Ein moderner Flügel hat meistens zwei, manchmal drei Pedale. Das am häufigsten verwendete Pedal befindet sich ganz rechts. Das Fortepedal. Die Dämpfung aller Saiten wird damit aufgehoben. Sie schwingen frei vor sich hin. Spielt man bei gedrücktem Fortepedal einfach weiter, so verschwimmt der Klang. Alles versappscht ineinander. Kann schön sein. Muss aber nicht.

Meistens jedoch ist das Fortepedal Klangverstärker, Farbgeber oder Hilfsmittel zur Überbrückung von großen Sprüngen oder sogar Tretmodul zur Vertuschung technischer Mängel der Interpretierenden; wenn etwa viele Töne innerhalb sehr kurzer Momente auf der gesamten Klaviatur verstreut gespielt werden sollen – und man womöglich in komplizierte Kalamitäten gerät.

Doch: Ein paar führende Pianistinnen und Pianisten der jüngeren, mittleren Generation reden in letzter Zeit häufiger darüber, mit wenig oder sogar ganz ohne Pedal zu spielen. Auf einem modernen Flügel! Ist das überhaupt ein »Trend«? Welche Stücke könnte man denn ohne das Fortepedal spielen? Oder ist das Ganze einfach nur absurd? (Denn schließlich ist das Fortepedal: da. Und das nicht erst seit gestern.) Arno Lücker begibt sich auf die Suche nach Antworten – und hat mit den drei Pianist:innen Schaghajegh Nosrati (* 1989), Herbert Schuch (* 1979) und Martin Helmchen (* 1982) darüber gesprochen.


Mal grundsätzlich vorweg: Ist es überhaupt von Bedeutung, wie viel Einsatz des Fortepedals sich Haydn, Beethoven, Schubert und Chopin »eigentlich« gewünscht haben? In den 1970er Jahren konstatierten Geisteswissenschaftler:innen immerhin den »Tod des Autors«, womit vermeintlich das Verschwinden des eifrigen Forschens nach einem vermeintlich ewig unhinterfragbaren Komponistenwillen in der Musik mitgemeint sein könnte. Die andere Radikalposition. Was sich ein künstlerisch schaffendes Subjekt einst bei der Niederschrift eines musikalischen Werkes – also auch bei etwaigen Pedal-Anweisungen – gedacht haben mag, soll also egal sein? 

Mir fallen immer wieder mit Pedalanweisungen bestückte Stellen in Klavierwerken auf, die ich nie oder fast nie so höre, wie es sich die Erfinderinnen und Erfinder offensichtlich wünschten. Die pauschale Zurückweisung ursprünglicher Absichten hilft hier nicht weiter. Oder positiv formuliert: Es wäre doch schon zumindest schön, zu wissen, wie beispielsweise diese Takte aus zwei von Frédéric Chopins Mazurken klingen, würden wir die Pedalanweisung des Komponisten schlichtweg mal befolgen. (Man beachte jeweils die – hier überdeutlich markierte – Pedalvorgabe und das abschließende Sternchen, das für den Abschluss des Pedal-Haltens steht.)

Frédéric Chopin: Mazurka B-Dur op. 7 No. 1 (1830–1832), Beginn des Mittelteils

Weder Arthur Rubinstein (hier bei Minute 01.30) noch Raoul Koczalski (hier bei Minute 11.00) folgen Chopins Anweisung. Keine flüsternde Verschwimmung, kein schattiger Waldessee bei Nacht. Schade, oder?

Auch bei der folgenden Tanz-Einladung/Einleitung will Chopin vielleicht kein komplett durchgedrücktes Pedal (man muss ja nicht immer voll aufs »Gas«), aber er deutet doch mindestens etwas Radikales an; etwas, das mit Besonderheit, Doppelpunkten, mit einem speziellen Klangerlebnis, mit einer völlig überraschenden Nachdenklichkeit zu tun haben könnte.

