La Gioconda ist und bleibt ein legendäres Schmuddelkind. Heiß geliebt von den Sängern und vom belkantoaffinen Publikum. Aber belächelt unter Kritikern und gemieden – schon des schieren Aufwandes halber – von den Intendanten. Fünf erstklassige Interpreten sind gefragt, für die Hauptrollen. Anders geht es nicht. Drei machtvolle, historische Verrisse hat diese Oper von Amilcare Ponchielli überlebt, verfasst wurden sie von George Bernard Shaw, Eduard Hanslick und Hugo Wolf. 

Hanslick fand vor allem Libretto und Handlung unbrauchbar, weil vollkommen unlogisch: »ein grausiges Intrigengespinst« voller »Gräuelszenen, bombastisch und lärmend.« Wolf dagegen mokierte sich, aus Anlass der Wiener Erstaufführung 1884, über die Melodienarmut. Er nannte die Arien wahlweise »banal und schwunglos« oder »langweilig und ledern« und prophezeite, dass dieses »ungemein schwächliche Produkt hoffentlich recht bald und für immer« aus dem »Repertoire verschwinden« werde. Es waren dann freilich Sänger wie Enrico Caruso oder Mario del Monaco und Sängerinnen wie Maria Callas oder Renata Tebaldi, die mithalfen, dass dies nicht geschah. 

Kürzlich wurde La Gioconda an der Deutschen Oper Berlin nach mehr als fünfzig Jahren Laufzeit in einer sehr speziellen Kult-Produktion von Filippo Sanjust endgültig abgesetzt, auf Beschluss des designierten neuen Intendanten Aviel Cahn. Das war Mitte Februar, die Fans protestierten lautstark gegen diese geschichtsvergessene Barbarei: Sanjust hatte nämlich eigens die historischen Prospekte der Mailänder Uraufführung nachgebaut. Jetzt, Ende März, wird La Gioconda zum ersten Mal überhaupt in Salzburg gezeigt – in einer Neuinszenierung der Osterfestspiele, dirigiert von Antonio Pappano. Letztlich geht dies zurück auf einen Wunsch Anna Netrebkos. Sie habe, berichtet Pappano im Programmbuch, ihm schon vor Jahren dieses Stück vorgeschlagen. Damals habe er ihr abgeraten: Die Hauptpartie sei noch »zu niedrig« für sie. 

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Stimmt. Die Stimme der Netrebko ist inzwischen dunkler geworden, auch wuchtiger. Sie feiert also jetzt, nach zwei Jahren Zwangspause, mit La Gioconda ihr Salzburger Comeback. Draußen vor dem Großen Festspielhaus demonstriert am Premierenabend, dem Salzburger Schnürlregen trotzend, ein »No Netrebko«-Grüppchen mit ukrainischer Flagge und fordert: »Keine Bühne für Putins Freunde«. Drinnen: Da spricht man nicht mal mehr darüber. 

Dabei ist La Gioconda im Kern ein politisches Stück. Das Libretto geht zurück auf eine Story von Victor Hugo: Angelo, tyran de Padoue. Sie handelt vom Untergang eines Diktators. Daran ließe sich, ins Heute übertragen, exemplarisch zeigen, wie frei oder unfrei Kunst und Künstler unter einer Oligarchen-Alleinherrschaft agieren, was Gerüchte und üble Nachreden anrichten können und wie demagogische Fakenews inszeniert werden, auch in Demokratien: Wahrheiten verwandeln sich im Handumdrehen in Lügen. 

Der erste Aufzug der Oper hat den Untertitel La bocca del Leone. Gemeint ist einer jener steinernen Briefkästen, in die zur Zeit des Rates der Zehn in Venedig Nachrichten an die Obrigkeit eingeworfen werden konnten, insbesondere: anonyme Denunziationen. Zwei dieser »Löwenmäuler« sind heute noch zu besichtigen, eines im Dogenpalast, ein anderes an Santa Maria della Visitazione. 

In La Gioconda ist es eine schöne Sängerin, genannt »die Heitere«, die sich unfreiwillig mit der Inquisition anlegt und denunziert wird. (Ihr Spitzname hat übrigens nichts zu tun mit dem Lächeln der Mona Lisa.) Gioconda wird verfolgt und bedrängt von einem bösartigen Bass-Bariton, der sich gleich in seiner ersten finsteren Solo-Arie O Monumento mit Stolz als Spion des Dogen-Rates outet. Erst wiegelt dieser Barnaba – brutal bronzedunkel: Luca Salsi – das karnevalfeiernde Volk mit einer fetten Lüge auf zu einer Hexenjagd, die fast zum Lynchmord führt an »La Cieca« (Agnieszka Rehlis, fein dosiert), der blinden Mutter der Gioconda. Dann lockt er Enzo Grimaldi (Jonas Kaufmann, durchgehend elegant verknödelt), Freund der Gioconda, in eine Falle, und steckt, pünktlich zum Aktschlussakkord, den entsprechenden Denunziations-Brief ins Maul des Löwen.

