Textlernen, Vor- und Nachbereitung von Proben, Einrichten von Regie- und Inspizienzbüchern und vieles mehr. Wenn nun die Arbeitszeit erfasst und begrenzt werden soll, ist es wichtig, dass alle diese Tätigkeiten berücksichtigt werden. Das heißt, dass man einen Teil der zu vereinbarenden täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit für solche Tätigkeiten reservieren muss, also den Künstler:innen in der Regel nicht 8 Stunden am Tag oder 40 Stunden in der Woche auf den Probenplan schreiben kann«, erklärt Lauren Schubbe, Gewerkschaftssekretär der GDBA, auf VAN-Nachfrage. Die Flexibilität, die ein künstlerischer Schaffensprozess immer braucht, sieht er dadurch nicht gefährdet: »Kunst und Kreativität können sich unter für die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite sicheren und verlässlichen Rahmenbedingungen am besten frei entfalten.« Auch Hans-Werner Meyer bestätigt: »Man muss sich nur gut organisieren und das ist eine Frage der Gewohnheit. Einige Theater machen das wunderbar, an anderen Theatern herrschen schlechte Gewohnheiten. Dort braucht es andere Rahmenbedingungen, damit sich was verändert.« 

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Regelungen wie diese sollen vor allem die darstellenden Künstler:innen vor Überlastung schützen. Gerade Sänger:innen müssen sich darauf verlassen können, dass sie die Aufführungen frisch und ausgeruht bestreiten können und nicht einen Großteil ihrer Stimmkraft in einem kräftezehrenden Probenprozess einbüßen. Luise ist Sängerin und an einem deutschen Opernhaus festangestellt. Sie möchte sich zum NV-Bühne nicht unter vollem Namen äußern, da sie befürchtete, durch das Einstehen für mehr Rechte als »kompliziert« zu gelten, was ihrer Karriere massiv schaden könnte. Sie berichtet: »Der ersten Rat, den ich in meinen ersten Jahren von meinen erfahrenen Kollegen gelernt habe, lautete: ›Im Notfall wirst du einfach krank. Das ist dein einziger Schutz.‹« Das sei manchmal nötig, wenn in einer besonders anstrengenden Probenphase mit parallel laufenden Vorstellungen nicht ausreichend freie Tage eingeplant seien: »Singen ist Hochleistungssport, das ist mit einem 40-Stunden-Bürojob nicht vergleichbar.« Sie ist überzeugt, dass sich mit einer besseren Planbarkeit der Arbeitsbelastung und ausreichenden Ruhezeiten auch der Krankenstand verringern würde. 

Foto © Deutscher Bühnenverein Landesverband NRW

Auch andere Betroffene zeigen Haltung: Die Mezzosopranistin Solgerd Isalv schreibt auf ihren Facebook- und Instagram-Profilen: »Die aktuellen Vertragsbedingungen des Normalvertrag Bühne schützen uns überhaupt nicht. Wenn wir Glück haben, haben wir es in den Büros mit netten Menschen zu tun, die ihr Bestes geben, um uns ein Leben jenseits der Bühne und ausreichend Ruhepausen zu ermöglichen. Wenn wir Glück haben. Aber der mangelnde vertragliche Rückhalt bringt alle Beteiligten in schwierige und stressige Situationen … Der NV muss modernisiert werden.« 

Laut Gerrit Wedel, dem stellvertretenden Geschäftsführer der VdO, waren die Reaktionen der Häuser und des Bühnenvereins als deren Interessenvertretung eher zurückhaltend: »Der Bühnenverein hat ein internes Rundschreiben rumgeschickt, das uns im Wortlaut nicht vorliegt, das ich aber inhaltlich kenne, worin er seinen Mitgliedern empfohlen hat, unsere Informationskampagne an den Häusern zu unterbinden« – eine Darstellung, der der Bühnenverein widerspricht. Laut Claudia Schmitz, der geschäftsführenden Direktorin des Deutschen Bühnenvereins, habe dieser als Interessenvertretung der Häuser seinen Mitgliedern »nicht nahegelegt, Info-Veranstaltungen an den Häusern zu unterbinden«. Man habe lediglich über die Rechtslage der Kampagne informiert und empfohlen »Aktionen zu untersagen, die in unmittelbarem Zusammenhang zur Vorstellung stehen«, heißt es auf VAN-Nachfrage. Gerrit Wedel jedenfalls berichtet, dass einige Theater Ansprachen an das Publikum verboten hätten. Andere wiederum, darunter die Staatsoper Hannover, hätten sich sehr unterstützend gezeigt und das Kampagnenvideo der Initiative sogar öffentlich im Foyer gespielt.

Foto © Gorki und Schaubühne Berlin / Carolin Haupt

Obwohl das Kampagnenvideo laut Angaben der VdO allein auf Instagram 170.000 Mal angesehen wurde, bleibt es merkwürdig still darum. Nur einige wenige Theater-Beschäftigte teilen es auf ihren Profilen oder kommentieren darunter. Ein möglicher Grund für diese Zurückhaltung könnte das Damoklesschwert der Nicht-Verlängerung sein, das über jeder Bühnenkarriere schwebt und aus der vermeintlichen Vertragssicherheit eine Scheinsicherheit macht. Der NV-Solo behält dem Arbeitgeber derzeit das Recht vor, die Verträge von Sänger:innen, Schauspier:innen, Tänzer:innen, Soufleur:innen oder Assistent:innen unter Berufung auf künstlerische Gründe zu kündigen, sobald nach ein oder zwei Jahren die Befristung abgelaufen ist. Das kann im Prinzip jede und jeden treffen, besonders häufig kommt es aber bei Intendanzwechseln vor. So ging es auch Luise, die nach 12 Jahren Festanstellung einen Brief bekam, in dem nichts weiter stand als: »Hiermit wird die Nicht-Verlängerung ausgesprochen.« Nach 14 Jahren wäre sie unkündbar gewesen. Inzwischen ist sie zwar an einem anderen Opernhaus angestellt, doch auch dort kann sich die Mutter eines schulpflichtigen Kindes nie sicher sein, nicht doch kurzfristig ihre Koffer packen zu müssen.

»Das ist ein riesiges Thema, an das wir ran müssen, weil es bei den Beschäftigten zu großer Angst führt«, meint Lisa Jopt. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen will sie die Angelegenheit noch dieses Jahr beim Bühnenverein zur Sprache bringen. Ob und wann es zu einer Einigung kommen wird, bleibt vorerst ungewiss. Was die Einigung auf eine Regelung der Arbeitszeiten betrifft, kommt jedoch langsam Bewegung in die Sache: Derzeit finden wieder intensive Gespräche statt, die von allen drei Gewerkschaften als positiv bewertet werden. Eine Wiederaufnahme der offiziellen Verhandlungen ist für Mitte März geplant. ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).