Frédéric Chopin: Mazurka B-Dur op. 17 No. 1 (1832–1833), Beginn des Mittelteils

Auch hier (bei Minute 01.00) setzt Rubinstein deutlich das Pedal ab. Dabei verliebte sich schon Joseph Haydn (1732–1809) in die Möglichkeiten, die das damals moderne Fortepiano seiner Zeit im Verbund mit dem Dämpfungsaufhebungspedal mit sich brachte. Die niedliche Aufhebung aller Trockenheit, der trudelnde Blick in die Versunkenheit des Klangs. Man höre zunächst das herrlich dreist-einfache Hauptthema aus Haydns Sonate C-Dur Hob. XVI:50, die Mitte der 1790er Jahre (manche sagen: genau im Jahr 1800) entstand…

Das Hauptthema (Takt 1) aus Joseph Haydns C-Dur-Sonate Hob. XVI:50 (ca. 1795)

Alfred Brendel nimmt das entsprechend trocken (hier zu hören). So, wie es halt dasteht. Doch dann kommt es zu jenem von Haydn bewusst so herbeigezauberten Moment…

Das Hauptthema verschwimmt bei gehaltenem Fortepedal (Takt 73–74)

Und was macht der doch angeblich so »notengetreue« Brendel (hier bei Minute 04.15)? Fast nichts. Jedenfalls viel zu wenig. Kaum Pedal-Magie. So wird die Stelle zum banalen Unisono – und Haydn sicher nicht »gerecht«. Ganz anders András Schiff (hier bei Minute 04.55), der – dabei völlig dezent – schöne Farben generiert…

Klar, das waren andere Instrumente damals. Aber warum Stellen wie bei Haydn (egal ob in die Noten eingezeichnet oder nicht!) nicht auch so einbauen? Ein Plädoyer für mehr Farben, für mehr stille Wiegenlieder – auch auf dem modernen Flügel!

Doch der Pianist Martin Helmchen hegte im Frühjahr 2021 ganz andere Gedanken. In einem VAN-Interview sagte er: »Bei Bachs Sechs Partiten stelle ich jetzt gerade wieder alles, was ich jemals gemacht habe, komplett auf den Kopf. Ich lerne es wie jemand, der das erste Mal das Buch aufmacht. Ich habe aufgehört, mit Pedal zu spielen, was auch technisch viele Anpassungen nötig macht, tausche mich viel mit Cembalisten aus, habe mir die gleiche Musik in verschiedenen Besetzungen angehört, wenn es sie gibt, schaue, wo die Unterschiede sind. Das ist ein Fass ohne Boden.«

Schaghajegh Nosratis Einspielung der Bach-Partiten erscheint übermorgen (am 24. September) – und András Schiff, der Bach fast ganz ohne Pedal auf den Steinways hiesiger Bühnen spielt, ist ihr Mentor. Der perfekte Zeitpunkt, um mit ihr zu sprechen.

Auf meine Frage, wann sie auf den Trichter gekommen sei, dass manche Klavierliteratur ohne Fortepedal auf dem modernen Flügel cool klingen könnte, sagt Schaghajegh: »Als Kind habe ich anfangs ganz ohne Pedal gespielt. Ich persönlich finde es dabei wichtig, dass man den Umgang mit dem Pedal nicht zu spät in den Unterricht einbaut. Man muss lernen, den Fuß richtig von den Händen abzukoppeln. Sonst kommt man über eine rein mechanische Nutzung des Pedals nicht hinaus. Wenn man etwas schlecht pedalisiert findet, dann liegt die Ursache ja meistens darin, dass man eine unklare Vorstellung über die Funktion des Pedals hat.«

Nosrati zählt eine ganze Reihe von Gründen für die Nutzung des Pedals auf, Klangeffekte, Vergrößerung des Klangs beim »sich Durchsetzen« gegen den großen Klang eines Orchesters …. »Was aber viele Pianistinnen und Pianisten nicht können, das ist das Benutzen des Pedals für artikulatorische Zwecke. Nicht nur beim Verbinden zweier Töne beim Legato, sondern bei der Trennung einzelner Töne voneinander und bei deren Phrasierung. So, dass man das Ende des Klangs auf eine ganz bestimmte Weise formen kann. Wenn man eine Strecke nur damit beendet, indem man den Finger von der Taste hebt, dann hat man nicht so viele Spielräume, als wenn man das Pedal klug einsetzt. Man kann wie bei gesprochener Sprache hart- oder weich enden.«


Schaghajegh Nosrati • Foto © Irène Zandel

VAN: Kommt das auch dem Spiel von Bach-Werken zugute?