Jonas Kaufmann (Enzo Grimaldo) • Foto © Bernd Uhlig

Man sieht es kaum: Aber wirklich hängt, links außen an einem Pfeiler in dem abstrakt-flachen Soffitten-Bühnenbild von Philipp Fürhofer, in dem einiges sehr nett an die Illustration eines Kinderbilderbuchs, aber so gar nichts an Venedig erinnert, ein kleiner »Bocca del Leone«. Aber was ist schon das einsame Papp-Maul im Vergleich zu Milliarden von Social-Media-Zungen? Diesbezüglich hat Regisseur Oliver Mears, seines Zeichens Operndirektor an Covent Garden, seine Gelegenheit gründlich verpasst. Mears wollte zwar, erklärtermaßen, den historischen Plot in die Gegenwart holen. Seine Idee war aber eine andere, etwas angestaubt freudianische, nämlich: Die Gioconda sei als Kind sexuell missbraucht worden. Das wird rückblickend schon in der Ouvertüre vorgeführt von Statisten und erklärt angeblich alles: Die schier manische Jagd der Gioconda nach Liebe, ihre Rache an den Männern, aber auch ihre avenger-mäßige Furchtlosigkeit gegenüber den Repräsentanten der Macht im Dogenpalais. Nur musste Mears dafür den Anfang und auch das Finale der Oper ein bisserl umschreiben. Ponchielli und sein Librettist Arrigo Boito hatten ja eigentlich nicht vorgesehen, dass Batwoman-Gioconda am Ende gleich beide Bösewichte, Spitzel Barnaba und Inquisitor Alvise, erdolcht. 

In Salzburg ist Gioconda Siegerin und Überlebende. Im Original und in der Musik geht die Sache anders aus: Sie opfert sich, selbstlos »nach Frauenart«. Nachdem sie noch geschwind das Liebesglück ihres Tenorfreundes Enzo mit einer anderen und beider Flucht ermöglicht hat, begeht sie Selbstmord. Netrebko singt ihre Wahnsinns-Arie Suicidio mit flammenden Samtfarben und wonnevoller Inbrunst. Hinreißend der Ausdruck unfassbarer Verzweiflung im Wechsel mit zornig gellendem Triumph. Glocken in den hohen Registern, Goldfeuer und Fülle in der satten Mittellage. Sie kann es noch! 

Anna Netrebko (La Gioconda), Tänzer von SEAD • Foto © Bernd Uhlig

Anfangs hatte sich Netrebko erst frei singen müssen, auch ihre Bühnenpräsenz schien eingeschränkt. Vieles spielte sich sowieso vorne an der Rampe ab. Aber schon in der Schiffszene im zweiten Aufzug, im Dialog mit Enzo oder im Zickenstreit mit Konkurrentin Laura (einer beweglichen, leicht spitzigen Eve-Maud Hubeaux) ist Netrebko allemal Fokus und Spielführerin. Insgesamt also: eine festspielwürdige Spitzen-Besetzung, die sich Pappano da zusammengestellt hat für diesen Coup. Er ist ein Operndirigent von Gnaden. Man kann nur hoffen, dass er mit seinem prachtvoll aufgelegten Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, das er eigentlich schon abgegeben hat, im nächsten und übernächsten Frühling wiederkehren wird zu Salzburgs Osterfestspielen.  

Szenisch ist diese Gioconda-Aufführung, die erst 2027 nach Covent Garden übernommen werden soll, lächerlich dilettantisch und manchmal einfach nur komisch. Der Kindesmissbrauch wird für alle, die es nach der Ouvertüre noch nicht kapiert haben, im dritten Aufzug, vom »Tanz der Stunden« noch einmal durchexerziert. Wie da Primaballerina Liudmila Konovalova virtuos mit der Fußspitze bei jedem zweiten Sprung ihre notgeilen Verfolger zu Fall bringt, das ist schon zum Schießen.

Liudmila Konovalova (Gioconda als Erwachsene), Tänzer von SEAD • Foto © Bernd Uhlig

Kaufmann als Enzo Grimaldi schaut unter seiner Kapitänsmütze so verkleidet drein, wie Landratte Florian Silbereisen an Bord des TV-Traumschiffs: bestellt, nicht abgeholt. Kaum zu glauben, dass der »Aida«-Kreuzfahrtkoloss, den Enzo befehligt und von dem das Publikum nur die Riesen-Bugspitze zu Gesicht bekommt, mit einem einzigen Molotow-Cocktail in Brand gesetzt werden kann (Ende des zweiten Aufzugs). Der Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, der, im Zusammenspiel mit dem Salzburger Bachchor gewaltige Chortableaus zu gestalten hat, schlendert dabei venedig-touristisch in Gruppen von links nach rechts oder auch umgekehrt – in wohlsortiertem Widerspruch zum Aufruhr der Volksseele. Auf dem Höhepunkt der Ekstase performen die Chorsänger dann eine veritable Polonaise, in Schlangenlinien, wie beim Seniorentee. Und so weiter. Nicht der Rede wert. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.