Ann Rosenblatt wurde am 28. Dezember 1905 (manche Quellen weisen auch 1906 oder 1908 als Geburtsjahr aus) in Omaha, Nebraska geboren. Anns Eltern Mollie und Morris Rosenblatt kümmerten sich erst recht spät um die musikalischen Ambitionen ihrer Tochter und schickten sie auf das Radcliffe College in Cambridge, Massachusetts. Das bekannte Frauencollege seiner Zeit brachte Persönlichkeiten wie die erste Harvard-Professorin für Astronomie überhaupt (Cecilia Payne-Gaposchkin, 1900–1979) und die weltbekannte experimentelle Schriftstellerin Gertrude Stein (1874–1946) hervor.

Am Radcliffe College war Walter Piston (1894–1976) ihr wichtigster musikalischer Lehrer, der als einstiger Student von Nadia Boulanger, Paul Dukas und George Enescu zum musikalischen Establishment in den USA gehörte – an der Seite von Copland, Bernstein, Carter und Co. Besondere Freude machte Rosenblatt das Komponieren von Musicals für ihr College. Hier entstanden die ersten größeren, abendfüllenden Arbeiten der Komponistin. Früh entschied sie sich, die Texte für ihre Musicals selbst zu schreiben – und wurde dadurch zur Librettistin. Während ihrer Zeit am Radcliffe College lernte Rosenblatt George Gershwin (1898–1937) kennen. Rosenblatt, die im Zeichen ihrer Arbeit für das collegeinterne Magazin ein Interview mit dem prominenten Gershwin initiiert hatte, spielte offenbar so hervorragend Klavier, dass sie von Gershwin prompt als Korrepetitorin engagiert wurde. Gershwin war es auch, der der jungen Künstlerin empfahl, den Nachnamen »Ronell« anzunehmen, um dementsprechend »Rosenblatt« abzulegen. Über die Gründe dafür gibt es offensichtlich keinerlei Informationen. Möglicherweise steckte hinter dem Namenswechsel mehr als nur die freie Wahl eines Künstlerinnennamens (schließlich klingt »Rosenblatt« doch schöner als »Ronell« und lässt sich leichter memorieren, auch für US-Amerikaner:innen). Wie man liest, musste Gershwin – als Mensch jüdischer Herkunft – sich selbst hüten, jüdische Klischees im New Yorker Musikleben allzu affirmativ musikalisch zu thematisieren: »Die Behauptung, das kulturelle Leben New Yorks seit Beginn des 20. Jahrhunderts sei maßgeblich von den Aktivitäten jüdischer Künstler, Produzenten, Agenten geprägt worden, ist nicht Ausdruck antisemitischer Paranoia. George Gershwin selbst nahm 1921 in seinem Song Mischa, Jascha, Toscha, Sascha die Dominanz russischer Juden im klassischen Musikbetrieb humoristisch aufs Korn. Kein Wunder, dass diese Situation unter chauvinistischen amerikanischen Zeitzeugen antisemitische Affekte mobilisierte (…). – Das Bild des Juden als virtuoser Maskenspieler, dem die Tiefe, das künstlerische Maß und der sittliche Ernst des ›wahren Künstlers‹ abgehen: Wir kennen es nur zu gut aus der Alten Welt.«

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Gershwin – eigentlich: Jacob Gershovitz (Vater Morris Gershovitz hatte den Namen nach der Einwanderung der Familie 1891 gewissermaßen »zum Schutz amerikanisiert«) – half der nun also mit einem »unverdächtigen« Namen ausgestatteten jungen Komponistin auch, im New Yorker Musikleben Fuß zu fassen. Ann Ronell wurde zu einer bedeutenden Musical-, Song- und Film-Komponistin am Broadway, arbeitete zeitweise aber auch für die Filmkompagnien Hollywoods. So steuerte sie zu dem Disney-Cartoon Three Little Pigs im Jahr 1933 den Text zu dem berühmten Song Who’s Afraid Of The Big Bad Wolf bei (Musik: Frank Churchill).

Ann Ronell, die 1935 den Filmproduzenten Lester Cowan (1906–1990) geheiratet hatte, starb am 25. Dezember 1993 in New York City.


Ann Ronell (1906/08–1993)
Willow Weep For Me (1932)

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Meist komponierte Ann Ronell einzelne Songs oder Songtexte für Filme und Musicals, aber auch ganze abendfüllende Stücke wie das Broadway-Musical Count Me In (Text und Musik, 1942). 1945 wurde sie zusammen mit Louis Applebaum (1918–2000) beauftragt, die Songs für den Film The Story of G.I. Joe (reißerisch auf Deutsch »übersetzt« als Schlachtgewitter am Monte Cassino) von Regisseur William A. Wellman (1896–1975) zu liefern. (Einer der Hauptdarsteller war Robert Mitchum, 1917–1997). Für ihr Lied Linda aus eben jenem Film gewann Ann Ronell bei der Oscar-Verleihung 1946 den Preis für den besten Song.

1932 aber war Ronells mit Abstand bekanntestes Lied entstanden, eine einzelne Ballade: Willow Weep for Me. Der Song wurde zum absoluten Welthit, zum Jazzstandard, zum Evergreen. Berühmte Interpret:innen und Interpreten sangen dieses Lied aus der Feder Ronells, die auch hier Text und Musik zugleich vorgelegt hatte: Billie Holiday, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Barbra Streisand, Ray Charles und Frank Sinatra.

»Willow weep for me« (nur haarsträubend grau als »Trauerweide, weine für mich« übersetzbar), »Wisper to wind and say…« und »Bent your branches down along«: Die Swing-Ballade mit seinen Alliterationen ist textlich wohl ein wenig ironisch zu verstehen – möglicherweise sogar als versteckte, leicht sarkastische »Widmung« an den ewigen Stabreimer (und Antiseminten) Richard Wagner.

Die Musik selbst läuft in einem zurückgelehnten G-Dur ab. Triolische kleine Terzen bringen schön verwegenes, gesangliches Potential in diesen Song hinein. Von den Triolen der ersten beiden Takte aus variiert Ronell handwerklich genüsslich und meisterinnenhaft weiter triolisch, lässt die letzte Triolen-Note des dritten Taktes (auf dem Wort »stream«) liegen, so dass der Ton auf der »Eins« im nächsten Takt erscheint. Dafür ist die klare Betonung der »Eins« im darauffolgenden Takt (»Listen to my plea«) auch in seiner Unterstreichung der dort nachdrücklichen Bitte eine prima Abwechslung, ein rhythmischer Eingriff – wie er eben sein muss in einem grandiosen und doch so sanften Lied… ¶

Arno Lücker

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.