Schaghajegh Nosrati: Ja, total. Gerade bei Bach wäre das mit dem artikulatorischen Effekt via Pedal die Hauptnutzung, finde ich. Alles andere klingt doch meistens sehr künstlich. Es gibt einige wenige Stellen bei Bach, an denen man das Fortepedal auch aus harmonischen Gründen verwenden kann. Bei einem gebrochenen Akkord, einem Arpeggio – und da stört es eigentlich nicht, wenn ich das Pedal auch runterdrücke und alle Töne zusammenfasse. Aber wenn man das Pedal länger hält und mehrere Töne reinspielt, dann öffnet sich der Klang ja erst einmal, fächert sich dynamisch auf. Erst so ein Aufschwellen, dann ein dynamisches Herabsinken. Das klingt bei Bach meistens sehr künstlich. Bei frühklassischen Werken auch. Fortepedal bei Bach also aus artikulatorischen Gründen, ja. Ab und zu, um den Klang zu veredeln. Grundsätzlich kommt es beim Pedalspiel darauf an, wie gut man sich selber zuhört. Gerade wir Pianistinnen und Pianisten haben dieses große Manko, dass wir uns häufig nur auf den Anfang der Klangproduktion konzentrieren, den Anschlag sehr bewusst formen, weil wir den Klavierklang danach nur noch sehr wenig beeinflussen können. Das verleitet uns dazu, dem Klang nicht länger nachzuhorchen.

Häufig liest man in Musikkritiken, die- oder derjenige hätte beim Klavierspiel ›zu viel Pedal‹ verwendet…

Genau, das kommt häufig zu pauschal. Als wäre ›zu viel Pedal‹ tatsächlich in Bezug auf die Quantität gemeint. Dabei liegt dem doch meistens etwas negativ Qualitatives zugrunde. Wenn wir einer Suppe zu viel Salz hinzufügen, klar, dann schmeckt diese irgendwann nicht mehr. Aber was bedeutet dieses ›zu viel Pedal‹? Zu lange gehalten, zu tief gedrückt? Schließlich muss man das Pedal ja nicht immer voll herunterdrücken, wenn man es denn benutzt. Meistens wird Pedal doch an den falschen Stellen und aus den falschen Gründen genommen. Und dieses ›zu viel Pedal‹ wird dann als Synonym eingesetzt, weil man gar nicht richtig argumentieren kann, was einem jetzt an dieser oder jener Interpretation nicht gefallen hat. Bei ›zu viel Pedal‹ schwingt fast so etwas wie ein moralisches Urteil mit. Als müsse jemand etwas vertuschen – und tue dies aus unlauteren Absichten.

Hast Du als Kind eigentlich diese ominösen ›Pedalverlängerungen‹ nutzen müssen oder hast Du so lange ohne Pedal gespielt, bis Du groß genug warst, dass Du die Pedal ganz normal erreichen konntest?

Ich hatte so etwas nicht, aber offensichtlich saß ich sowieso schon ziemlich früh an der Stuhlkante oder habe halb gestanden. [lacht] Vielleicht gab es das damals auch noch nicht… 

Martin Helmchen hat ja gerade das Spiel ohne Pedal noch einmal ganz neu für sich entdeckt…

Ich finde, dass man sich im Laufe seines Lebens immer mal wieder andere Gedanken machen kann – und sollte. Man muss als Künstlerin oder Künstler auch nicht für immer bei einmal getroffenen, radikalen Entscheidungen bleiben. Das wäre ein fundamentalistischer Ansatz, den ich nicht so mag. Große Künstlerinnen und Künstler ändern sich. András Schiff nimmt inzwischen bei Bach wieder Pedal; sehr dosiert, an einigen Stellen. Das hat auch mit sich immer wieder entwickelnden Klangvorstellungen zu tun. Je mehr Musik man kennt und hört, desto mehr Gedanken macht man sich über den Klang.

Du hast dich sehr mit der Musik von Klaviertiger Charles Valentin Alkan (1813–1888) beschäftigt. Seine Musik ist ja teilweise furztrocken – oder gibt sich auch mal extrem pedalversunken wie in La chanson de la folle au bord de la mer. Sergej Rachmaninow, dessen Ästhetik als schwerlastend und tief romantisch gilt, hat dagegen zum Beispiel sein berühmtes Prelude cis-Moll vor 100 Jahren mit erstaunlich wenig Pedal gespielt. Und du giltst ja auch als Rachmaninow-Expertin…

Ach, wirklich?

Steht im Internet!

[lacht] Aber tatsächlich habe ich mir seine eigenen Aufnahmen angehört. Gerade diese strenge Art des Spielens fand ich toll. Sowohl vom Tempo als auch von der Pedalisierung her. Dadurch gibt es bei ihm auch nie die Gefahr, dass seine Musik verkitscht, was man bei modernen Aufführungen manchmal bedauert.


Herbert Schuch • Foto © Felix Broede

Schaghajeghs Kollegen Herbert Schuch erreiche ich in der Türkei, wo der Pianist mit seiner dorther stammenden Frau und dem gemeinsamen Kind zeitweilig wohnt.

VAN: Herbert, war für Dich der Umgang mit dem Fortepedal von Anfang an ein dezidiertes Thema? Und wurdest Du auch mit dieser lustigen ›Pedalverlängerung‹ konfrontiert, mit der Kinder schon die Klavierpedale bedienen können?

Herbert Schuch: Ich habe ja in Rumänien mit dem Klavierspiel begonnen. Und diese Pedalverlängerung hatten wir auch, wenn ich mich richtig erinnere. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, da haben meine Lehrerinnen aber noch nicht viel übers Klavierpedal gesprochen. Aber ab dem achten Lebensjahr wohl schon. Häufig läuft das Thema ›Pedal‹ aber tatsächlich nur so im Hintergrund mit. Ich glaube, man denkt sowieso nicht häufig genug über den Pedalgebrauch nach. Obwohl es sich sehr lohnt. 

Haben Dir denn Deine Klavierlehrerinnen später empfohlen, neue Stücke erst einmal ohne Pedal zu üben? Wir kennen das ja als eine Methode des Einstudierens bei neuem Repertoire…

Ich kann mich nicht erinnern. Ich finde aber wichtig, dass man bestimmte Dinge technisch zu lösen lernt. Ohne das Pedal zu verwenden. Das Wichtigste ist, dass man die Fähigkeit erlernt, ein Legato ohne Pedal-Unterstützung zu spielen. Gerade beispielsweise bei Legato-Oktaven.

Könntest du dir vorstellen, bei Beethoven-Sonaten kein Fortepedal zu benutzen?

[denkt nach] An Stellen, bei denen wichtig ist, dass man ohne Pedal mal etwas hört, ja. Oder vielleicht auch mal, um zu schauen, ob es hier und da tatsächlich schöner klingt ohne Pedal. Oder interessanter. Hat das eine Aussage, wenn ich ohne Pedal spiele? Ich würde das ausprobieren und da offen sein. Ich gebe aber zu, dass ich das Fortepedal wahnsinnig gerne benutze. Auch bei Bach, weil ich in meinem Kopf keinen Grund finde, das Pedal nicht zu benutzen. In dem Moment, wo es stört, ist es natürlich schlecht. Meiner Ansicht nach war die Klavierliteratur aus dem deutschsprachigen Raum von Bach bis Brahms auch nie als wirkliche Klaviermusik gedacht. Alle von denen waren Tasteninstrumentsvirtuosen. Und daher konnten die entsprechend am schnellsten etwas für ein Tasteninstrument notieren. Das alles ist viel weniger wirkliche Klaviermusik als die französische Klaviermusik. Das Klavier war hierzulande häufig einfach ein Orchester für das Wohnzimmer. Und so musste das Klavier auch nach großem Konzert klingen.

Wie findest Du dann den Ansatz, mit dem modernen Klavier das barocke Cembalo zu imitieren?

Das ist meiner Ansicht nach Quatsch. Denn das Cembalo imitiert ja seinerseits schon etwas Anderes. Man sollte lieber zur Quelle des Stückes zurückgehen und schauen, was genau denn in dem vor mir liegenden Werk ›imitiert‹ wird? Und von da aus versuche ich, an die Idee eines Klangs heranzukommen. Und ob ich dafür dann Pedal benutze oder nicht, das ist eigentlich egal. Ich selbst stelle für mich meistens fest, dass es mit Pedal mehr Möglichkeiten gibt.

Dem Pianisten Igor Levit wurde vor einigen Monaten unterstellt, er könne kein Legato spielen. Das ist doch totaler Unsinn, oder? Jeder klavierspielende Mensch lernt Legato. Ob und wie sie oder er das dann einsetzt, das ist doch die Frage…

Fast jede und jeder kann auf dem Klavier singen. Das macht das Klavierspiel vielleicht aber gar nicht so interessant. Aber auf dem Klavier sprechen, das können nicht viele. Mich interessiert die sprechende Qualität des Klavierspiels. Das ist doch fesselnder, als wenn man eine Linie einfach nur ›schön‹ spielt. Gerade bei alten Aufnahmen denkt man doch häufig: ›Was macht denn dieser Ton da plötzlich? Der ist doch viel zu laut und passt da gar nicht rein!‹ Aber so wird die Aufmerksamkeit manchmal auf bestimmte Passagen gerichtet, die diese häufige Gleichförmigkeit des Klavierspiels durchbrechen.

Müsste man aber das Legato-Spiel nicht vom ›singenden‹ Spiel unterscheiden? Beim Legato verbindet man Töne elegant miteinander, beim kantablen Spiel geht es doch um viel mehr!

Es gibt Sängerinnen und Sänger, die können wahnsinnig schön singen, aber man versteht kein einziges Wort. Bei manchen russischen Sängern [verfällt für den Rest des Satzes in einen russischen Akzent] hört man nur Linie! Mich stört dieses Suchen nach dem gesanglichen Spiel auf dem Klavier manchmal. Durch die Unvollkommenheit des Klaviers wird das Spiel darauf zu einer Lebensaufgabe.


Martin Helmchen • Foto © Giorgia Bertazzi

Inspiriert von dem erwähnten Interview aus dem April 2021 will ich jetzt auch mit Martin Helmchen sprechen. Mit einem erst noch weinenden Kind im Arm sprechen wir per Videochat miteinander.

VAN: Martin, im April hast du gesagt, dass Du Dich anlässlich Deiner Beschäftigung mit den Bach-Partiten noch einmal ganz neu mit dem Gebrauch des Fortepedals beschäftigt hast, nämlich im Sinne einer weitestgehenden Vermeidung desselben. Werden wir in Zukunft einen ›trockeneren‹ Martin Helmchen im Konzert hören?

Martin Helmchen: [lacht] Ich hoffe nicht! Was manchmal bei mir etwas kritisch bemerkt wird, ist, dass ich mich sowieso schon auf der trockenen Seite befinde. Und man muss ja sowieso als Pianist angesichts jeweils verschiedener Live- oder Aufnahme-Zustände noch mehr Angleichungskünstler sein als anderswo. Die Erfahrung habe ich häufiger in Italien gehabt, wo es viele ›trockene‹ Säle gibt. Da habe ich gemerkt: Ich spiele eh schon recht trocken. Und eigentlich finde ich das schön, wenn es meine Ästhetik prägt. Aber es gibt auch natürlich ›zu wenig Pedal‹. Dabei gab es bei mir schon sehr lange die Haltung: So wenig Pedal wie möglich. Und es nur als Mittel einsetzen. Aber nicht grundsätzlich auf alles Pedal geben! Mitsuko Uchida war eine der wichtigen Personen, die mir das beim Mozart-Üben sehr ans Herz gelegt hat: ›Eigentlich immer ohne Pedal!‹ Später darf das Pedal dazukommen, klar. Das hat mich in Bezug auf Mozart sehr überzeugt. Diesen Ansatz verfolge ich seitdem eigentlich bei jeglicher Literatur. Ich schaue: Wie weit komme ich ohne Pedal? Ich setze das also als eigenpädagogische Maßnahme ein. Und nachher ist es eine von vielen pianistischen Mitteln bei der Interpretation. Aber mein Pedalspiel wird – jenseits von Bach – in der Zukunft nicht weniger werden, nein! [lacht]

Wie waren denn Deine Lehrerinnen und Lehrer damals drauf, wenn es um das Pedalspiel ging? Hast Du als Kind mit einer ›Pedalverlängerung‹ gearbeitet?

Ich meine, wir haben diese Verlängerung nicht besessen… Aber zumindest beim Unterricht gab es die! Ans Pedal wurde ich so schon früh herangeführt. Ich komme ja auch eigentlich aus der ›russischen Schule‹, in der »wenig Pedal« ja nun nicht gerade ästhetische Grundvorgabe ist. [lacht]

Kannst Du Dich an Unterrichtsstunden erinnern, die sich explizit um die Bedienung des Pedals drehten?

Es gab bei Arie Vardi in Hannover ab und zu Extra-Unterrichtsstunden zu speziellen Themen. Vor allem zum Klavierklang allgemein. Ich weiß allerdings nicht mehr, ob es manchmal sogar ausschließlich ums Pedal ging. Aber häufig wurden Fragen gestellt: Wie mache ich einen Klavierklang hart oder weich? Nicht nur laut und leise. Das große Spiel mit Sekundärfaktoren. Der Ton an sich ist nur ›laut‹ oder ›leise‹, aber je nachdem, wie ich time, wie ich balanciere, kommen unglaubliche Schattierungen heraus. Das Farbenspiel. Vardi hat dann Sätze gesagt, wie: ›So viel Pedal bis es stört!‹ Wobei dann sofort hinterher kam: ›Bei Scarlatti stört es schon, bevor man den Fuß überhaupt draufdrückt.‹

Wenn Vardi Rachmaninow unterrichtet hat, hat er dann manchmal darauf verwiesen, dass Rachmaninow selbst wenig Pedal verwendet hat?

Das war ihm bewusst, ja. Er ist ja sowieso ein enzyklopädischer Typ – und dabei ein undogmatischer Charakter. Wenn ich ›russische Schule‹ sage, dann meine ich in dem Fall auch mehr meine Professorin Galina Iwanzowa an der Eisler-Hochschule in Berlin. Die hatte ja noch bei Heinrich Neuhaus (1888–1964) studiert, war also wirklich Teil dieser ›russischen Schule‹. Gerade bei dem cis-Moll-Prelude von Rachmaninow hatte Vardi selbst eine Lesart drauf, die mit wenig Pedal und vom Tempo her relativ langsam funktionierte.

In Haydns Sonate C-Dur Hob. XVI:50 gibt es diese schönen Stellen, bei denen das Pedal gedrückt bleiben soll, obwohl nicht nur akkordeigene Töne erklingen. Kennst Du diese Stellen? 

Ja, ich mag die auch total! Das ist eines meiner Lieblingseffekte. Neulich habe ich auf einem Tangentenflügel gespielt, bei dem nicht ein Hammer, sondern eine kleine Holzleiste auf die Saiten trifft. Ein merkwürdiges Zwischending von Klavier und Cembalo – mit einem Harfen-Register, dessen Effekt ein wenig nach durchgedrücktem Fortepedal beim modernen Flügel klingt. Diese Idee war schon zu Haydns Zeiten präsent. Und das ist ja dann besonders toll, wenn man sonst nicht so verschwenderisch mit dem Pedal umgeht. Das ›Harfen-Register‹ macht dann einen richtigen ›Wow-Effekt‹. Bei Haydns erwähnter C-Dur-Sonate ist es – glaube ich – das erste Mal, dass es so explizit in den Noten steht. Beethoven mochte das später auch sehr gerne. Beispiel: Drittes Klavierkonzert, zweiter Satz, am Anfang über die Harmonien hinweg! In der Waldstein-Sonate – und bei den späten Sachen sowieso! Das sind irre Momente – und meine Lieblingsstellen. Und da stürze ich mich geradezu drauf.

Könntest Du Dir vorstellen, solche Stellen bei Haydn, Mozart oder Beethoven auch spontan einzubauen, ohne, dass das vorgeschrieben ist?

Also spontan weniger. Eher überlegt. Weil ich eben weiß, dass Beethoven diesen Effekt geliebt hat – und ihn entsprechend bewusst an den erwähnten Stellen einsetzt. Das ist ja etwas Drastisches, etwas, das man nicht irgendwo oder irgendwann macht…

Was verändert sich, wenn Du ohne Pedal übst?

Man macht sich über die Finger mehr Gedanken. Die große Sache bei Bach ist natürlich, dass das ganze Spiel, der Klang, die Phrasierung ohne Pedal ganz anders ins Bewusstsein rückt. Man könnte ewig darüber sprechen. Ohne Pedal ist man gezwungen, alles viel genauer zu durchdenken und einzuüben. Die ganze Achtung vor Details, vor Richtungen, Artikulationen und Gesten… Wenn man das Pedal als einfaches Mittel nicht zur Verfügung hat, dann macht man ein ganz schönes Fass auf! Der Schritt war größer als ich erwartet hatte. Wie ich gezwungen war, auf einmal Dinge, die plötzlich nicht mehr klingen, mit anderen Mitteln zum Klingen zu bringen. Oder: Warum ist an manchen Stellen reiner Klang viel weniger wichtig als etwas anderes? Das hat mich beim Spielen wahnsinnig vorangebracht. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.